Читать книгу Handbuch der Soziologie - Группа авторов - Страница 9

Оглавление

[45]Georg Kneer

Wissenschaftstheoretische Positionen: Wie verhält sich die Soziologie zu ihrem Gegenstand?

Der Beschäftigung mit wissenschaftstheoretischen Fragen kommt in der Soziologie gerade auch im Vergleich mit benachbarten Wissenschaftsdisziplinen ein auffallend hoher Stellenwert zu. Ein Indiz hierfür dürfte sein, dass sich gleich mehrere Beiträge dieses Handbuchs mit Themen befassen, die in das Gebiet der Wissenschaftstheorie fallen, angefangen bei der Problemstellung »Atomismus versus Holismus« bis hin zu der Frage nach den Möglichkeiten und Perspektiven einer soziologischen Gesellschaftskritik. Jedenfalls spricht viel für die Vermutung, dass Themen und Problemgesichtspunkte, die unmittelbar das wissenschaftliche Selbstverständnis berühren, das Fach in besonderer Weise faszinieren – und zugleich ein erhebliches Konfliktpotenzial beinhalten. Wenn nämlich behauptet wird, dass die Entwicklung der Soziologie maßgeblich durch eine Reihe von grundlegenden Debatten (u. a. Werturteilsstreit, Positivismusstreit, Theorienvergleichsdebatte, Streit um die Postmoderne) geprägt worden ist, dann ließe sich das Gesagte wohl mit gutem Recht dahingehend ergänzen, dass es in diesen Kontroversen häufig auch – um nicht zu sagen: vornehmlich – um die epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der soziologischen Fachdisziplin ging.

Thema des vorliegenden Beitrags ist, entsprechend der Gesamtanlage des vorliegenden Bandes, die wissenschaftstheoretische Reflexion des Zugangs der Soziologie zu ihrem Gegenstandsbereich. In den Fokus der Betrachtung rücken dabei zwei begriffliche Unterscheidungen, die in den weit verzweigten Selbstverständigungsdebatten über das Verhältnis von soziologischer Wissenschaft und sozialer Wirklichkeit eine prominente Rolle gespielt haben bzw. bis heute spielen. Gemeint sind die Begriffspaare Verstehen/Erklären sowie Konstruktivismus/Realismus. Beide Unterscheidungen können auf langjährige, mitunter höchst erstaunliche Begriffskarrieren verweisen, und zu beiden Unterscheidungen findet sich ein ebenso vielschichtiges wie vielstimmiges Angebot an Auffassungen, Standpunkten und Sichtweisen. Ausgehend jeweils von einer knappen Erläuterung der verwendeten Begrifflichkeit wird im Folgenden eine (eng umgrenzte) Auswahl an klassischen und zeitgenössischen Positionen zu den beiden genannten Themenfeldern vorgestellt.

1.Verstehen/Erklären

Den Ausgangspunkt der Debatten über Verstehen und Erklären bildet die Frage nach der methodologischen Einheit bzw. Differenz von Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits.1 Später kamen weitere Themen und Problembezüge [46]hinzu. Streitpunkte sind etwa, ob mit den Begriffen des Verstehens und Erklärens exklusive, d. h. sich wechselseitig ausschließende oder einander ergänzende, wenn nicht sogar kongruente Zugangsweisen gemeint sind, welche Typen des Verstehens und Erklärens sich wie unterscheiden – und gegebenenfalls: kombinieren – lassen und ob einem bestimmten Verstehens- bzw. Erklärungstypus Vorrang vor anderen zukommt.2 Mit Blick hierauf wird im Folgenden auch auf die Redeweise von der Verstehen/Erklären-Kontroverse verzichtet, sondern davon gesprochen, dass sich entlang des Begriffspaars von Verstehen und Erklären eine Vielzahl von Debatten mit weitreichenden epistemologischen, gegenstandstheoretischen und methodologischen Bezügen überlagern und durchkreuzen.

Aus einer theoriegeschichtlichen Perspektive wird man davon sprechen können, dass die Debatten über Verstehen und Erklären Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Bemühen deutscher Historiker bzw. Philosophen um eine eigenständige methodische Profilierung der Geschichtswissenschaften einsetzen.3 Johann Gustav Droysen und Wilhelm Dilthey proklamieren einen Wissenschafts- und Methodendualismus, demzufolge die Geisteswissenschaften mit dem Verfahren des hermeneutischen bzw. interpretativen Verstehens über eine Sondermethodologie verfügen und sich somit trennscharf von den erklärenden Naturwissenschaften unterscheiden lassen. »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.« (Dilthey 1982: 144) Die damit eröffnete Methodendebatte wird in der sich zu diesem Zeitpunkt konstituierenden Soziologie aufgegriffen und fortgesetzt; bei Georg Simmel (1989, 1999) etwa finden sich – allerdings im Kontext seiner Beschäftigung mit Fragen der Geschichtsforschung – mehrere Angaben zum methodischen Erklären (wobei er insbesondere auf Probleme und Unzulänglichkeiten einer Geschichtserklärung mittels historischer Gesetze hinweist) und vor allem zum Verstehen (hier unterscheidet Simmel mehrere Verstehenstypen, wobei für die weitere Debatte in erster Linie seine Differenzierung zwischen einem subjektiven Motivverstehen und einem sachlichem Verstehen relevant wird).

Von den soziologischen Klassikern hat sich zweifellos Max Weber am ausführlichsten – und am folgenreichsten – mit Fragen des Verstehens und Erklärens beschäftigt. Zu notieren gilt es zunächst, dass Weber seinen Ansatz selbst als verstehende Soziologie bezeichnet. Diese Selbstauskunft meint freilich keine Distanznahme zu dem Anliegen eines systematischen Erklärens. Anders als Droysen und Dilthey behandelt Weber die methodischen Zugänge des deutenden Verstehens und kausalen Erklärens nicht als exklusive, wechselseitig einander ausschließende Verfahrensweisen. Sein Bemühen ist vielmehr darauf gerichtet, Verstehen und Erklären miteinander zu kombinieren. Allerdings finden sich bei Weber verschiedene, z. T. deutlich divergierende Angaben, wie eine solche Kombination im Einzelnen aussehen könnte. Zumindest drei solcher Verknüpfungsformen lassen sich unterscheiden.

[47]a) Partielle Kongruenz: Verstehen meint für Weber u. a. die deutende Rekonstruktion der Motive des oder der Handelnden, wobei ein solches Verstehen der Handlungsmotive zugleich ein (kausales) Erklären der Handlungsursachen leistet, womit zugleich gesagt ist, dass für Weber, um seine frühe Antwort auf eine später häufig diskutierte Frage anzudeuten, Handlungsgründe zugleich Handlungsursachen sind. Der Vorgang des Verstehens wird damit weitgehend dem Verfahren des Erklärens angeglichen, weil Verstehen, zumindest in der Form des Motivverstehens, auf ein »erklärendes Verstehen« (Weber 1988: 547) abzielt. Soziale Handlungen stellen, insbesondere was die subjektiven Gründe und Absichten bzw. Zwecke betrifft, verständliche Sinnzusammenhänge dar, »deren Verstehen wir als ein Erklären […] des Handelns ansehen« (ebd.; Hervorhebungen geändert, G. K.).

b) Komplementarität: Verstehen und Erklären ergänzen sich wechselseitig, allerdings beginnen sie, so Weber (1988: 436), »am entgegengesetzten Pol des Geschehens mit ihrer Arbeit«. Das Verstehen zielt darauf ab, den Sinnzusammenhang des Handelns möglichst evident zu deuten (für Weber besitzt eine zweckrationale Deutung des Handelns das Höchstmaß an Verständlichkeit), wobei ein hoher Grad an Sinnadäquanz freilich keinen Beleg dafür liefert, dass das Handeln auch faktisch entsprechend abgelaufen ist. Dem Verstehen wird deshalb korrigierend ein Erklären zur Seite gestellt, das mittels kausaler Zurechnung die statistische Wahrscheinlichkeit bzw. Regelmäßigkeit des Aufeinanderfolgen von Vorgängen ermittelt. »Kausale Erklärung bedeutet also die Feststellung: daß nach einer irgendwie abschätzbaren […] Wahrscheinlichkeitsregel auf einen bestimmten beobachtbaren (inneren oder äußeren) Vorgang ein bestimmter anderer Vorgang folgt.« (Weber 1988: 550) Die beiden Verfahren des Verstehens und Erklärens thematisieren den gleichen Sachverhalt aus deutlich divergierenden Perspektiven; und dies, so Weber (1988: 436 f.), weil die sinnhafte Deutbarkeit eines Geschehens, für das sich das Verstehen interessiert, nicht unbedingt mit (einer empirisch nachweisbaren) Häufigkeit und umgekehrt die statistische Wahrscheinlichkeit eines Geschehens, auf die das Erklären rekurriert, nicht zwangsläufig mit Verständlichkeit einhergeht.

c) Vorrang des Verstehens vor dem Erklären: Ein dritter Vermittlungsvorschlag findet sich in den Ausführungen Webers, in denen er genauer auf die besonderen Voraussetzungen und Ziele der Sozial- und Kulturwissenschaften zu sprechen kommt. Hier räumt er dem Verstehen einen Vorrang vor dem Erklären ein. Dass Weber den eigenen Ansatz als verstehende Soziologie – und eben nicht als verstehende und erklärende Soziologie – bezeichnet, hat also seinen guten Grund. Weber besteht nämlich auf der Auffassung eines deutlichen Gegensatzes von Sozial- und Kulturwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits, vertritt also die Position des Wissenschaftsdualismus. Bei der Erläuterung seiner Auffassung beruft er sich zustimmend vor allem auf die neukantianische Wissenschaftslehre von Heinrich Rickert, daneben finden sich in seinen Ausführungen mehrere Argumente, die der hermeneutischen Tradition entnommen sind. Mit Soziologie ist für Weber, so lässt sich in aller Kürze sagen, eine Wirklichkeitswissenschaft gemeint, die das soziale Geschehen in seiner Eigenart und Kulturbedeutung verständlich machen will. Funktionale Erklärungen (d. h. die Analyse bzw. Ermittlung von funktionalen Zusammenhängen) und nomologische Erklärungen (also Erklärungen mit Hilfe von Gesetzmäßigkeiten werden – sofern sie überhaupt gelingen – nicht grundsätzlich abgelehnt, doch sie gelten lediglich als Hilfsmittel, gewissermaßen nur als Vorarbeiten einer wirklichkeitswissenschaftlichen Betrachtung. Und: Verstehen genießt einen Vorrang vor dem Erklären, weil die Besonderheit der Soziologie bzw. der Sozial- und Kulturwissenschaften eben auf einer Mehrleistung des Verstehens basiert: »Wir sind ja bei ›sozialen Gebilden‹ […] in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (›Gesetzen‹) hinaus etwas aller ›Naturwissenschaft‹ (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der ›Erklärung‹ [48]der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das › Verstehen‹ des Verhaltens der beteiligten Einzelnen.« (Weber 1988: 554 f.)

Verschiedene Grundbegriffe und Argumente Webers sind in den nachfolgenden Debattenbeiträgen wiederholt aufgegriffen bzw. erneut vorgebracht worden – ohne dass dies den Beteiligten stets klar gewesen ist und ohne dass sie allesamt Webers Anliegen einer Vermittlung oder gar Integration von Verstehen und Erklären geteilt hätten. Das zuletzt Gesagte gilt zunächst einmal für einheitswissenschaftliche Ansätze, die auf deutliche Distanz zu Webers Auffassung einer wissenschaftstheoretischen Besonderheit der Sozial- und Kulturwissenschaften gehen.4 Aus der Sicht von Theodore Abel (1948) kann der Hinweis auf die methodische Operation des Verstehens eine wissenschaftsdualistische Ansicht nicht stützen, da sich mittels eines verstehenden Zugangs zwar Hypothesen formulieren, aber nicht verifizieren lassen – und sich die Sozialwissenschaften somit in ihrer Beweisführung auf keine Sondermethodologie stützen können. Für die monistische Position, also für die Auffassung einer methodischen Gleichartigkeit von Sozial- und Kulturwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits steht insbesondere das von Carl G. Hempel und Paul Oppenheim (1948) formulierte deduktiv-nomologische Erklärungsmodell, wonach die Erklärung eines – natürlichen oder sozialen – Ereignisses erfordert, dass die Aussage, die das Ereignis beschreibt, aus universalen Gesetzesaussagen sowie Beschreibungen der Anfangsund Randbedingungen logisch abgeleitet werden kann.5 Ein eigenständiges Verstehen ist im so genannten covering law-Modell der Erklärung – der Name verweist darauf, dass bei diesem Erklärungstypus das Explanandum, d. h. das zu Erklärende, hinreichend von gesetzesartigen Aussagen abgedeckt wird – weder erforderlich noch vorgesehen ist (genauer gesagt weist Hempel, ähnlich wie Abel, dem Verstehen eine Hilfsfunktion zu): Erklärungen basieren auf Gesetzen, d. h. sie führen universale Regelmäßigkeiten an – ohne dass verlangt würde, dass diese Regelmäßigkeiten zugleich sinnhaft verständliche Zusammenhänge (im Sinne Webers) darstellen.

Hempels und Oppenheims Auffassung einer einheitlichen und verbindlichen Erklärungslogik hat eine lange, hoch komplexe Kontroverse ausgelöst. Im hier interessierenden Kontext sind vor allem kritische Einwände relevant, die von Seiten interpretativer Ansätze vorgetragen werden. Mit dem Begriff der interpretativen Soziologie bzw. des interpretativen Paradigmas ist eine Perspektive gemeint, die betont, dass die soziale Wirklichkeit von den Akteuren in und durch Interpretationsleistungen aktiv hervorgebracht wird und daher die Sozial- und Kulturwissenschaften – entsprechend ihres besonderen, sinnhaft strukturierten Gegenstandsbereichs – auf einen vorrangig verstehenden, hermeneutischen oder eben interpretativen Zugang angewiesen sind.6 Damit wird keineswegs die Möglichkeit der Erklärung von Handlungen, Interaktionsmustern, kommunikativen Prozessen etc. bestritten. Behauptet wird aber, dass derartige Erklärungen nicht dem Muster [49]einer deduktiv-nomologischen Erklärung folgen, sich also grundsätzlich von naturwissenschaftlichen Erklärungen unterscheiden. Dem einheitswissenschaftlichen Programm halten die Verfechter des interpretativen Paradigmas, kurz gesagt, die Auffassung einer Eigenständigkeit bzw. Besonderheit sozial- und kulturwissenschaftlicher Erklärungen entgegen. Thomas P. Wilson fasst die methodologische Grundaussage interpretativer Ansätze dahingehend zusammen, dass Erklärungen sozialer Ereignisse und Prozesse, anders als naturwissenschaftliche Erklärungen, auf intentionale bzw. sinnhafte Phänomene (Motive und Absichten der Akteure, subjektive Situationsdeutungen, kulturelle Schemata, normative Regeln etc.) Bezug nehmen, die sich allein mittels eines deutenden, verstehenden Zugangs erschließen lassen. »Wird nun soziale Interaktion als interpretativer Prozess angesehen, dann können solche Erklärungen sinnvoll nicht in deduktiver Weise konstruiert werden, sondern sie müssen aufgefasst werden als Akte, mit denen den Handelnden Absichten und Umstände zugeschrieben werden, die geeignet sind, dem Beobachter das beobachtete Handeln verständlich zu machen.« (Wilson 1973: 69) Ein ähnlich lautendes Argument wird von Seiten der so genannten Wittgensteinianer (Dray 1957, Winch 1974, Wright 2000) innerhalb des interpretativen Theorienlagers vorgetragen, die auf einer strikten Abgrenzung des Modells einer intentionalen bzw. teleologischen Handlungserklärung (d. h. der Erklärung einer Handlung im Rekurs auf subjektive Ziele oder Zwecke) gegenüber dem naturwissenschaftlichen Standardverfahren einer Kausalerklärung (mittels der Bezugnahme auf Gesetze) bestehen.7 Demzufolge erfordert die informative Erklärung einer Handlung die Angabe von Handlungsgründen, wobei es aus ihrer Sicht verfehlt wäre, die Gründe des Handelns als kausale Handlungsursachen zu begreifen, weil sich Handlungsgründe und Handlungen, anders als Ursachen und Wirkungen, nicht unabhängig voneinander identifizieren lassen. Hieraus ziehen die »Intentionalisten« die Schlussfolgerung, dass zwischen Handlungsgründen und Handlungen kein kausaler, sondern ein begrifflicher bzw. sinnhafter Zusammenhang existiert, der sich allein mit interpretativen Mitteln verständlich machen, jedoch nicht im Rückgriff auf Kausalgesetze erklären lässt.

Wenngleich gesagt werden kann, dass insbesondere in den Sozialwissenschaften die kritischen Stimmen gegenüber Hempels und Oppenheims Postulat eines einheitlichen Erklärungsprinzips überwiegen, sollte man umgekehrt die von verschiedenen Seiten signalisierte Zustimmung nicht übersehen. Ein aktuelles Beispiel für eine soziologische Theorieposition, die sich an dem genannten Erklärungsmodell orientiert, stellt der Ansatz von Hartmut Esser (1993) dar. Im Anschluss an Hempel und Oppenheim betont Esser, dass soziologische Erklärungen, wie alle wissenschaftlichen Erklärungen, eine deduktiv-nomologische Struktur aufweisen. Bei der genaueren Ausarbeitung seiner eigenen Konzeption nimmt er freilich verschiedene Änderungen/Erweiterungen am Ausgangsmodell vor, aus denen bestimmte Konsequenzen für das Begriffspaar von Verstehen und Erklären resultieren: Zunächst präzisiert Esser, dass mit den Gesetzen, die eine soziologische [50]Erklärung anführt, nicht kollektive Strukturgesetze, sondern individuelle Handlungsgesetze gemeint sind – wobei er freilich, anders als Hempel und Oppenheim, ausschließlich auf ein einziges Gesetz verweist: das Theorem der rationalen Nutzenwahl, das für Esser (1999: 16) eine oder besser: die »nomologische Regel […] der Selektion des Handelns« beschreibt. Zudem legt er Wert auf die Feststellung, dass die Anwendung einer allgemeinen Mikrotheorie des Handelns lediglich den mittleren Schritt einer insgesamt dreigliedrigen Erklärungslogik darstellt. Diesem Schritt geht die Rekonstruktion der sozialen Situation, in der die Akteure sich befinden, voraus; zudem erfolgt in einem anschließenden dritten Schritt eine Erklärung der kollektiven Folgen individueller Handlungen. Im Gegensatz zum zweiten Erklärungsschritt, der mit der Theorie der rationalen Handlungswahl »ein kausales Gesetz mit allgemeiner Geltung« (Esser 1999: 16) anführt, kommen sowohl der erste und der abschließende Erklärungsschritt ohne die Angabe von streng universalen Regelmäßigkeiten aus. Insbesondere gilt es jedoch zu erwähnen, dass Esser an die Ausformulierung des dreigliedrigen Modells der soziologischen Erklärung den Anspruch knüpft, »jede grundsätzliche Trennung zwischen kausalem Erklären und interpretierendem Verstehen« (Esser 1993: 598) aufzuheben. Demzufolge leistet vor allem der erste Schritt (rekonstruktive Deutung der subjektiven Definition der Situation) ein interpretatives Verstehen, dagegen der zweite Schritt (Erklärung der Handlungswahl sowie des Handlungsablaufs) und der dritte Schritt (Erklärung der kollektiven Wirkungen des Handelns) ein ursächliches Erklären. Mit seinem Bemühen, die methodischen Zugangsweisen des interpretativen Verstehens und des deduktiv-nomologischen Erklärens integrativ miteinander zu verschränken, nimmt Esser gewissermaßen eine Mittlerrolle zwischen monistischen und dualistischen Positionen der Wissenschaftstheorie ein: Auf der einen Seite folgt er Hempel und Oppenheim in der Auffassung einer einheitswissenschaftlichen Erklärungskonzeption. Auf der anderen Seite spricht er methodendualistisch von einem »grundlegenden Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften« (Esser 1993: 597), der seines Erachtens daraus resultiert, dass die Sozialwissenschaften, anders als die Naturwissenschaften, darauf angewiesen sind, ihre ›Objekte‹ zu verstehen, da sie in ihren Erklärungen die Sichtweisen der handelnden Akteure berücksichtigen.

Weiter oben ist bereits vom so genannten interpretativen Paradigma die Rede gewesen. Allerdings gilt es zu beachten, dass der Begriff des Interpretationismus uneinheitlich verwendet wird. In diesem Kontext ist neben der zuvor erläuterten Begriffsfassung eine weitere Verwendungsweise von Interesse. Der Begriff dient auch zur Bezeichnung einer bestimmten wissenschaftstheoretischen Position, die der interpretativen Tätigkeit eine zentrale Rolle in sämtlichen Wissenschaftsdisziplinen zuweist. Demzufolge sehen sich nicht allein die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, sondern eben auch die Naturwissenschaften fortlaufend mit der Aufgabe des Deutens und Auslegens konfrontiert. Für diese interpretative Wende in der allgemeinen Wissenschaftstheorie stehen insbesondere die Arbeiten von Willard Van Orman Quine und Thomas Kuhn. Sie untergraben mit ihren weitreichenden Thesen den orthodoxen Konsensus der älteren (positivistischen) Wissenschaftstheorie: Quine (1984) spricht von einer Unterbestimmtheit der Theorien durch die Daten und betont den holistischen Charakter der Bestätigung und Widerlegung von Theorien; Kuhn (1976) stellt die etablierte Auffassung einer kumulativen Entwicklung wissenschaftlichen Wissens in Frage. Zugleich damit kündigen sie die Annahme einer neutralen Beobachtungssprache auf. Wissenschaftliche Beobachtungen sind demzufolge theoriebeladen, sie liefern also keine interpretationsfreien Belege. Was als wissenschaftliches Datum zählt, ergibt sich erst im Kontext theoretischer Deutungen. Und umgekehrt ist auch die Beantwortung der Frage, welche theoretischen Konsequenzen aus dem Hinweis auf bestimmte Belege resultieren, auf ein fortlaufendes Auslegen angewiesen. Die wissenschaftliche Tätigkeit stellt sich in dieser Sicht als eine deutende (hermeneutische) Tätigkeit dar, in der fortlaufend [51]Daten im Licht von Theorien, und Theorien im Licht von Daten interpretiert und reinterpretiert werden.

Die damit angedeutete interpretative Wende hin zu einem postempiristischen Wissenschaftsverständnis ist in den Sozialwissenschaften breit (und weitgehend zustimmend) rezipiert worden. Umstritten geblieben ist allerdings, welche Konsequenzen hieraus im Einzelnen für das eigene wissenschaftstheoretische Selbstverständnis resultieren. In der Kontroverse stehen sich (idealtypisch formuliert) erneut zwei Theorielager gegenüber. Die eine Seite hält mit Blick auf die Zugangsweise des Verstehens – auch nach der Ausweitung des Interpretationsbegriffs – an der Auffassung einer methodischen Besonderheit der Sozialwissenschaften fest, befürwortet also eine wissenschaftsdualistische Position. Dabei wird von dieser Seite nicht bestritten, dass die Naturwissenschaften, ganz im Sinne der postempiristischen Wissenschaftstheorie, eine interpretative Dimension aufweisen; diese Auskunft wird freilich durch die Auffassung ergänzt, dass sich für die Sozialwissenschaften die Aufgabe der Interpretation in besonderer, nämlich gleich in zweifacher Weise stellt. In aller Kürze lässt sich diese Auffassung mit dem von Anthony Giddens (1984) formulierten Schlagwort einer doppelten Hermeneutik kennzeichnen. Zusätzlich zu der interpretativen Herausforderung, wissenschaftliche Daten mit Hilfe von Theorien zu gewinnen, zu prüfen und somit zu deuten (woran zugleich die hermeneutische Tätigkeit der Auslegung des verwendeten Theorie- und Beschreibungsvokabulars geknüpft ist), sehen sich die Sozialwissenschaften demzufolge mit einem weiteren Verstehensproblem konfrontiert. Sie haben dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie es in ihrem Objektbereich, anders als die Naturwissenschaften, mit einer »vor-interpretierten Welt« (Giddens 1984: 179) zu tun bekommen, also auf eine soziale Wirklichkeit treffen, die bereits sinnhaft konstituiert ist – und dass sie aus diesem Grunde gar nicht umhin kommen, jene Begriffe, Auffassungsweisen und Deutungsschemata interpretativ zu erschließen, »die die Handelnden selbst für die Konstitution und Rekonstitution der sozialen Welt benutzen« (ebd.: 191). In dieser Sicht stellen die Interpretationen, die die Sozialwissenschaften anbieten, stets Interpretationen von Interpretationen dar, also Reinterpretationen (innerhalb der eigenen Wissenschaftssprache) von jenen vorgängigen Interpretationen, die von den handelnden Akteuren formuliert und verwendet werden.

Den Verfechtern einer doppelten Hermeneutik stehen die Befürworter einer antidualistischen Interpretationskonzeption konträr gegenüber. Dabei legen die »Anti-Dualisten« zunächst Wert auf die Feststellung, dass sich ihre Position deutlich von einer monistischen Wissenschaftsauffassung unterscheidet (Rorty 1981, 1991; Rouse 1990: 166 ff.). Ihr Ausgangspunkt ist die These einer weitreichenden Pluralisierung wissenschaftlicher Theorien und Methoden (disunity of science). Der Hinweis auf die nachhaltige Diversifizierung der modernen Wissenschaften dient ihnen zugleich dazu, die Auffassung einer eindeutigen Zuordnung von bestimmten Methoden zu einzelnen Disziplinen bzw. Disziplingruppen zurückzuweisen. Auf Ablehnung stößt damit auch die wissenschaftsdualistische Annahme einer strikten Unterscheidung zwischen den Zugangs- und Verfahrensweisen der Naturwissenschaften auf der einen Seite und denen der Sozialwissenschaften auf der anderen Seite. Aus Sicht der Anti-Dualisten orientiert sich diese Auffassung einer prinzipiellen Methodendifferenz an den gleichen fragwürdigen Prämissen, denen auch das einheitswissenschaftliche Programm verpflichtet ist. Gemeint ist insbesondere die Annahme, dass sich mit den Mitteln der Wissenschaftslogik ein stabiler (ahistorischer) Methodenkanon unverbrüchlich ausweisen lässt – sei es für die Wissenschaften insgesamt oder sei es zumindest für einzelne Disziplingruppen. Diese Annahme kontern die Anti-Dualisten mit einem pragmatischen Gegenargument: Die Frage nach geeigneten methodischen Zugangsweisen lässt sich demzufolge nicht, etwa im Rekurs auf ontologische oder epistemologische Erwägungen, ein für alle Mal verbindlich, sondern nur in Abhängigkeit von (historisch wechselnden) Erkenntnisinteressen [52]und Erkenntniszielen beantworten. An dieses Argument ist ein weiterer Kritikpunkt geknüpft, der sich unmittelbar gegen das Programm einer doppelten Hermeneutik richtet. Aus der Perspektive der Anti-Dualisten unterläuft der Gegenseite ein Fehlschluss. Die Schlussfolgerung, dass die Sozialwissenschaften gar nicht umhin können, die vorgängigen Interpretationsleistungen der Akteure ihrerseits zu interpretieren, ist demnach keineswegs zwingend, da eine Erkundung der sozialen Welt auch entlang anderer, abweichender Gesichtspunkte bzw. Perspektiven erfolgen kann.8 Den Protagonisten einer doppelten Hermeneutik halten sie den Einwand entgegen, dass diese in ihren Arbeiten gewissermaßen dem Beschreibungsvokabular – und damit: den Deutungen und Sichtweisen – der handelnden Akteure ein Privileg einräumen. Ein derart vorrangiges Beschreibungsvokabular kann es nach Auskunft der Anti-Dualisten jedoch nicht geben, weil je nach gewähltem Erkenntnisziel gänzlich unterschiedliche Beobachtungs- und Theoriesprachen von Vorteil (oder Nachteil) sein können.

Einen weiteren Kritikpunkt gilt es zumindest anzudeuten. Die Anti-Dualisten werfen den Protagonisten einer doppelten Hermeneutik eine widersprüchliche Argumentation vor, die bei der Analyse der sozialen Welt eine konstruktivistische Perspektive, dagegen mit Blick auf die Welt der Natur eine realistische Auffassung vorbringt. Das verweist darauf, dass die Debatten über Verstehen und Erklären intern verknüpft sind mit den Diskussionen über Konstruktivismus und Realismus, die im zweiten Teil dieses Beitrags thematisiert werden. Auf Vorbehalte seitens der Anti-Dualisten trifft u. a. Giddens’ Hinweis auf die Besonderheit der Wissenschaften vom Sozialen. Seine Auskunft, dass es allein die Sozialwissenschaften mit einer vor-interpretierten Welt zu tun bekommen, legt demzufolge den fragwürdigen Umkehrschluss nahe, dass die Naturwissenschaften gewissermaßen auf eine Wirklichkeit an sich treffen, die sie erst im Nachhinein in ihrer Theoriesprache deuten. Eine derartige Auffassung erliegt jedoch, so die Kritik, dem Mythos des uninterpretiert Gegebenen.

2.Konstruktivismus/Realismus

Auseinandersetzungen über Konstruktivismus und Realismus nehmen in der wissenschaftstheoretischen Reflexion der Soziologie bzw. der Sozialwissenschaften einen breiten Raum ein. In den weit verzweigten, nach außen hin nur unscharf abgegrenzten Debatten geht es um eine Vielzahl von Streitpunkten. Diskutiert wird u. a. über Wirklichkeitsbegriffe und epistemologische Zugangsweisen, über geltungs- und bedeutungstheoretische Aspekte, über Fragen der wissenschaftlichen Objektivität und Wahrheit. Insofern stellt die Redeweise von der Konstruktivismus/Realismus-Kontroverse [53](wie ja auch die von der Erklären/Verstehen-Debatte) eine beträchtliche Vereinfachung dar. Ebenso liegt eine Verkürzung vor, wenn – wie es allerdings häufig geschieht – behauptet wird, dass es sich bei Konstruktivismus und Realismus per se um grundlegende Alternativen handelt, die konträre und damit unvereinbare Antworten auf die angedeuteten Wirklichkeits-, Erkenntnis- und Wahrheitsfragen geben. Das Verhältnis von konstruktivistischen und realistischen Positionen ist weitaus vielschichtiger. Ein Grund hierfür lautet, dass die Ausdrücke Konstruktivismus und Realismus Sammelbegriffe darstellen, die jeweils ein breit gefächertes Spektrum an z. T. äußerst divergierenden Ansätzen und Standpunkten umfassen. Man bekommt es also mit ganz unterschiedlichen Konstruktivismus/Realismus-Konstellationen zu tun – und zwar in Abhängigkeit davon, welche Begriffsbestimmungen gewählt werden bzw. welche Varianten oder Spielarten jeweils gemeint sind. Diese Überlegung wird durch die Beobachtung gestützt, dass keineswegs alle Debattenbeteiligten einen strikten Gegensatz zwischen konstruktivistischen und realistischen Positionen behaupten. Daneben finden sich auch die Auffassungen einer partiellen Überschneidung oder wechselseitigen Ergänzung, mitunter ist gar von einer Indifferenz die Rede. Bevor im Folgenden ausgewählte Positionen hierzu vorgestellt werden, gilt es zunächst, die verwendete Begrifflichkeit (in der gebotenen Kürze) zu erläutern.

Der Begriff des Realismus verfügt über eine altehrwürdige philosophische Tradition und wird in einer Vielzahl von Bedeutungen verwendet. Die häufigste Erwähnung finden die Varianten des ontologischen und erkenntnistheoretischen Realismus. Der ontologische Realismus steht für die These, dass die Existenz und Beschaffenheit der Wirklichkeit unabhängig davon ist, was Menschen darüber denken, sagen oder wissen können. Der erkenntnistheoretische Realismus vertritt die Auffassung einer epistemischen Zugänglichkeit, behauptet also, dass die Strukturen der Wirklichkeit erkennbar sind. Die beiden Realismusdefinitionen besagen keineswegs das Gleiche. Verschiedentlich wird sogar davon gesprochen, dass sie sich widersprechen – da einer wirkmäch-tigen Auffassung zufolge allein das, was denkabhängig ist bzw. vom Menschen hervorgebracht wird, auch erkannt werden kann. Insofern ist richtig, dass derjenige, der die ontologische Unabhängigkeitsthese übernimmt, nicht zugleich auch von der epistemischen Zugänglichkeitsthese überzeugt sein muss. Die prominenteste Fassung dieser Auffassung ist vermutlich Immanuel Kants Kombination von externem Realismus und transzendentalem Idealismus. Kant bestreitet nicht, dass eine denkunabhängige Wirklichkeit existiert, aber er behauptet, dass wir nicht diese Wirklichkeit an sich, sondern nur die Erscheinung dieser Wirklichkeit erkennen können. Die (subjektiven) Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind, so Kant, zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung (und nicht: der Dinge an sich).

Der Begriff des Konstruktivismus weist, ebenso wie der Begriff des Realismus, eine Vielfalt von Bedeutungen auf. Ein Grund hierfür ist sicherlich, dass von Konstruktivismus in ganz unterschiedlichen Kontexten die Rede ist. Doch auch, wenn man allein soziologische bzw. sozialwissenschaftliche Begriffsfassungen berücksichtigt, wird man kaum von einer einheitlichen Verwendungsweise sprechen können. Insofern besteht auch keine Einigkeit darüber, welche Theorieprogramme und Ansätze im Einzelnen dem Konstruktivismus zugerechnet werden können. Wenngleich viele Beobachter die Einschätzung teilen, dass konstruktivistische Perspektiven gerade in den letzten drei oder vier Jahrzehnten erheblich an Einfluss gewonnen haben, so bleibt doch das Ausmaß dieser Expansionsbewegung umstritten. Für die eine Seite stellt der Konstruktivismus eine zwar relevante, keineswegs jedoch die einzige Position innerhalb eines breiten soziologischen Theorienspektrums dar, die andere Seite spricht dagegen davon, dass sich seit einiger Zeit in den Sozial- und Kulturwissenschaften – zumindest implizit – ein konstruktivistischer Grundkonsens breit gemacht hat (vgl. etwa Schülein 2002, Renn 2012). Angesichts des Fehlens einer einheitlichen Begriffsbestimmung geht man zumeist unmittelbar dazu über, [54]unterschiedliche Spielarten und Varianten des Konstruktivismus zu unterscheiden. Angaben darüber, welchen (kleinsten) gemeinsamen Nenner die verschiedenen Begriffsfassungen bzw. Versionen aufweisen, begnügen sich zumeist mit der Auskunft, dass mit dem Begriff Konstruktivismus eine theoretische Perspektive gemeint ist, die eine (soziale) Fabrikation, Hervorbringung bzw. Produktion unterschiedlicher Entitäten bzw. Wirklichkeitsbereiche behauptet. Ausgehend von diesem Hinweis wird man sagen können, dass zwischen den verschiedenen Varianten z. T. weitreichende Differenzen existieren, im Rahmen welcher soziologischer Theorieprogramme die Metapher der Konstruktion ausbuchstabiert wird, wie der Vorgang einer sozialen Fabrikation genauer erläutert wird und welche Entitäten als das Resultat entsprechender Hervorbringungsprozesse begriffen werden. Mit Blick auf die zuletzt angeführte Frage wird vielfach zwischen moderaten und radikalen Ansätzen unterschieden. Moderate Versionen des Konstruktivismus grenzen demzufolge die These einer sozialen Konstruiertheit auf bestimmte Typen von Ereignissen bzw. Entitäten ein, während radikale Spielarten sämtliche Phänomene als konstruiert begreifen.

Diese knappen begrifflichen Hinweise mögen genügen, um sich im Folgenden der Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von soziologischer Wissenschaft und sozialer Wirklichkeit zuzuwenden. Vereinfachend wird man sagen können, dass aus Sicht »der« Konstruktivisten wissenschaftliche und damit soziologische Erkenntnis eine beobachterabhängige Konstruktion darstellt, aus der Perspektive »der« Realisten zwar nicht die Erkenntnis des Gegenstands, jedoch der Erkenntnisgegenstand unabhängig vom wissenschaftlichen Beobachter existiert. Ob und inwieweit sich diese schematische Kennzeichnung als ein strikter Gegensatz deuten lässt, dürfte u. a. davon abhängen, wie die verwendeten Begriffe jeweils interpretiert werden. Das Merkmal einer Beobachter(un)abhängigkeit lässt nämlich zahlreiche Differenzierungen zu. Das Gleiche kann mit Blick auf die Kategorie der Konstruktion gesagt werden: Konstruktion der Erkenntnis kann, muss aber nicht, vollständige Selbstproduktion der Erkenntnis meinen; es sind also, anders gesagt, zahlreiche Abstufungen bezüglich des Grads der Autarkie bzw. Autonomie wissenschaftlicher Erkenntnis möglich. Hinzu kommt, dass die Bezeichnung der (wissenschaftlichen) Erkenntnis selbst mehrdeutig ist. Erkenntnis meint zum einen die Einheit der Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand, zum anderen nur eine der beiden Seiten der Unterscheidung. Aufgrund der erwähnten Punkte (Begriffsvielfalt, Pluralität an Differenzierungsmöglichkeiten, Unklarheit des Erkenntnisbegriffs) sind die vorgenommenen Zurechnungen, welche Position dem Lager des Realismus bzw. dem des Konstruktivismus zugehört, umstritten. Im Weiteren wird deshalb gar nicht erst der Versuch einer eindeutigen Lagerzuordnung unternommen. Wichtiger dürfte es sein, mit Blick auf die genannte Thematik verschiedene Problembezüge und Betrachtungsweisen vorzustellen.

Das Thema der Beobachterabhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis wird bereits in der Gründungsphase der akademischen Soziologie intensiv diskutiert. Terminologisch gilt es zu beachten, dass bei den soziologischen Klassikern von Konstruktivismus so gut wie überhaupt nicht, von Realismus nur selten explizit die Rede ist. Ausgehend von einer weiten Begriffsfassung, die den gegenwärtigen Konstruktivismus als Fortführung einer vieljährigen, spätestens mit Kant einsetzenden Denktradition begreift, wird man jedoch auch bei den soziologischen Gründungsvätern auf eine Vielzahl von Überlegungen stoßen, die eine konstruktivistische Ausrichtung aufweisen. Erneut gilt es vor allem an Weber zu erinnern, der sich in seinen Beiträgen zur Wissenschaftslehre, wie angedeutet, zustimmend auf die neukantianische Philosophie von Rickert beruft. Insbesondere übernimmt Weber von Rickert die Auffassung, dass der Gegenstand, auf den sich die sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Untersuchung bezieht, gewissermaßen vom wissenschaftlichen Beobachter hervorgebracht, d. h. (mit-)konstituiert wird. Als Ausgangspunkt fungiert dabei [55]die Überlegung, dass die wissenschaftliche Erkenntnis nicht die unendliche Wirklichkeit – Rickert und Weber sprechen mit Blick auf die Unendlichkeit des Weltgeschehens von einer extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit, die sich als solche nicht getreu abbilden und damit erkennen lässt –, sondern stets nur Ausschnitte dieser Wirklichkeit thematisieren kann. »Es gibt keine schlechthin ›objektive‹ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder […] der ›sozialen Erscheinungen unabhängig von speziellen und ›einseitigen‹ Gesichtspunkten, nach denen sie […] als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden.« (Weber 1988: 170) Als Auswahlgesichtspunkte fungieren in den Kulturwissenschaften Wertideen, die Ausschnitte der unendlichen Wirklichkeit als bedeutsam und damit als wissenswert erscheinen lassen. Nur dadurch, dass ›wir‹ wertend an die Wirklichkeit herantreten, lassen sich Teile des unendlichen – und zunächst einmal: sinnlosen – Weltgeschehens aussondern und zum Gegenstand des kulturwissenschaftlichen Erkennens machen. Ausgehend hiervor spricht Weber von einer »ewige[n] Jugendlichkeit« (ebd.: 206) der Sozial- und Kulturwissenschaften: Mit dem Wandel der Kultur ändern sich auch ›unsere‹ (Forschungs-)Interessen und damit die spezifischen Gesichtspunkte, von denen aus wir die Wirklichkeit betrachten.

Webers konzeptuelle Anleihen, die er beim Neukantianismus vornimmt, erinnern in bestimmter Hinsicht an Überlegungen, für die sich konstruktivistische Ansätze stark machen. Insbesondere ist richtig, dass sich Weber gegen einen einfachen Abbildrealismus ausspricht. Doch geht Weber generell auf Distanz zur Position des Realismus? Einmal abgesehen davon, dass sich Weber hierzu nicht geäußert hat (und ihm die Frage vermutlich äußerst merkwürdig vorgekommen wäre), gilt es an das zuvor Gesagte zu erinnern. Die Antworten dürften unterschiedlich ausfallen – je nachdem, welche Fassung des Realismusbegriffs gewählt wird. Jedenfalls können auch diejenigen, die in Weber einen Verfechter des Realismus sehen, eine Vielzahl von Belegen anführen. Für diese Realismus-These spricht u. a., dass bei Weber, genau genommen, nicht von einer Konstruktion und damit Hervorbringung, sondern einer Auswahl des Erkenntnisgegenstands die Rede ist,9 dass Weber, im Gegensatz zu (emanatistischen) Identitätstheorien, die Kluft zwischen Begriff und Wirklichkeit nicht einzieht oder dass Weber einen nicht-relativistischen Wahrheitsbegriff vertritt: Subjektive Wertideen bestimmen zwar, was Gegenstand der kulturwissenschaftlichen Untersuchung wird, sie haben, so Weber, jedoch keinen Einfluss auf die Gültigkeit der Untersuchungsergebnisse.10 »Denn wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen.« (Weber 1988: 184)

Émile Durkheim nimmt eine deutlich abweichende Position hinsichtlich der genannten Thematik ein. In seiner Schrift zu den Regeln der soziologischen Methode betont er, dass der sozialen Wirklichkeit eine eigenständige Form der »Objektivität« (Durkheim 1984: 126) zukommt und auch »objektiv untersucht« (ebd.: 91) werden kann. Relevant im hier interessierenden Kontext ist [56]vor allem, dass Durkheim den sozialen Tatbeständen, die den Gegenstandsbereich der Soziologie bilden, neben den Eigenschaften der Äußerlichkeit, Allgemeinheit und Zwanghaftigkeit auch das Merkmal der Unabhängigkeit zuspricht. Unabhängig sind soziale Phänomene für ihn zunächst insofern, als sie nicht im Verhalten bzw. Handeln einzelner Individuen aufgehen, sondern eine eigenständige Realitätsebene bilden, d. h. eine Realität sui generis. Independent sind soziale Phänomene für ihn aber auch insofern, als sie, vergleichbar mit Dingen, unabhängig vom wissenschaftlichen Blick existieren. Durkheim zeigt sich überzeugt davon, dass sich die sozialen Phänomene, so wie sie wirklich sind, wissenschaftlich analysieren und erklären lassen. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass die Soziologie sämtliche alltagsweltlichen Vormeinungen und Vorbegriffe, die sich gleichsam wie ein Schleier zwischen uns und die sozialen Phänomene schieben, systematisch ausschaltet; hiervon ausgehend muss die Soziologie die Dinge, die sie thematisiert, gewissermaßen objektiv definieren, d. h. »nicht nach einer bestimmten Auffassung, sondern nach den ihnen innewohnenden Eigenschaften« (ebd.: 131). Deutlich distanziert sich Durkheim von einer instrumentalistischen Auffassung, der zufolge wissenschaftliche Begriffe nicht unabhängige Gegenstände referieren, sondern mehr oder weniger nützliche Denkwerkzeuge darstellen. Die Soziologie, so heißt es bei ihm, »benötigt Begriffe, die die Dinge adäquat zum Ausdruck bringen, so wie sie sind, und nicht so, wie sie für die Praxis nützlich wären« (ebd.: 138).

Ausgehend von diesen Äußerungen haben verschiedene Interpreten die Schlussfolgerung gezogen, dass Durkheim die Position eines soziologischen Realismus vertritt, gelegentlich wird er stärker noch mit einer abbildrealistischen Auffassung in Verbindung gebracht. Deshalb gilt es darauf hinzuweisen, dass sich bei Durkheim auch abweichende Äußerungen finden lassen, in denen er stärker den konstruktiven Eigenanteil des Erkennens betont; überhaupt gilt zu beachten, dass er sich, was hier allerdings nur angedeutet werden kann, vielfach zustimmend auf die Philosophie von Kant bezieht. Zudem können auch die zuvor referierten Äußerungen Durkheims, jedenfalls zum Teil, mehr oder weniger konstruktivistisch – sprich: instrumentalistisch – reinterpretiert werden. Danach gibt der französische Soziologe, wenn er etwa von der Dinghaftigkeit sozialer Phänomene spricht, keine Auskunft über deren ontologischen Status, sondern formuliert lediglich die methodische Regel, dass sich soziale Tatbestände wie unabhängige Dinge behandeln lassen (was eben nicht besagt, dass sie auch derartige Dinge sind). Diejenigen, die Durkheim dann doch dem realistischen Theorielager zuordnen, können sich freilich auf die Beobachtung stützen, dass er in gewisser Weise Überlegungen vorwegnimmt, die in späteren Debatten von expliziten Befürwortern des Realismus formuliert werden. Zu nennen wäre etwa Roy Bhaskars (1998) Version eines kritischen Realismus, bei der zwischen verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen unterschieden wird. Sozialwissenschaftliche Theorien, die aktuelle Ereignisse erklären, sind gut beraten, so Bhaskar, neben empirischen Regelmäßigkeiten auch tiefer liegende Mechanismen und Strukturen zu berücksichtigen, die ebenso ›wirklich‹ sind wie die direkt messbaren Erscheinungen an der Oberfläche. In anderen Kontexten ist auch von einem wissenschaftlichen Realismus die Rede: ›Theoretischen Entitäten‹, die zwar nicht unmittelbar beobachtet werden können, deren Existenz jedoch theoretisch erschlossen werden kann, kommt demzufolge ebenso wie direkt wahrnehmbaren Einheiten der Status beobachtungsunabhängiger Dinge zu.

Der zuvor kurz erwähnte Begriff des kritischen Realismus wird noch in anderen Kontexten verwendet. Gelegentlich zieht man den Begriff auch heran, um die – von Bhaskars Auffassung deutlich abweichende – Realismusposition des kritischen Rationalismus von Karl Popper und Hans Albert zu bezeichnen. Von einer kritischen Variante des Realismus ist deshalb die Rede, weil Popper und Albert zwar die These einer beobachterunabhängigen Außenwelt stark machen, zugleich jedoch auf Distanz zu den Prämissen eines Abbildrealismus gehen: Die Wirklichkeit ist danach aufgrund der Theorie- bzw. Beobachterabhängigkeit wissenschaftlicher Aussagen nicht [57]direkt erkennbar; doch mittels entsprechender methodischer Vorkehrungen lässt sich erreichen, dass sich die Wissenschaften einer wahren Darstellung der Außenwelt sukzessive annähern. Diese Wahrheitsapproximation erfolgt dabei, so Popper und Albert, durch eine Eliminierung des Falschen, d. h. durch eine fortlaufende Falsifikation unwahrer Aussagen. Anders als Albert (1987), der den Begriff des kritischen Realismus favorisiert, spricht Popper (1998: 40) von einem metaphysischen Realismus, da die Realismusannahme nicht empirisch prüfbar ist, seines Erachtens jedoch von wissenschaftlichen Theorien vorausgesetzt wird.

Es würde eine unzulässige Verkürzung darstellen, wenn in diesem Zusammenhang nicht zugleich, wie angedeutet, auf die seit einigen Jahrzehnten zu beobachtende immense Ausweitung konstruktivistischer Ansätze in der Soziologie bzw. in den Sozialwissenschaften aufmerksam gemacht würde. Eine besondere Beachtung namentlich in der deutschsprachigen Soziologie hat dabei die von Niklas Luhmann formulierte Konzeption einer konstruktivistisch ansetzenden Systemtheorie gefunden. Luhmann beschreibt soziale Gebilde (Interaktionen, Organisationen, Gesellschaften) als autopoietische, operativ geschlossene Systeme, die ihre kommunikativen Elemente, aus denen sie bestehen, in einem rekursiven Prozess selbst herstellen. Das damit angedeutete Theorem der operativen Geschlossenheit wird ergänzt durch die Annahme einer kognitiven Geschlossenheit. Kognition gilt dabei als ein systeminterner Zustand, der mittels Beobachtungen, d. h. Bezeichnungen im Rahmen von Unterscheidungen, produziert bzw. geändert wird. Auch bei Beobachtungen handelt es sich um endogene Operationen, die das System mit eigenen Mitteln bewerkstelligt. Insofern besagt die Annahme einer kognitiven Geschlossenheit, dass es keinen Input von Informationen aus der Umwelt in das System oder einen Output von Informationen aus dem System in die Umwelt des Systems gibt. Informationen stellen in dieser Sicht interne Konstruktionen dar, die soziale Systeme autonom, d. h. im selbstreferenziellen Vor- und Rückgriff auf weitere Informationen erzeugen und verarbeiten. Das Gesagte gilt, so Luhmann, für alle (sozialen) Systeme, gilt also auch für die Wissenschaft als Funktionssystem der modernen Gesellschaft und gilt ebenso für die Soziologie als Subsystem der Wissenschaft. In dieser Sicht stellt sich wissenschaftliches bzw. soziologisches Wissen als ein Wissen dar, dass vom System autonom produziert wird – womit gemeint ist, dass von der Wissenschaft »keine Vorgaben anerkannt werden, die nicht im System selbst erarbeitet sind. Erkenntnisse können daher nur zirkulär begründet werden.« (Luhmann 1990a: 294)

Luhmanns These einer selbstreferenziellen Konstruktion und damit strikten Selbstproduktion wissenschaftlichen Wissens ist Gegenstand zahlreicher, bis heute andauernder Debatten. Von verschiedenen Seiten ist kritisch dagegen vorgebracht worden, dass die Systemtheorie eine antirealistische Sichtweise vertritt, die keinerlei Einflussnahme der externen Umwelt auf interne Systemprozesse vorsieht. Luhmann selbst hat diesen Antirealismusvorwurf freilich bestritten. »Tatsächlich steht der Realismus des Konstruktivismus auf sicheren Beinen.« (Luhmann 1990b: 9) Zur Erläuterung seiner Auffassung, dass es sich bei dem systemtheoretischen Konstruktivismus um eine Spielart des Realismus handelt, führt er mehrere Überlegungen an; unter anderem verweist er darauf, dass der Theorie zufolge Erkenntnis eine Selbstkonstruktion real operierender Systeme darstellt, ohne dass damit kausale Wechselwirkungen zwischen System und Umwelt oder gar die Wirklichkeit der Außenwelt bestritten würden. »Das heißt nicht, daß die Realität geleugnet würde, denn sonst gäbe es nichts, was operieren, nichts, was beobachten, und nichts was man mit Unterscheidungen greifen könnte. Bestritten wird nur die erkenntnistheoretische Relevanz einer ontologischen Darstellung der Realität.« (Ebd.: 37) Daneben findet sich eine dritte Lesart. Diese begreift Luhmanns Theorie sozialer Systeme (ebenso wie eine Reihe ähnlich ansetzender Varianten eines sozialtheoretischen Konstruktivismus) als eine theoretische Position, die gewissermaßen quer zu dem Schema von Realismus und Antirealismus steht. In dieser Sicht ist mit Sozialkonst-ruktivismus [58]ein Forschungsprogramm gemeint, das sich dafür interessiert, auf welche Weise Wirklichkeitsbeschreibungen soziale Verbindlichkeit erlangen. Behauptet wird zugleich, dass die (ergebnislose) Auseinandersetzung zwischen Realisten und Antirealisten ein ganz anderes (fundamentalistisches) Anliegen betrifft, nämlich die Frage nach einem letzten Einheitsgrund unseres Erkennens und Wissens. Für das sozialkonstruktivistische Theorieprogramm ist diese Fragestellung jedoch, so die Schlussfolgerung, eine Frage ohne praktischen Wert (Kneer 2009).

Die Kontroverse über Realismus und Konstruktivismus hat in jüngerer Zeit auf dem Feld der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung bzw. der so genannten science studies eine Fortsetzung und zugleich weitere Zuspitzung gefunden. Einen viel beachteten Ansatz stellt die maßgeblich von Bruno Latour formulierte Akteur-Netzwerk-Theorie dar. Latours Theorieunternehmen geht auf deutliche Distanz sowohl zu den Prämissen des (Abbild-)Realismus als auch des (Sozial-)Konstruktivismus. Im Gegensatz zu einem realistischen Selbstverständnis betont Latour, dass (natur-)wissenschaftliche Tatsachen nicht schlicht entdeckt, sondern fabriziert, produziert und damit konstruiert werden – »les faits sont faits« (Latour 2003: 195). An die Adresse der konstruktivistischen Wissenssoziologie richtet er den Vorwurf, dass diese in kurzschlüssiger Weise (natur-)wissenschaftliches Wissen allein im Rekurs auf die interpretative Tätigkeit der Wissenschaftler, also »die harten Fakten der Naturwissenschaft durch die weichen Fakten der Sozialwissenschaft« (ebd.: 187) erklärt und damit den Eigenanteil der Dinge und Gegenstände am Zustandekommen wissenschaftlicher Tatsachen unterschlägt.11 In seiner Sicht ist der Vorgang der Wirklichkeitskonstruktion ein dynamisches Geschehen, an dem naturale, gesellschaftliche und technische Komponenten gleichermaßen beteiligt sind. Um die mitwirkende Rolle von natürlichen und artifiziellen Dingen bei der Herstellung wissenschaftlicher Fakten herauszuarbeiten, nimmt Latour eine Ausweitung der Akteurskategorie vor. Jede wirkmächtige Einheit wird als Akteur begriffen: Menschen aus Fleisch und Blut ebenso wie Mikroben, Schlüsselanhänger, Muscheln oder Fahrbahnschwellen. Akteure handeln in Netzwerken, also dank der Verknüpfung mit weiteren Akteuren; Handlungsfähigkeit ist somit das Resultat einer Netzwerkbildung, bei der die Beteiligten ihre Ziele, Rollen sowie Funktionen aushandeln und wechselseitig zuweisen. Ausgehend hiervon gelangt Latour zu einer Neubeschreibung des Sozialen als Gegenstand der Soziologie: Die soziale Welt gilt ihm als Ort des Versammelns bzw. Assoziierens menschlicher und nichtmenschlicher Entitäten; das Soziale ist, kurz gesagt, bevölkert von eigenartigen Mischwesen, Hybriden aus Natur, Kultur und Technik (vgl. Latour 2007).

Die vorstehenden Ausführungen haben verschiedene Kontroversen bzw. Positionen zu der Frage vorgestellt, wie sich die Soziologie zu ihrem Gegenstand verhält. Manches konnte dabei nur [59]angedeutet oder allenfalls umrisshaft skizziert, vieles musste schlicht ignoriert werden. Wiederholt wurde dabei die Vielfalt an Sichtweisen und Standpunkten betont. Verschiedene Beobachter haben mit Blick auf diese Mannigfaltigkeit bzw. die scheinbare Uferlosigkeit der Auseinandersetzungen die grundsätzliche Frage nach dem Nutzen einer wissenschaftstheoretischen Reflexion aufgeworfen. In aller Kürze wird man hierzu sagen können, dass »die« Wissenschaftstheorie nicht (länger) das Ziel verfolgt, Wissenschaften zu begründen. Ein ähnlich lautender Eintrag findet sich bereits bei Weber: »Nur durch Aufzeigung und Lösung sachlicher Probleme wurden Wissenschaften begründet und wird ihre Methode fortentwickelt, noch niemals dagegen sind daran rein erkenntnistheoretische oder methodologische Erwägungen entscheidend beteiligt gewesen.« (Weber 1988: 217) Die wissenschaftstheoretische Reflexion geht den Wissenschaften nicht voraus, sondern begleitet sie. Und schon gar nicht liefert sie ein stabiles Fundament, auf dem die fachwissenschaftliche Arbeit ausruhen könnte. Eine der Hauptaufgaben der Wissenschaftstheorie dürfte es vielmehr sein, die Kontingenz wissenschaftlichen Wissens herauszuarbeiten und damit zugleich auf mögliche Alternativen bei der wissenschaftlichen Begriffs-, Theorie- und Methodenwahl aufmerksam zu machen.

Literatur

Abel, Theodore (1948): The Operation Called Verstehen. In: The American Journal of Sociology 54 (3): 211–218.

Albert, Hans (1987): Kritik der reinen Erkenntnislehre. Das Erkenntnisproblem in realistischer Perspektive, Tübingen.

Bhaskar, Roy (1998): The Possibility of Naturalism. A Philosophical Critique of the Contemporary Human Sciences, London, New York.

Bloor, David: Anti-Latour. In: Studies in History and Philosophy of Science 30 (1): 131–136.

Davidson, Donald (1990): Handlung und Ereignis, Frankfurt/M.

Dilthey, W. (1982): Gesammelte Schriften, Band V, Stuttgart.

Dray, William (1957): Laws and Explanation in History, Oxford.

Durkheim, Émile (1984): Die Regeln der soziologischen Methode. Herausgegeben und eingeleitet von René König, Frankfurt/M.

Esser, Hartmut (1993): Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt/M., New York.

Esser, Hartmut (1999): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln, Frankfurt/M., New York.

Giddens, Anthony (1984): Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung, Frankfurt/M., New York.

Hempel, Carl Gustav (1968): Maximal Specifity and Lawlikeness in Probabilistic Explanation. In: Philosophy of Science 35 (2), S. 116–133.

Hempel, Carl Gustav/Oppenheim, Paul (1948): Studies in the logic of explanation. In: Philosophy of Science 15 (2): 135–175.

Kneer, Georg (2009): Jenseits von Realismus und Antirealismus. Eine Verteidigung des Sozialkonstruktivismus gegenüber seinen postkonstruktivistischen Kritikern. In: Zeitschrift für Soziologie 38 (1): 5–25.

Kneer, Georg (2010): Die Debatte über Konstruktivismus und Postkonstruktivismus. In: Kneer, Georg/Moebius, Stephan (Hg.): Soziologische Kontroversen. Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen, Berlin, 314–341.

Kuhn, Thomas (1976): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Frankfurt/M.

Latour, Bruno (2003): Das Versprechen des Konstruktivismus. In: Huber, Jörg (Hg.): Person/Schauplatz. Interventionen 12, Wien, New York, 183–208

[60]Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt/M.

Luhmann, Niklas (1990a): Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.

Luhmann, Niklas (1990b): Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen.

Popper, Karl R. (1998): Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg.

Quine, W. V.O. (1984): Von einem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays, Frankfurt/M., Berlin, Wien.

Renn, Joachim (2012): Eine rekonstruktive Dekonstruktion des Konstruktivismus. In: Renn, Joachim/Ernst, Christoph/Isenböck, Peter (Hg.): Konstruktion und Geltung. Beiträge zu einer postkonstruktivistischen Sozial- und Medientheorie. Wiesbaden, 19–42.

Rorty, Richard (1981): Method, Social Science, and Social Hope. In: The Canadian Journal of Philosophy XI (4): 569–588.

Rorty, Richard (1991): Inquiry as Recontextualization: An Anti-Dualist Account of Interpretation. In: Hiley, David R./Bohman, James F./Shusterman, Richard (Hg.): The Interpretive Turn. Philosophy, Science, Culture. Ithaca, London, 59–80.

Rouse, Joseph (1990): Knowledge and Power. Toward a Political Philosophy of Science, Ithaca, London.

Schülein, Johann August (2002): Autopoietische Realität und konnotative Theorie. Über Balanceprobleme sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Weilerswist.

Simmel, Georg (1989): Die Probleme der Geschichtsphilosophie. In: ders.: Gesamtausgabe, Band 2. Frankfurt/M., 297–423.

Simmel, Georg (1999): Vom Wesen des historischen Verstehens. In: ders.: Gesamtausgabe, Band 16. Frankfurt/M., 151–179.

Weber, Max (1988): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., Tübingen.

Wilson, Thomas P. (1973): Theorien der Interaktion und Modell soziologischer Erklärung. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Band 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Reinbek, 54–79.

Winch, Peter (1974): Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt/M.

Wright, Georg Henrik von (2000): Erklären und Verstehen, 4. Aufl., Berlin.

1Viele Beiträge sowohl zur Erklären/Verstehens-Thematik als auch zum Begriffspaar von Konstruktivismus und Realismus sind nicht allein mit Blick auf die Soziologie formuliert, sondern thematisieren allgemein geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven.
2Beim Verstehen wird etwa zwischen einem rekonstruktiven, produktiven und kritisch-distanzierenden Verstehen unterschieden; ferner wird differenziert, ob mit Verstehen die interpretative Aneignung von subjektiven Motiven bzw. Zwecken oder intersubjektiven Kommunikationen, von logischen Sinnzusammenhängen oder sozial konstituierten Bedeutungen gemeint ist. Beim Erklären ist u. a. vom nomologischen, kausalen, funktionalen, mechanistischen und evolutionären Erklären die Rede. Dabei gilt, dass weder über die genaue begriffliche Ausgestaltung der genannten Verstehens- und Erklärensty-pen noch über ihr Verhältnis untereinander Einigkeit existiert.
3Während die meisten Rekonstruktionsbemühungen den Beginn der Debatten über das Begriffspaar Verstehen/Erklären im 19. Jahrhundert datieren, nehmen einzelne Beobachter eine abweichende, zeitlich (deutlich) weiter zurückgehende Perspektive ein. Für Wright (2000) etwa stehen die Begriffe des (teleologischen) Verstehens und des (kausalen) Erklärens für die zwei Haupttraditionen der (abendländischen) Philosophie und Wissenschaften, deren Anfänge bis in die Antike zurückreichen.
4Die Grundannahmen des einheitswissenschaftlichen Gegenprogramms zum Methodendualismus wurde vom so genannten Wiener Kreis, d. h. einer Gruppe von Philosophen um Moritz Schlick, Rudolf Carnap und Otto Neurath, in den 1920er- und 1930er-Jahren entfaltet. Das Anliegen zielt darauf ab, methodische Zugangsweisen, die sich in der Mathematik und der Physik als erfolgreich bewiesen haben, logisch zu generalisieren, so dass sie in sämtlichen Wissenschaftsdisziplinen zur Anwendung gelangen können.
5Später hat Hempel (1968) das Erklärungsmodell um eine induktiv-statistische Variante erweitert, bei der die Erklärung auf probabilistischen Gesetzen, also auf statistischen Wahrscheinlichkeitsangaben basiert.
6Dem interpretativen Paradigma lassen sich verschiedene Theorieansätze bzw. Schulen zurechnen; zu nennen sind u. a. die phänomenologische Soziologie, der symbolische Interaktionismus, die Ethnomethodologie sowie sozial- und kulturtheoretische Ansätze, die sich an den (späten) Arbeiten von Ludwig Wittgenstein orientieren.
7Zu beachten ist dabei, dass sich die in den 1950er- und 1960er-Jahren prominent werdende Kritik der Wittgensteinianer in erster Linie gegen die Kausaltheorie der Handlungserklärung richtet und nur nachrangig gegen die nomologische Erklärungskonzeption – womit sie sich, explizit oder implizit, die Auffassung von Hempel zu eigen machen, dass eine (wissenschaftliche) Kausalerklärung ohne die Angabe von Gesetzen nicht auskommt und somit einen Spezialfall der deduktiv-nomologischen Erklärung darstellt. Die damit vorgenommene Angleichung von Kausalerklärungen an Gesetzeserklärungen sieht sich in der anschließenden Debatte jedoch einer Reihe von (sowohl wissenschaftstheoretischen als auch handlungstheoretischen) Einwänden ausgesetzt. Mit Blick auf Fragen der Handlungserklärung kommt dabei der Position von Donald Davidson (1990) eine Schlüsselrolle zu, der kausale Erklärungen von Handlungen als eine eigenständige Form der Erklärung begreift, die ohne Bezugnahme auf Gesetze auskommt bzw. auskommen muss, da es Davidson zufolge keine universalen Handlungsgesetze gibt.
8Insbesondere von funktionalistischen, systemtheoretischen und (post-)strukturalistischen Theorieprogrammen wird der Anspruch vorgetragen, auf Gesichtspunkte aufmerksam zu machen, die sich nicht aus der Teilnehmerperspektive, sondern allein aus einer davon abweichenden Beobachterperspektive beschreiben lassen. Dieser Auffassung halten die Verfechter einer doppelten Hermeneutik zwei Argumente entgegen. Sie verweisen darauf, dass erstens auch die Beiträge dieser konkurrierenden Zugangsweisen gar nicht umhin können, zunächst einmal an den vorgängigen Deutungen der Akteure selbst anzuknüpfen (wobei dies von den genannten Ansätzen unbemerkt bleibt, weil diese die Teilnehmerperspektive in ihrer eigenen Theoriesprache objektivieren und damit verfremden) und zweitens auch eine Vorgehensweise, die sich an den Prämissen einer doppelten Hermeneutik orientiert, nicht bei einer Rekonstruktion der Teilnehmerperspektive stehen bleibt, sondern in einem anschließenden Schritt auch Vorgänge – Stichwort: latente, nicht-intendierte Folgen absichtsvollen Handelns – beschreiben bzw. erklären kann, die von den Akteuren selbst nicht beabsichtigt sind bzw. nicht bemerkt werden.
9Entsprechend heißt es bei Weber Umformung und nicht Formung des Untersuchungsobjekts – d. h. er setzt das unendliche Weltgeschehen, aus dem der Kulturwissenschaftler auswählt, als eine unabhängig existierende, mit bestimmten Kausalstrukturen ausgestattete Wirklichkeit voraus; die epistemologische Frage, die Rickert beschäftigt, nämlich inwieweit diese Wirklichkeit das Produkt einer vorgängigen Konstitutionsleistung erkennender Subjekte darstellt, bleibt bei Weber ausgeklammert.
10In den Debatten über Realismus und Konstruktivismus geht es auch, wie angedeutet, um wahrheitstheoretische Aspekte. Die Realisten werfen, vereinfacht gesagt, den Konstruktivisten vor, Wahrheit zu relativieren, also der These einer beobachterabhängigen Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis – getreu dem Motto: andere Beobachter, also auch andere Wahrheiten – das Wort zu reden. Vielen, wenn auch nicht allen Debattenbeteiligten gilt deshalb die Ablehnung eines relativistischen Wahrheitsbegriffs als Kennzeichen des Realismus.
11Die Protagonisten des Sozialkonstruktivismus sind wiederholt der Kritik Latours entgegen getreten. David Bloor, einer der Begründer und Wortführer des so genannten strong programme der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie, verweist in seiner Antwort auf Latour vor allem auf zwei Punkte: Zum einen betont er, dass nicht die naturale bzw. materielle Wirklichkeit, sondern die Aussagen der Naturwissenschaftler über diese Wirklichkeit den Gegenstand der Soziologie wissenschaftlichen Wissens bilden. »Das Ziel ist nicht, die Natur, sondern kollektiv geteilte Überzeugungen über die Natur zu erklären.« (Bloor 1999: 87; eigene Übersetzung, G. K.). Zum anderen verweist er darauf, dass der Sozialkonstruktivismus keineswegs die Rolle nicht sozialer Faktoren beim Zustandekommen wissenschaftlichen Wissens bestreitet. Aus seiner Sicht trägt der unmittelbare Rekurs auf naturale Faktoren jedoch nichts zu einer Antwort auf die Frage bei, für die sich die Wissenschaftssoziologie interessiert, nämlich die Frage, weshalb wissenschaftliche Aussagen akzeptiert oder bestritten werden – da aus seiner Sicht naturale Faktoren sowohl bei der Anfertigung wahrer als auch falscher Aussagen kausal wirksam sind. Zur Debatte zwischen sozialkonstruktivistischer Wissenschaftssoziologie und Akteur-Netzwerk-Theorie vgl. auch Kneer 2010.
Handbuch der Soziologie

Подняться наверх