Читать книгу Prächirurgische Diagnostik und chirurgische Epilepsietherapie - Группа авторов - Страница 9
1 Die klassische Indikation: Temporallappenepilepsie Christian G. Bien Fallbeispiel 1.1
ОглавлениеDie 50-jährige rechtshändige Beamtin stellte sich zur prächirurgischen Epilepsiediagnostik vor. Sie litt seit dem Alter von 22 Jahren an einer pharmakaresistenten fokalen Epilepsie. Sie hatte Carbamazepin, Oxcarbazepin, Levetiracetam und Lacosamid in ausreichenden Dosen ohne Kontrolle der Anfälle eingenommen. Außer einer Thyreoidektomie keine Auffälligkeiten in der Vorgeschichte. Bei Aufnahme nahm sie 400 mg Lacosamid (5,7 µg/ml) und 4.000 mg Levetiracetam (38,9 µg/ml) pro Tag ein. Die Patientin war ein Jahr zuvor bereits in einem anderen Epilepsiezentrum untersucht worden, wo man ihr einen rechtstemporalen Eingriff angeboten hatte. Sie hatte sich aber aufgrund diffuser Ängste vor einer Operation nicht für den Eingriff entscheiden können.
Sie und ihr Partner beschrieben die Anfälle wie folgt:
Typ 1: Aufsteigende Übelkeit aus dem Magen. Seit Monaten nicht mehr aufgetreten.
Typ 2: Fehlende Reagibilität, ungeformte Vokalisation (Wimmern oder Summen), Fortführung der vorherigen Tätigkeit, orale und manuelle Automatismen, Dauer: 30 Sekunden bis zwei Minuten (früher 15–30 Sekunden). Reorientierung ca. eine Minute und anterograde Amnesie für die Zeit von 2–3 Minuten vor dem Anfall. Es wurde deutlich, dass die Patientin, v. a.in letzter Zeit durch Fehlen der Aura, durch eine länger werdende Anfallsdauer und Reorientierungsphase sowie durch Fortführung der Tätigkeiten bzw. unkontrollierte Handlungen sich selbst gefährdete. Anfallsfrequenz: in Clustern, 3–4 pro Tag mit Pausen bis 14 Tage. Laut schriftlicher Dokumentation traten in den letzten drei Monaten 12–17 dieser psychomotorischen Anfälle pro Monat auf. Keine nächtlichen Anfälle. Kein Übergang in bilateral tonisch-klonischen Anfall. Die Hirn-MRT zeigte eine rechtsseitige mediotemporale Läsion, mutmaßlich eine Kombination aus einer Hippokampussklerose und einem gutartigen Tumor ( Abb. 1.1A, B). Das interiktuale EEG zeigte häufige rechts temporomediale/-anteriore Spikes ( Abb. 1.1C). Es wurden fünf habituelle Anfälle des Typen 2 (psychomotorische Anfälle) mittels Video-EEG registriert: Hier zeigte sich zeitweise eine erhaltene Reagibilität während der Automatismen. Das EEG-Anfallsmuster begann rechts temporomedial/-anterior ( Abb. 1.1D). Die Patientin war nach Kriterien der funktionellen Magnetresonanztomografie für Sprache linksdominant ( Abb. 1.1E). Es erfolgte eine anteromediale Temporallappenteilresektion rechts ( Abb. 1.1F, G). Histologie: Hippokampussklerose Typ I nach der Internationalen Liga gegen Epilepsie und nicht näher klassifizierbarer niedriggradiger neuroepithelialer Tumor (Neuropathologische Diagnostik: Prof. Dr. Ingmar Blümcke, Erlangen). Nach Entlassung aus dem stationären Aufenthalt zehn Tage nach dem Eingriff nahm die Patientin eine vierwöchige Anschlussheilbehandlung in der hiesigen Epilepsie-Rehabilitationsklinik wahr. Hier wurde u. a. eine postoperative Anpassungsstörung bearbeitet. Beim 6-Monats-Follow-up war die Patientin durchgehend anfallsfrei (hier schon auf einer Monotherapie, Levetiracetam 4.000 mg/d; 33,1 µg/ml), ebenso beim letzten verfügbaren Follow-up zwei Jahre nach der Operation (unter Levetiracetam 1.000 mg/d; 8,0 µg/ml). Damit klassifizierten wir das Operationsergebnis mit IA nach Engel. Es bestand kein neues neurologisches Defizit, auch keine Quadrantenanopsie, über die präoperativ ausdrücklich als OP-Risiko aufgeklärt worden war. Psychiatrischerseits wurde eine leichte depressive Episode diagnostiziert. Wir empfahlen angesichts der zweijährigen Anfallsfreiheit und der wunschgemäßen Resektion die schrittweise vollständige Abdosierung des Levetiracetam. Wegen der Depression wurde eine Psychotherapie empfohlen.
Präoperativ waren ihre verbalen und figuralen Gedächtnisleistungen vor dem Hintergrund regelrechter exekutiver und attentionaler Leistungen normal ( Abb. 1.2). Im Verbalen Lern- und Aufmerksamkeitstest (VLMT) lernte sie in den fünf ersten Lerndurchgängen zuletzt 15/15 Wörtern. Nach Interferenz konnte sie 14 Wörter korrekt reproduzieren; sie erkannte 15/15 korrekt aus einer Auswahlliste wieder, ohne neue Wörter fälschlicherweise als schon bekannt zu bezeichnen. Im Diagnostikum für Cerebralschädigung (DCS), bei dem man neun abstrakte Muster mit Stäbchen aus dem Gedächtnis nachlegen muss, erbrachte sie über die geforderten fünf Durchgänge ebenfalls eine durchschnittliche Leistung. Zwei Jahre postoperativ waren ihre Leistungen in beiden Tests schlechter als präoperativ. Im VLMT war die Lernleistung (Durchgänge 1–5) noch normgerecht, und die Verschlechterung lag unterhalb der Grenze einer signifikanten Änderung, bestimmt nach dem Reliable Change Index gemäß den Testnormen des VLMT (Helmstaedter et al. 2001). Allerdings waren der freie Abruf (Durchgang 7) und die Rekognitionsleistung signifikant verschlechtert, lagen aber im noch durchschnittlichen Bereich. Die Leistung im DCS war postoperativ noch durchschnittlich, die Verschlechterung war aber nicht signifikant (Weidlich und Lamberti 2001). In der Selbstwahrnehmung der Patientin war ihre Gedächtnisleistung unverändert.
Abb. 1.1: Prächirurgische Diagnostik bei der Patientin des Fallbeispiels 1.1. (A) koronare Fluid-Attenuated-Inversion-Recovery-Magnetresonanztomografie (FLAIR-MRT); weißer/linker Pfeil: verkleinerter und signalangehobener Hippokampus, also Hippokampussklerose; rechter/grauer Pfeil: mutmaßlich niedriggradiger Tumor. (B) axiale FLAIR-MRT, Pfeilbedeutung wie in A. (C) Ausschnitte aus dem interiktualen EEG, sphenoidaler Ring mit doppelten Längsreihen (siehe E). Die Pfeile verweisen auf die Phasenumkehr der Spikes rechts temporomedial/ -anterior. (D) Iktuales EEG, Verschaltung wie in C. Der Anfall beginnt dort, wo auch die Spikes generiert wurden. (E) Verschaltung der EEG in C und D. Die Elektrodenpositionen sind nach den Vorgaben der American Electroencephalograhic Society benannt, was eine Folge der früheren engen Bindung der prächirurgischen Station im Epilepsie-Zentrum Mara an die Cleveland Clinic, USA, ist. (F) Funktionelle Sprach-MRT, die eine Linksdominanz der Patientin ausweist (Mehrdurchblutung im Broca-Areal bei stiller Bildung von Wörtern im Vergleich zu einer Ruhebedingung, Kap. 6.3). (G, H) Koronare und axiale T1-MRT nach anteromedialer Temporallappenteilresektion.
Abb. 1.2: Gedächtnisleistung der Patientin des Fallbeispiel 1.1 prä- und postoperativ. Links: Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest: »d1–d7« bezeichnen die Lerndurchgänge (d1–d5) und den verzögerten freien Abruf (d7); Recog bezeichnet die Wiedererkennensleistung. Postoperativ sind die Leistungen bei d7 und Recog »noch durchschnittlich« (offene Symbole) und signifikant schlechter als präoperativ. Rechts: Figuralgedächtnistest Diagnostikum für Cerebralschädigung. Die postoperative Perfomanz war »noch durchschnittlich« (offene Symbole), aber nicht signifikant verschlechtert.