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Isolation

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Veith Kanoder-Brunnel

Der Mond warf sein Silberlicht über Kirche und Pfarrhaus, kalt und bleich, als wolle er eine entsetzliche Zukunft vorwegnehmen. Pastor O’Deele zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief, während sein Blick aus dem Fenster über den nächtlichen Garten wanderte. Trostlos und unheilschwanger erschien ihm in letzter Zeit alles. War eine Interpretation der Hölle nicht die Abwesenheit von Gott? Die Gegenwart brauchte keine Hölle mehr und auch keinen Teufel, die Isolation vom eigentlichen Leben reichte auch zur gefühlten Verdammnis. Das geht vorüber, sagte er halblaut vor sich hin und nahm einen weiteren tiefen Zug.. Schon vor Jahren hatte er das Rauchen aufgegeben, war aber während des jüngsten Lockdowns rückfällig geworden. In seinem Alter spielte es ohnehin keine Rolle mehr, was ihm am Ende die Lunge kaputtmachte. Sein Blick kehrte zurück auf den Monitor und die leicht verschwommenen Stichworte für seine Onlinepredigt am Sonntag. Geh einfach schlafen, riet eine innere Stimme, sind ja noch zwei Tage und ...

Der Klingelton ließ ihn zusammenzucken. Kurz vor Eins, wie ein schneller Blick auf die Uhr offenbarte. Wer rief denn mitten in der Nacht an, eine Frechheit sowas! Ach, Unsinn, wahrscheinlich noch jemand, der nicht schlafen konnte und weitaus größere Probleme hatte als er selbst. Irgendeine unbekannte Handynummer jedenfalls. »O’Deele«, meldete er sich kurz und knapp und schalt sich in Gedanken für seine Unfreundlichkeit.

»Vater, vergeben Sie mir, ich habe gesündigt.«

Na, das war ja mal ein interessanter Gesprächsbeginn. »Das tun wir alle mal. Wie kann ich Ihnen zu so später Stunde helfen?«

»Mir die Beichte abnehmen.«

Der Pastor inhalierte einen letzten tiefen Zug und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Jetzt, um diese Zeit?«

Beinahe hätte er den Hinweis hinzugefügt, der Anrufer möge morgen bei Tage zum Beichtstuhl kommen, als ihm einfiel, dass dieses offizielle Vorgehen im Moment gar nicht möglich war.

»Ich bin müde und wollte gerade ins Bett«, fügte er stattdessen hinzu. »Ist es sehr dringend?«

»Natürlich ist es dringend, sonst würde ich Sie wohl kaum mitten in der Nacht belästigen.« Der Anrufer klang jetzt regelrecht beleidigt.

»Schon gut, entschuldigen Sie.« Am besten, er machte das so unkompliziert wie möglich, dann könnte er schneller ins Bett. »Was haben Sie zu beichten?«

»Es geht um die Isolation. Alle stöhnen darüber. Sogar Sie haben das bereits über Twitter als Thema für die nächste Predigt angekündigt.«

»Der Lockdown macht uns allen zu schaffen, sowohl denjenigen, die allein sind, als auch denen, die sich nicht aus dem Weg gehen können. Letzteren manchmal sogar noch mehr. Da brechen vereinzelt die dunkelsten Abgründe ...«

Der Anrufer schnaubte verächtlich. »Die Menschen wissen einen Scheißdreck über Isolation und Abgründe. Sie auch.«

O’Deele atmete tief durch. »Ich möchte Sie bitten, ein bisschen auf Ihre Wortwahl zu achten, sonst muss ich dieses Gespräch leider beenden.«

»Okay, entschuldigen Sie. Ich kann dieses Gejammer nur einfach nicht mehr hören. Da kann man mal ein paar Wochen nicht im Pub saufen gehen und schon geht die Welt unter. Und jeder leidet unter dieser gottverdammten ›Isolation‹, ohne zu wissen, was das wirklich ist. Wie es sich wirklich anfühlt, plötzlich ganz allein zu sein, von allen verlassen und niemand mehr da. Ich hingegen weiß, von was ich rede, wie es sich anfühlt und wie es einem dabei geht.«

Wollte er nicht eigentlich beichten? Zu spät, er redete schon weiter, bevor der Pastor nachfragen konnte.

»Was Isolation wirklich ist, musste ich schon lange vor der Pandemie erfahren. Als die Polizei bei mir vor der Tür stand, mit eindeutigem Gesichtsausdruck, Mütze in der Hand und Psychologin dabei. Meine Frau und meine Tochter wollten nur eben schnell noch etwas zum Abendessen einkaufen und hatten das mit einer Radtour verbunden. Was dieser Mensch wollte, der mit irrsinnig überhöhter Geschwindigkeit, vermutlich angetrunken und ohne jegliche Rücksichtnahme über die Landstraße bretterte, habe ich nie erfahren. Wahrscheinlich einfach nur seinen Führerschein behalten, sonst hätte er die beiden nicht dort liegenlassen. Schwerverletzt, allein in ihren letzten Minuten und ohne einen Notarzt, der sie wahrscheinlich hätte retten können.«

O’Deele griff nach einer neuen Zigarette. Hölle, der Mann hatte recht. Seine Familie zu verlieren, und das auch noch unter solchen Umständen, war etwas ganz Anderes als ein paar Wochen auf Sozialkontakte zu verzichten. »Das tut mir sehr leid. Wenn ich Ihnen ...«

»Sie können mir weiter zuhören, ich sagte ja, ich habe etwas zu beichten.«

Oh Gott, ihm schwante ein schlimmer Verdacht. »Haben Sie den Unfallfahrer gefunden?«

»Leider nein. Aber das spielt keine Rolle. Die Sünde eines Menschen ist die Sünde aller Menschen, universal, zeitlos und in alle Ewigkeit. Es war ein Mensch, der mir die Isolation zeigte, und so musste ich sie auch einem anderen zeigen. Einem guten Menschen, wie auch ich einst ein guter Mensch war. Ein zufälliges Opfer, wie auch ich zufällig vom Schicksal getroffen wurde, von der Fahrerflucht und der Ungnade des dreieinigen Gottes.«

Dreiergruppen. Jetzt fiel es ihm auf. Der Kerl redete ständig in Dreiergruppen. Der war nicht nur depressiv und verzweifelt, der musste richtig gestört sein. Zumindest war das keine spontane Erzählung, es wirkte wie einstudiert. »Was um Gottes Willen haben Sie getan?« Fast bereute er die spontan gestellte Frage, O’Deele hatte die böse Vorahnung, dass er die Antwort gar nicht hören wollte.

»Ich habe die Ausgangssperre verletzt und einem Menschen einen Besuch abgestattet, um das Equilibrium wiederherzustellen, die Tat zu vergelten und jemandem die Isolation deutlicher zu zeigen, als sie je ein Mensch erfahren hat. Mein Opfer hörte mich kommen, und wusste, was ihm bevorstand, aber da war es bereits zu spät. Selbst eine Waffe hätte ihm nichts genützt, denn ich schaltete das Licht aus und trug ein Nachtsichtgerät. Außerdem hatte ich jene drei Werkzeuge bei mir, die ich für die perfekte Isolation brauchte. Eine Axt, einen Schraubenzieher und Kabelbinder.«

O’Deele unterdrückte den Impuls, sofort aufzulegen. Das war keine offizielle Beichte am Telefon und er damit keinem Beichtgeheimnis unterworfen. Wenn der Kerl jetzt einen Mord gestand, könnte jeder Hinweis für die Polizei wichtig sein. Er musste weiter zuhören, ihm blieb keine Wahl.

»Der erste Schlag traf den rechten Arm, nachdem ich mein Opfer zu Boden geworfen hatte. Dreimal musste ich zuschlagen, ich hatte sowas ja noch niemals gemacht. Ironischerweise war ich selbst mal Rettungssanitäter und hatte Menschen bisher immer nur geholfen. Aber wenigstens wusste ich daher, wie ich mit einem Kabelbinder sowohl das Verbluten als auch eine chirurgische Wiederverbindung verhindern konnte. Die anderen drei Extremitäten ließen sich dann leichter vom Körper trennen. Man lernt schnell dazu.«

O’Deele musste einen Würgereiz unterdrücken. Gott, einfach auflegen. Er konnte nicht, wie erstarrt umklammerte er das Telefon und lauschte dieser Stimme, die ihn immer tiefer in die Hölle hinabzuziehen schien.

»Ich betrachtete mein Werk und ich sah, dass es gut war. Vor mir lag die zerstörte Schöpfung Gottes. Der Körper, eigentlich ein Gefährt für die Seele, jetzt nur noch ein Torso mit einem Kopf und damit der Seele ein Gefängnis. Aber ein Gefängnis war mir nicht genug. Ich wollte einen Kerker, einen tiefen, dunklen und stillen Kerker, der für immer diese Seele von dieser Welt isolierte. Ich griff nach dem letzten Werkzeug. Ein simpler Schraubenzieher für die meisten, für mich ein Zauberstab der Isolation und unheiliges Anathema für mein Opfer. Zuerst drang ich in sein linkes ...«

Genug! Es war genug, es reichte! O’Deele ließ das Telefon sinken, er konnte nicht mehr zuhören. Sein Herz raste und er bekam kaum noch Luft. Er schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Dann der rettende Gedanke. Wenn ein solch bestialisches Verbrechen irgendwo in seiner Gemeinde passiert wäre, oder auch nur irgendwo in ganz Irland, hätte er doch davon hören müssen. Er holte tief Luft und legte alle verbleibende Kraft in seine Stimme. »Sie haben das nicht wirklich getan.«

»Nein, habe ich nicht.«

Wut stieg in ihm empor. »Und warum rufen Sie mich dann mitten in der Nacht an, um mir sowas zu erzählen? Wenn das Ihre Idee von einem Scherz ...«

»Ich scherze nicht. Ich sagte doch, ich habe zu beichten.«

»Nur eine Mordfantasie?«

»Es heißt, der Gedanke ist die Sünde, nicht die Tat selbst. Also muss ich die Sünde beichten, auch ohne die Tat ...«

O’Deele lachte hysterisch, er konnte nicht anders. »Und deshalb rufen Sie mich mitten in der Nacht an und erschrecken mich fast zu Tode? Was denken Sie eigentlich, wie ich ...«

Die Stimme des Anrufers blieb emotionslos und ernst. »Ihre Sorge ist absolut berechtigt, Sie haben mich nicht ausreden lassen. Ich habe die Tat noch nicht begangen, aber ich stehe kurz davor. Genauer gesagt im Keller meines Opfers, vor dem Sicherungskasten, die Axt gut isoliert in der Hand und bereit, zuzuschlagen. Noch ahnt der Mann nicht, was ihm passieren wird, er hat mich nicht einbrechen hören und ...«

»Sie brauchen Hilfe«, schrie O’Deele.

»Nein danke, ich denke, ich schaffe das ganz allein. Der Mann ist schon etwas älter und wird mir kaum davonlaufen können. Wir sind jetzt hier am Telefon fertig, ich habe ein Werk zu vollbringen.«

O’Deele hörte das Splittern von Glas, und es war das Schrecklichste, das er je gehört hatte. Wie eine Offenbarung der Hölle. Denn es war nicht das digital übertragene Geräusch aus dem Hörer, das ihm diese nie gefühlte, absolute Angst durch den Körper trieb, sondern das reale, von unten kommende.

Die Lampen verloschen, der Bildschirm wurde schwarz und nur das silberne Mondlicht schien von draußen matt durch das Fenster, kalt und trostlos, als wolle es eine entsetzliche Zukunft vorwegnehmen.

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