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Leonardos Alien

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Hildegard Schäfer

Der Mann ihr gegenüber schaute interessiert zu, wie sie die verschiedenen Bestandteile des Essens an den Tellerrand schob: Pilze, Mais, kleinste Stückchen Ananas. Die Portion, die übrigblieb, wurde immer kleiner. Sie aß langsam und vorsichtig und kaute gründlich und lange.

Der Mann legte sein Besteck zur Seite und fragte sie: »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich so neugierig frage. Mögen Sie die weggeschobenen Sachen nicht oder können Sie sie nicht vertragen?«

Elinor warf einen schnellen, abschätzenden Blick auf den älteren weißhaarigen Herrn, der ihr ein so gütiges Lächeln schenkte, dass sie gewillt war, ihm zu antworten.

Bei diesem Vortrag mit anschließendem Bankett waren nur Ärzte geladen. Eine befreundete Chirurgin überließ ihr die Einladungskarte, weil sie sich nicht für Gastroenterologie interessierte und hoffte, dass Elinor vielleicht dort für sie Interessantes hörte, was ihr weiterhelfen könne.

»Ich vertrage das alles nicht, obwohl ich es sehr gerne essen würde«, meinte sie zwischen zwei Bissen. »Sind sie Gastroenterologe?«, fragte sie neugierig.

Er reichte ihr wortlos eine Visitenkarte über den Tisch. Hektor Minnen, Institut für gastroenterologische Forschungen. Die Karte war mit einem keltischen Bandmuster umrahmt: Linien, die aussahen, als würden sich drei Schlangen umeinander schlängeln.

Elinor las die Anschrift und schaute ihn überrascht an. »Das ist in meiner Stadt, ich kenne die Straße. Ich habe noch nie von Ihnen gehört. Sind sie erst kürzlich dorthin gezogen?«

»Nein, aber meine Mitarbeiter und ich arbeiten meist ohne Patienten. Wir forschen überwiegend. Und Sie sind hier aus fachlichem Interesse oder aus persönlichem, vermute ich, wenn ich ihr Stochern im Essen so sehe?«

Elinor seufzte tief: »Ich gehöre zu den Patienten, an denen sich die Magen-Darm-Spezialisten die Zähne ausbeißen. Deshalb bilde ich mich privat weiter. Wenn sie wüssten, was ich schon alles ausprobiert habe. Gehen Ihre Forschungen in Richtung Psychosomatik, Naturheilkunde? TCM, Homöopathie? Oder noch anderes? Hören Sie auf Medizinmänner oder beschränken Sie sich auf die Schulmedizin?«

»Wir gehen verschiedene Wege, es gibt so manches zwischen Himmel und Erde …«, räusperte er sich. »Wie lange haben Sie ihr Leiden denn schon?«

Elinor hatte das Gefühl, dass sich endlich jemand mit aufrichtigem Interesse für ihre jahrelangen Darmbeschwerden interessierte. »Viel zu lange«, platzte es aus ihr heraus, »ich glaube, bei mir ist Hopfen und Malz verloren. Nichts hilft mehr, all meine konsultierten Ärzte beschränken sich nur noch darauf, die Schmerzen zu lindern.«

Er schaute sie fest an: »In unserem Institut studieren wir gerade einen sehr vielversprechenden Ansatz, etwas ungewöhnlich zwar, aber wir wären nicht abgeneigt, einen Probanden zu bekommen. Überlegen Sie sich in aller Ruhe, ob Sie das interessiert, ob Sie dazu bereit wären.«

Bereit wären, bereit wären, ihr Herz hüpfte vor Freude. Sollte es doch etwas geben, was ihr helfen könnte?

Dem Termin zwei Tage später fieberte sie entgegen. Die Stadt vertrocknete unter der Hitze des Tages. Die Luft flirrte. Beinahe wäre sie an dem kleinen Haus vorbeigelaufen, das von der Straße aus nicht einsehbar war. Auch das kleine Schild neben dem Klingelknopf fiel nicht auf. Es bestand aus Messing, um den Institutsnamen war das bekannte Band eingraviert. Sie schritt durch einen gepflegten, duftenden Rosenbogen auf das altertümliche Fachwerkhaus zu.

Herr Minnen öffnete freudig die grüne Holztür. »Willkommen, schön, dass Sie zu uns gefunden haben. Ich glaube, Ihnen kann ebenso geholfen werden wie mir damals. Wir haben die Sendung heute Morgen bekommen.«

Sie folgte ihm in ein kleines Zimmer, schaute sich um. Erstaunt betrachtete sie ein großes Terrarium, das den Raum beherrschte. Eine gelb-blau fluoreszierende Schlange lag regungslos auf einer Astgabel und fixierte sie, nachdem sie Platz genommen hatte.

»Ein ungewöhnliches Hobby für einen Mediziner. So ein Wesen habe ich noch nie gesehen, aber solche Tiere liegen mir auch nicht.« Sie schüttelte sich leicht.

Herr Minnen betrachtete sie besorgt: »Sie sagten doch, die Schulmedizin und alle anderen Versuche hätten Ihnen nicht geholfen?« Er machte eine lange Pause und Elinor schaute ihn irritiert an.

»Luzie kann das vielleicht.«

Er setzte sich hinter den Schreibtisch.

»Wer ist Luzie?«

Ein kurzes Nicken zu der Schlange hin ließ sie erschreckt zusammenzucken.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich bitte Sie, mir ohne Vorbehalte zu glauben. Eine von Luzies Art hat mir geholfen, ich bin jetzt gesund und nicht nur das. Erinnern Sie sich an die Bibelgeschichte von der Schlange im Paradies? Sie versprach Erkenntnis, wenn …« er hielt inne, fasste ihren Blick und ließ ihn nicht los »man sie isst.«

»Iih, wie eklig, da wollen Sie dieses arme Tier töten – außerdem war es der Apfel vom Baum der Erkenntnis, nicht die Schlange.«

»So sagt man, man sagt so Vieles, wenn man etwas nicht versteht. Ich kann Sie beruhigen, das Tier braucht nicht zu sterben.«

»Und wie soll man sie essen? Oder habe ich mich verhört?«

Nu sprudelte es aus dem Mann heraus, er wirkte nervös: »Mit einer leichten Betäubung bekommen Sie gar nichts davon mit. Luzie findet den Weg durch die Speiseröhre in den Darmtrakt von ganz allein. Sie ist ja auch nicht so groß. Und dort geht sie eine Symbiose mit Ihnen ein, sie verändert sich sogar so, dass sie fast ein Teil des Darms wird – Sie werden nie wieder Probleme haben. Ich wiederhole mich, mir ist auch so geholfen worden.«

»Sie haben da so ein Ding im Bauch? Das kann ich nicht glauben!« Elinor schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht, dann stand sie auf. Entrüstet starrte sie auf die Schlange, die ihre Position verändert hatte und nun zu einem Kreis gerollt auf dem Sand lag. Der zierliche Kopf in der Mitte hatte keine erkennbare Mundöffnung. Die Augen – es waren nicht die Augen einer Schlange. Es waren schöne, goldfarbene Pupillen mit dem gleichen Ausdruck von Güte, wie sie Herr Minnen besaß, der sie jetzt flehend anschaute.

»Sie braucht Wochen, bis sie mit Ihnen verschmilzt. Es gibt nur noch so wenige von ihnen. Sie werden es nicht bereuen, sie profitieren davon, es ist kaum zu beschreiben, dieses Gefühl des Einsseins. Die Erkenntnisse strömen Ihnen nur so zu.«

Leicht spöttisch warf sie ein: »Ach ja, Leonardo da Vinci hatte also auch so einen Alien gegessen?«

Verstimmt erwiderte er: »Vielleicht, durchaus möglich. Es gibt da so einige Geschichten. Ich muss Ihnen noch sagen, dass es eine gewollte, freiwillige Beziehung sein muss und zwar von beiden Seiten. Könnte ja auch sein, dass Luzie Sie ablehnt.«

Kopfschüttelnd und enttäuscht verließ sie ohne ein weiteres Wort das Haus. Ging auf die graue, staubige Straße. Die heiße Schwüle des Nachmittags umschloss sie. ‚Da bin ich so einem Spinner aufgesessen, schade, er machte wirklich einen sympathischen Eindruck. Und diese Schlange, ein merkwürdiges Wesen’ sinnierte sie. Elinor lehnte sich an einen Baum und dachte an ihren Besuch, das Gespräch und dieses Tier. Sie wurde still.

Langsam perlte eine Stimme wie Wassertropfen in ihr Bewusstsein: »Schade, wir hätten uns gut verstanden. Du gefällst mir. Beim nächsten Schub wirst du an mich denken. Ich hätte dir helfen können.«

Sie fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und blieb stehen. Lange blieb sie so stehen. Es begann prasselnd zu regnen, sie merkte es nicht. Ein tiefer Atemzug, es roch plötzlich nach wiedererwachter Frische und nach Blumen – nach Rosen. Langsam löste sie sich vom Baum und ging mit entschlossenen Schritten zurück.

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