Читать книгу 24 neue kurze Albträume - Группа авторов - Страница 7

Ohrwurm

Оглавление

Stefan Zumkehr

Der Zustand der Wohnung lässt Eugen zu dem Schluss kommen, dass Herr Kaiser schon lange keinen Besuch mehr hineingelassen hatte. Überall liegen Müll, Papiere, vergammelte Lebensmittel und leere Bierflaschen herum; trotz der inzwischen weit geöffneten Fenster riecht es nach Urin und altem Schweiß.

Nebenan in der Küche sind die Entrümpler lautstark am Werke. Das Arbeitszimmer, in dem Eugen steht, soll zuletzt geräumt werden. Von allen Räumen macht es den saubersten Eindruck, von den dunkelbraunroten Blutflecken auf dem Teppich mal abgesehen. Neben den Flecken stehen die bezifferten Schildchen der Spurensicherung, mittendrin der Umriss des Messers, das Herr Kaiser für seine Tat verwendet hat und das jetzt auf dem Revier liegt. Sich selbst mit der eigenen abgeschnittenen Zunge ersticken, keine schöne Vorstellung.

Der Tote ist Lehrer für Geschichte und Erdkunde gewesen. Die Wände des Arbeitszimmers – mit Karten, Zeitungsausschnitten, Bildern von fremden Orten und historischen Kunstwerken behängt – bestätigen ein nicht nur berufliches Interesse an beiden Disziplinen. Auf dem riesigen Schreibtisch vor dem Fenster türmen sich Stapel von Papieren rund um die einzige freie Stelle auf der Arbeitsplatte, in deren Mitte sich eine grazile Figur gegen das Chaos erhebt. Eugen hat nichts Besseres zu tun, daher setzt er sich auf den Stuhl am Tisch und besieht sich das Kunstwerk genauer. Es zeigt eine Frau in einem fließenden Gewand mit Blumen im Haar. Sie ist aus fein geädertem schwarzen Marmor gearbeitet und obwohl sie jugendlich wirkt, hält sie sich ein Hörrohr ans rechte Ohr. In der linken Hand trägt sie ein entrolltes Pergament, auf dem impero oboedis geschrieben steht. Eugen weiß nicht, was das heißt, es muss Latein sein. Neben dem Kunstwerk liegen die Überreste einer weiteren Figur, das Gegenstück zu der Frau: In den Bruchstücken aus weißem Marmor erkennt er das Gesicht eines Jünglings mit weit aufgerissenem Mund, so als wolle er ihm etwas zurufen. Eine der vom Körper abgetrennten Hände hält ein Sprachrohr. Der Gedanke, dass die Entrümpler die Figur der Frau wie den Rest von Herrn Kaisers Habseligkeiten in den Sperrmüllcontainer vor dem Haus schmeißen, kommt Eugen falsch vor. Obwohl es ihm missfällt, sich am Nachlass des Toten zu bereichern, steckt er sie sich trotzdem in die tiefe Tasche seines Hausmeisterkittels.

»Die hab ich dir mitgebracht, ist sie nicht wunderschön?«, sagt Eugen und stellt die Figur zuhause auf den Küchentisch.

Seine Frau Lydia blickt von ihrer Illustrierten auf und rümpft die Nase. »Die ist doch aus der Wohnung des Selbstmörders, oder?«

»Und wenn schon, einmal mit dem Putzlappen drüber und sie ist so gut wie neu.«

Am Abend, als sie gemeinsam vor dem Fernseher sitzen und Eugen zärtlich die Arme um Lydia legt, steht die Figur in der Vitrine im Wohnzimmer. In der hintersten Ecke steht sie, dort wo Lydia sie nicht sehen kann, als ihr Mann sie küsst.

In der Nacht schläft Eugen schlecht. Ihm hängt der Gestank der geräumten Wohnung in der Nase, der sich in seine Träume stiehlt und ihm mitternachtsschwarze Bilder beschert, in denen verschwommene Kreaturen sich in den Schatten winden. Schweißgebadet wacht er auf aus diesen Träumen. War da nicht ein Geräusch? Doch es ist still in der Wohnung. Lydia neben ihm atmet ruhig und schläft fest. Eugen dreht den Kopf, 03:20 steht dort in glutroten Ziffern auf dem Wecker. Vor dem Gerät windet sich auf dem weißen Häkeldeckchen ein fingerlanger Wurm in seine Richtung. Eugen hält den Atem an, als das feucht schimmernde Tier sich ihm suchend entgegenstreckt und versucht, die Distanz zwischen Bett und Tisch zu überwinden. Wellen durchzucken den immer länger werdenden Leib, bis er es auf das Laken schafft und den restlichen Körper hinterherzieht. Eugen will zurückweichen, die Hand nach dem Lichtschalter ausstrecken und die widerliche Kreatur beseitigen, doch kann er sich nicht rühren, nur seinen Blick weiter starr auf den Wurm richten, der seinem Gesicht immer näher kommt. Als das Tier nur wenige Zentimeter vor seinen Augen verharrt und sein dickeres Kopfende hebt, blickt Eugen auf einen lippenlosen Mund mit nadelspitzen Zähnen. Gleich darauf verschwindet dieses Höllenmaul wieder aus seinem Blickfeld, der Wurm berührt damit seine Stirn, so als wolle er ihn dort küssen. Eugen fühlt, wie das Tier sich weiter auf ihm bewegt, spürt die Muskelkontraktionen des Fremdkörpers, der sich zusammenzieht und wieder streckt, zusammenzieht und wieder streckt, und sich so seinem Ohr nähert. Am Ziel angekommen tastet sich der Wurm mit kaltem Leib in sein Gehörgang und windet sich immer tiefer hinein, bis es Eugen endlich gelingt zu schreien.

»Was ist los?«, fragt Lydia schlaftrunken und reibt sich wegen des plötzlich eingeschalteten Lichts die Augen.

Eugen sitzt aufrecht im Bett, die Haare kleben nass auf seiner Stirn, eine Hand hat er am Lichtschalter. Er antwortet nicht, sondern fährt sich mit zittrigen Fingern durchs Gesicht, prüft die Haut dort, wo der Wurm gekrochen ist. Doch da ist nichts und sein Ohr fühlte sich an wie sonst auch.

»Schon gut«, presst er hervor. »Alles in Ordnung. Ich hatte wohl einen Albtraum.«

»Dann mach das Licht aus, es ist noch früh.« Lydia dreht sich um und rollt sich auf ihrer Seite des Bettes zusammen.

Eugen streichelt ihr über den Hinterkopf, spürt ihr weiches Haar, dann löscht er das Licht. Er sitzt noch so lange aufrecht im Bett, bis sein Herzschlag sich beruhigt hat.

Auf dem Wecker leuchtete es 03:20.

Am Frühstückstisch fühlt Eugen sich wie gerädert, in seinem Kopf pocht es und ihm ist schlecht. Ungefragt stellt Lydia ihm ein Glas mit Wasser hin, in dem eine Kopfschmerztablette sich sprudelnd auflöst. Als das Wasser wieder still ist, kippt Eugen den Inhalt hinunter und hofft auf das Einsetzen der Wirkung.

Plötzlich lacht jemand.

»Was ist daran witzig?«, fragt Eugen.

»Wie bitte?« Lydia gegenüber am Tisch zieht eine Augenbraue hoch.

»Na, warum lachst du mich aus?«

»Ich habe nicht gelacht, wo denkst du hin?«

Eugen runzelt die Stirn und sieht sich um. Weder das Radio auf dem Kühlschrank noch der kleine Fernseher unter dem Hängeschrank sind eingeschaltet, das Fenster ist fest geschlossen. Trotzdem hört er ein Lachen, lauter diesmal, Lydia scheint es nicht zu bemerken.

Sie hat mich zerbrochen!

Eugen fährt herum, direkt in sein Ohr hat die Stimme gesprochen, doch da steht niemand hinter ihm.

»Was ist los mit dir? Hast du was Komisches gegessen?« Lydia sieht ihn mit schimmernden Augen an, er kennt diesen Blick; sie macht sich Sorgen.

»Nein, es ist nichts. Ich gehe jetzt lieber zur Arbeit.« Eugen steht auf und zieht auf dem Flur seine Jacke über, schnappt sich seinen dicken Schlüsselbund und geht ohne ein Wort des Abschieds, er vergisst sogar den Kuss an der Tür. Das Lachen verfolgt ihn, die Stimme flüstert immer wieder: Sie hat mich zerbrochen!

Und im Laufe des Tages kommt ein weiterer Satz hinzu.

Du musst sie töten!

»Eugen, irgendetwas ist mit der Figur passiert, schau mal.« Lydia hält ihm ein Kehrblech mit den Überresten der marmornen Frau entgegen.

Sie hat mich zerbrochen, du musst sie töten!, flüsterte die Stimme.

»Ist sie dir runtergefallen?«, fragt er Lydia, die Stimme ignorierend.

»Nein, sie war schon kaputt als ich ins Wohnzimmer kam. Und schau mal, da muss irgendetwas drin gewesen sein.«

Lydia dreht eines der Bruchstücke und tatsächlich weist die Figur einen Hohlraum auf.

Glaub ihr nicht, sie hat mich zerbrochen. Dafür muss sie sterben!

Eugen schüttelt den Kopf wie ein wildes Tier.

»Nein, das kann nicht sein! Sie sagt die Wahrheit!«, ruft er.

Die Stimme lacht nur.

»Natürlich sage ich die Wahrheit!«, entrüstet sich Lydia. »Soll ich den Mist jetzt wegwerfen oder willst du ihn kleben?«

Eugen nimmt ihr das Kehrblech ab und legt es vor sich auf den Tisch. Behutsam und beinahe zärtlich streicht er über das fahle Gesicht der Frau, die milde lächelt. Für einen Augenblick läuft ihm ein Schauer über den Rücken und die Stimme schweigt. Vorsichtig legt Eugen den Kopf zur Seite und untersucht die restlichen Bruchstücke.

»Was ist dein Geheimnis?«, fragt er und fürchtet sich vor der Antwort, doch die Stimme lacht nur wieder. »Hör auf zu lachen!«, brüllt er, nimmt den Kopf der Figur und schleudert ihn von sich. Krachend knallt er gegen einen der Hängeschränke und fällt zu Boden.

Erschrocken schreit Lydia auf, dann verschränkt sie die Arme vor der Brust, lehnt sich schluchzend an die Spüle.

»Was ist bloß los mit dir?«, wimmert sie, dreht sich mit bebendem Rücken von ihm weg und lässt Wasser für den Abwasch in das Becken laufen.

Sie hat recht, du musst sie endlich töten, dann ist es vorbei!

„Nein!“, schreit Eugen und schlägt mit der Faust auf den Küchentisch. Was die Stimme auch befielt, er wird nicht klein beigeben. Eugen senkt den Kopf und stützt ihn in seine Hände. Wenn er nur fest genug die Augen schließt und mit den Zähnen knirscht, verschwindet die Stimme vielleicht. Doch stattdessen lacht sie ihn immer weiter aus. Und dann ist da plötzlich dieses Bild in seinem Kopf, wie er Lydia am Genick packt und im Abwaschwasser ertränkt ...

Mit zittrigen Beinen steht Eugen auf. Um ihr beim Abwasch zu helfen, greift er nach dem Trockentuch über der Heizung. Sie mag es, wenn er ihr hilft, das weiß er genau. Ob sie sich wohl mit dem Tuch erwürgen lässt?

Töte sie, jetzt ist die Gelegenheit da!

Eugen schüttelt den Kopf und versucht, sich auf das Glas in seinen Händen zu konzentrieren. Als er es fertig trockengerieben und in den Schrank gestellt hat, atmet er schwer. Er greift nach dem nächsten abgewaschenen Gegenstand und hat da plötzlich dieses nasse Messer in seiner Hand, so eines wie Herr Kaiser benutzt haben muss.

Stoß es ihr ins Herz, töte sie!

Die Stimme in seinem Kopf lacht und Eugen fühlt seinen Widerstand bröckeln. Es wäre so einfach. Er muss ihr das Messer in seinen verkrampften Fingern nur zwischen den Rippen hindurchstoßen.

Tu es, dann ist es vorbei!

Eugen hebt den Arm, setzt zum Stoß an, rammt das Messer aber im letzten Moment in die Hängeschranktür über dem Kopf seiner Frau.

Lydia schreit, als ihr Blick auf die Klinge fällt. Sie springt zur Seite, rutsch auf dem nassen Boden aus und sinkt vor der Spüle zusammen. Sie weint. Ihre Hände, von denen der Schaum tropft, zittern vor dem ängstlich verzogenen Mund und den aufgerissenen Augen. Bei ihrem Anblick bricht ihm das Herz. Es gibt keine Rettung mehr.

Nun mach schon, töte sie endlich und es ist vorbei.

Eugen nickt, er wird es beenden, jetzt sofort.

Im Keller öffnet er den Werkzeugschrank und findet, wonach er sucht. Prüfend misst Eugen den Bohrkopf und spannt ihn ein, zieht ihn mit dem Schlüssel fest. Während oben in der Wohnung Lydia die Polizei alarmiert, steckt er das Kabel der Bohrmaschine ein. Der Neuner Bohrkopf passt genau in sein Ohr.

Die Stimme lacht.

24 neue kurze Albträume

Подняться наверх