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Der Zweifel
ОглавлениеViktoria Doll
Was ist die Wirklichkeit? Was kann ich wirklich wissen? Träume ich oder bin ich wach? Wer bin ich? Existiere ich überhaupt?
Der Zweifel nagt an mir. Da ist ein Baum. Doch existiert dieser Baum? Ich kann ihn sehen. Ich höre seine Blätter im Wind rascheln. Wenn ich ein paar Meter gehe, kann ich ihn berühren und an ihm riechen. Doch wer sagt mir, dass meine Sinne die Wirklichkeit widerspiegeln? Vielleicht betrügen sie mich, vielleicht ist das alles gar nicht echt. Was, wenn es in der Welt gar nichts Echtes wahrzunehmen gibt? Vielleicht existieren ja nicht einmal meine Sinne. Ich bewege mich durch Raum und Zeit – das habe ich zumindest früher geglaubt. Vielleicht bewege ich mich überhaupt nicht. Vielleicht existiere ich nicht einmal. Es zerfrisst mich von innen, dass ich überhaupt nichts wissen kann.
Ich schaue an mir herunter. Bauch, Beine, Hände, Geschlecht. Alles da. Die Leute sagen, ich soll auf meine Hände schauen, wenn ich nicht sicher bin, ob ich träume oder wache. Ich schaue auf meine Hände und zweifle noch mehr als zuvor. Sind das meine Hände? Irgendwie sehen sie komisch aus. Sahen sie gestern wirklich genauso aus? Vielleicht ist das ja der Beweis, dass ich träume. Der rechte Ringfinger ist ein bisschen krumm. Ich habe doch keine krummen Finger! Oder etwa doch? Habe ich überhaupt Finger? Wahrscheinlich ist alles Körperliche nur eine Einbildung und es ist alles nur Show, ein großes Theaterstück in meinem Gehirn. Wenn ich denn ein Gehirn habe.
Wie komme ich aus dieser Geschichte wieder heraus? Der Zweifel hat mich gepackt, und er ist allgegenwärtig. Gestern habe ich mir gewünscht, ich wüsste nichts von diesem Zweifel. Dachte, eine höhere Macht will mich quälen und gibt mir deswegen diesen Zweifel. Heute aber weiß ich, wozu er gut ist. Es ist genau andersrum. Die da oben wollen nicht, dass ich etwas von dem Zweifel weiß. Das ist alles ein großer Test. Und ich kann den Test nur deswegen bestehen, weil ich den Zweifel kenne.
Die Leute sagen, durch Schmerz könne man aufwachen. Ich beiße mir in die Hand. Es schmerzt. Meine angeblichen Sinne funktionieren. Der Schmerz lässt mich aufwachen. Ich stehe immer noch vor diesem Lügenbaum. Die da oben denken, dass ich jetzt überzeugt bin, dass das kein Traum ist. Dass das echt ist, was ich sehe. Ha! Ich bin schon längst einen Schritt weiter! Das Ablenkungsmanöver klappt. Ich fange an zu rennen und halte die Luft an. Die Leute sagen, man könne sich nicht selbst durch Luftanhalten töten. Überlebensreflex und so. Aber ich, ich kann das wohl! Das ist alles nicht wirklich, also muss es funktionieren. Mir wird schwindelig. Ich falle. Ich atme. Verdammt!
Diese eingebauten Sicherheitsmechanismen sind ganz schön vertrackt. Es ist nicht so leicht, sich selbst zu töten. Aber da gibt es Mittel und Wege. Und nur so kann es funktionieren. Wenn ich gar nicht existiere – was passiert dann, wenn ich diese leere Hülle töte? Logischerweise müsste ich doch damit den Test bestehen und die Wahrheit erfahren. Nur wer mutig genug ist, sich selbst zu töten, kann einer von ihnen werden. Das ist es! Das ist des Rätsels Lösung!
Ich kehre zurück zu meinem Lügenbaum. Die Rinde ist spröde und ich reiße ein Stück ab. Ganz schön scharfkantig. Genau das Richtige für meine Zwecke. Ich teste das mal an meinem Bauch. Ich sehe Blut und fühle Schmerz. Die Lügensinne funktionieren immer noch. Und ich befinde mich immer noch in diesem Traum, aus dem ich nicht aufwachen kann. Nur durch die Auslöschung meiner sogenannten Existenz kann ich den Ausweg finden und die Wahrheit erfahren! Ich setze also an meinem Handgelenk an und schneide tief, tief hinein. Fühlt sich gut an. Ich komme meinem Ziel näher. Jetzt müssen sie mich als einen der ihren akzeptieren!
Ich sacke zu Boden und höre die Leute kommen. Ein Stimmengewirr um mich herum, ich kann kein Wort verstehen. Aber das ist egal, ich bin auf dem Weg. Auf dem Weg raus aus diesem Albtraum, rein in die Wirklichkeit! Meine Sinne schwinden. Sie waren ohnehin nicht echt. Gleich wird mich das Nichts aufnehmen und ich werde in der Wirklichkeit erwachen. Bei meinesgleichen. Bei denen, die auch den Test bestanden haben. Was für ein erhebender, wundervoller Moment!
Ich wache auf. Bewegen kann ich mich nicht. Ein grelles Licht scheint mir in die Augen. Es tut weh. Wie kann das sein? Diese verdammten Lügensinne sind immer noch da und versuchen mich zu täuschen. Langsam erkenne ich die Umgebung um mich herum. Ein Fenster. Ein Vorhang. Ein Bett. Fixierungsgurte. Ein Verband. Eine Infusion. Eine Tür. Das ist nicht die Wirklichkeit. Sieht ganz nach Level zwei aus. Alles klar. Kein Problem. Ich bin bereit!