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Jörg Weigand: Die andere Welt

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»Meister, ich habe eine Frage!«

Abrupt wurde Li T’ai-p’o aus seiner morgendlichen Meditation am Ufer des T’ung-t’ing-Sees gerissen.

»Was ist?« Er war verärgert, denn diese Stunde allein mit der Natur war ihm heilig. Normalerweise reagierte Li T'ai-p'o nicht so heftig auf eine Frage seiner Schüler; doch jeder unter ihnen wusste, wie wichtig ihm gerade diese kurze Zeit der Besinnung war. Nun hatte Kuang Ling-ling dagegen verstoßen; er verdiente eigentlich nicht, dass ihn der Meister so barsch anfuhr, denn er war zwar erst seit Kurzem hier am See, dennoch gehörte er bereits zu den Gelehrigsten und Wissbegierigsten.

T’ai-p’o bereute bereits seine harte Replik, daher deutete er neben sich: »Setz dich und sage mir, was du auf dem Herzen hast!«

Kuang Ling-ling stammte aus einer alten Beamtenfamilie, die in der südlichen Hauptstadt einen guten Namen und viel Einfluss besaß. Die Mitglieder dieses Clans waren absolut kaisertreu; jeder zweite männliche Spross machte innerhalb des Militärs Karriere, der Rest mehrte als Kaufleute die Besitztümer der Familie.

Nur Ling-ling war aus der Art geschlagen, wie sein Vater mit Bedauern feststellen musste, als sein Erstgeborener sich an den T’ung-t’ing-See verabschiedete, um sich einem seltsamen Eigenbrötler anzuschließen, über den man die absonderlichsten Dinge hörte. Der Sohn freilich fand Meister Li durchaus nicht seltsam oder sonderbar. Er hatte sich innerhalb kürzester Zeit eingelebt und war sehr zufrieden, dass Li auf alle Fragen intensiv einging, die ihm seine Schüler stellten.

Nachdem er seinen Lehrer derart aus seiner Gedankenwelt gerissen hatte, wagte der junge Mann nicht, die Frage zu stellen, die ihn gerade besonders bewegte. Meister Li spürte die Befangenheit und verstand, dass er die Initiative ergreifen musste.

»Nun, sag schon, was du für ein Anliegen hast!«

Trotz des Entgegenkommens seines Mentors zögerte Ling-ling, wagte aber schließlich dennoch, das Problem vorzutragen, mit dem er sich seit Tagen beschäftigte:

»Im ›Klassiker der geheimnisvollen Orte‹, das Ihr, Meister, uns zur Lektüre empfohlen habt, sind seltsame Örtlichkeiten erwähnt, die sich nicht auf dieser Welt befinden sollen, sondern im Jenseits, außerhalb unserer Wahrnehmung. Was hat es damit auf sich?«

Li T’ai-p’o kannte den Klassiker, den einstmals ein taoistischer Klosterabt verfasst hatte, sehr gut. Dass er dessen Lektüre empfohlen hatte, war in der Absicht erfolgt, seine Anhänger ein wenig von der Nabelschau zu lösen, in die so mancher zu fallen drohte. Dass dies aber nunmehr Ling-ling so sehr beschäftigte, machte ihn nachdenklich.

»Was genau willst du?«, fragte der Meister, dem es von Anfang an darum gegangen war, seinen Schülern zu helfen – bei allen Problemen, gleichgültig, worum es sich handelte.

»Ich möchte eine solche Welt einmal sehen«, sagte Ling-ling und Meister Li sah ihm an, dass er es ernst meinte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so etwas gibt. Falls aber doch, dann will ich das mit eigenen Augen anschauen!«

Meister Li überlegte, was er antworten sollte. Interesse an Unbekanntem und Neugier auf Neues waren Eigenschaften, die er dennoch zu schätzen wusste. Andererseits wollte er seine Schüler auch vor enttäuschenden Negativerfahrungen schützen.

»Sicherlich hast du in diesem Klassiker gelesen …«

Ling-ling nickte.

»… dann weißt du auch, dass es eine Möglichkeit gibt. Doch sie ist nicht jedem zugänglich.«

»Ich weiß, Meister, diese Götterpilze sollen helfen, eine Reise des Geistes zu unternehmen und diese Welten zu sehen.«

»Ich werde dir helfen«, versprach Li T'ai-p'o. »Mein Freund Su, der taoistische Eremit am Grünrot-Berg, hat mir verraten, wo es solche Pilze gibt. Beziehungsweise, wo diese Pilze in kleinen Mengen zu finden sind.«

»Oh, bitte, Meister! Wollt Ihr mir das nicht verraten …«

Meister Li zögerte nur kurz, dann sagte er: »Du findest den violetten Rettichhelmling am Fuße des nördlichen Felsplateaus jenseits des Sees. Und dann musst du Folgendes beachten.«

Er sah sich um; kein anderer seiner Schüler sollte das hören. »Und halte dich genau an die Anweisungen. Der Pilz selbst entscheidet, was du siehst und wohin dich diese Reise führt. Nun hör genau zu!«

Kuang Ling-ling war für einige Tage verschwunden, doch während die anderen Schüler sich wunderten oder gar sorgten, spielte auf Meister Lis Gesicht nur ein kleines Lächeln, wenn die Rede auf den Abwesenden kam. Bis Ling-ling wieder in ihrer Runde auftauchte, als sei nichts gewesen.

Meister Li freilich fiel auf, dass der junge Mann nachdenklicher als vor seinem Verschwinden wirkte. Er konnte sich natürlich auch irren, sagte er sich, bis Ling-ling am Abend vor seiner Hütte stand.

»Darf ich eintreten, Meister?«

Das klang fast verzagt, gleichzeitig aber auch entschlossen. Seltsam, dachte Li und bat seinen Schüler herein.

»Ich denke, du kannst mir etwas erzählen.«

Ling-ling saß zunächst schweigend, ehe es in einem Wortschwall aus ihm herausbrach:

»Ich habe mich genau an Eure Anweisungen gehalten, Meister, habe nur einen Pilz bei hellem Mondschein gepflückt und ihn anschließend klein gehackt meiner Reismahlzeit zugefügt. Ich habe das Gericht einen ganzen Tag lang ruhen lassen und es anschließend verzehrt. Was ich dann erlebt habe …«

Er verstummte und konnte sich offenbar nur mühsam zwingen, weiter zu reden.

»Nie wieder will ich so etwas sehen!«

»Was hast du denn gesehen?«

»Ich sah eine Welt … Wie kann es das geben? Eine Welt, ganz eingetaucht und geformt in die kaiserlichen Farben, in die Farben unseres T’ien-tse, unseres verehrungswürdigen Himmelssohnes. Eine Welt ganz in Gelb. Ausschließlich in Gelb. Gelb wie Schwefel. Entsetzlich.«

»Gelb ist eine Farbe der Weisheit und des Glücks. Ist es nicht wundervoll, dass es eine solche Welt gibt?«, fragte Li.

Kuang Ling-ling sah ihn skeptisch an.

»Gelb und Gold sind dem Kaiser vorbehalten. Wer als Bürger diese Farbe trägt, vergeht sich gegen göttliche Gebote. Gelb ist auch das Symbol der Macht. Und die ist des Kaisers. Es ist Blasphemie, sich mit Gelb zu schmücken, das haben mir meine geliebten Eltern beigebracht. Und eine ganze Welt in Gelb – das geht gar nicht.«

Er verstummte. Meister Li wartete geduldig.

»Nie wieder«, sagte Ling-ling, »will ich solche Welten sehen, die unseren verehrten Himmelssohn derart verhöhnen.«

Meister Li blieb stumm.

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