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Rüdiger Schäfer: Sonnenkuss

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Es ging viel zu schnell, als dass Kalia oder sie selbst hätten reagieren können. Der Schutzschirm flackerte nicht einmal; zumindest war mit bloßem Auge nichts wahrzunehmen. Als der schrille Alarmton durch die Steuerzentrale der ARWEN gellte, war eigentlich schon alles vorbei.

Ein heftiger Schlag erschütterte das Raumschiff. Leonie musste sich an ihrer Konsole festhalten. In den technischen Eingeweiden des umgebauten Frachters rumorte es.

»Treffer in der nordöstlichen Bugregion«, meldete Kalia. Ihre Stimme klang angenehm unaufgeregt, obwohl sie wissen musste, dass die ohnehin schon kritische Lage soeben aussichtslos geworden war. »Es hat eine der Energiebojen erwischt.«

Leonie starrte auf den Hauptbildschirm. Er zeigte ein diffus wirkendes Wabern in Gelb und Orange. Weißbraune Schlieren zogen sich wie ein Geflecht aus Venen und Arterien über die Oberfläche des Sterns, auf den die ARWEN mit stetig wachsender Geschwindigkeit zustürzte.

»Kommen die Drohnen damit klar?«, erkundigte sie sich ohne große Hoffnung.

Kalia warf ihr einen mitleidigen Blick zu. »Meinst du das ernst?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage. »Die paar Wartungseinheiten, die noch funktionieren, sind mit dem Antrieb beschäftigt. Alles andere muss warten.«

Leonie schüttelte den Kopf und justierte die Außenkameras. Sekunden später kam die beschädigte Boje in den Sichtbereich. Die Außenhaut der rund fünfzig Meter langen Speichereinheit war aufgerissen. Dichter Qualm quoll aus der Öffnung und wurde durch den Sonnenwind sofort weggerissen. Da draußen herrschten Temperaturen von mehreren Tausend Grad Celsius. Dort, wo der Sonnenfinger die ARWEN getroffen hatte, befand sich ein heller, in Weiß und Gelb glühender Fleck, der langsam größer wurde.

»Das sieht nicht gut aus«, stieß Leonie hervor.

»Was hast du erwartet? Der Schirm ist unten und lässt sich nicht mehr aktivieren. In ein paar Minuten ist auch die Ortung tot, weil uns die Hitze die Antennen wegschmilzt.«

Leonie erwiderte nichts. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie hatten alles riskiert und alles verloren.

Als sie vor drei Monaten von der Erde aufgebrochen waren, war sie voller Hoffnung gewesen. Ein offizieller Auftrag der Prospektorenbehörde – davon hätte sie nicht einmal zu träumen gewagt. Die Experten der Regierung waren gut. Sie schickten ihre Scouts nicht einfach auf gut Glück los. Die Koordinaten, die sie wenige Tage später erhalten hatte, waren somit praktisch unbezahlbar gewesen; ein satter Gewinn durch die zu erwartenden Prämien quasi garantiert.

Nun spielte das alles keine Rolle mehr. Die ARWEN würde nicht mehr zur Erde zurückkehren. Irgendwann würde man nachforschen, das Schiff auf die Vermisstenliste setzen, vielleicht sogar einen Satelliten losschicken, um es zu suchen. Vergeblich. Leonie hatte nicht einmal mehr einen Notruf absetzen können. Niemand würde jemals erfahren, was ihr und Kalia zugestoßen war.

»Wir haben noch einen Versuch«, rissen sie die Worte ihrer Partnerin aus den düsteren Grübeleien. »Wenn ich sämtliche Restenergie in die verbliebenen Schubdüsen lenke, und das Schicksal ausnahmsweise mal auf unserer Seite ist, könnte es gerade so reichen.«

Leonie hob matt den Arm, um ihr Einverständnis zu signalisieren. Sie sah zu Kalia hinüber. Trotz ihrer fast sechzig Jahre war sie noch immer eine schöne Frau. Die Zeit war gnädig zu ihr gewesen. Ihre langen, schwarzen Haare umrahmten ein Gesicht mit großen ausdrucksstarken Augen, einer schmalen Nase und vollen, sanft geschwungenen Lippen. Sie sah immer aus, als würde sie lächeln. Das hatte Leonie von Anfang an an ihr geliebt.

Ja, sie hatte Glück gehabt. Mit dem Leben. Und mit Kalia.

Die ARWEN schüttelte sich. Das Schiff war vor über hundert Jahren auf einer der Mondwerften im heimischen Sonnensystem gefertigt worden und seitdem wohl mindestens zwei Dutzend Male modifiziert worden. Das einzige, was noch aus Originalbauteilen bestand, waren der Antrieb und die Meilerbänke.

Zuletzt hatten Kalia und Leonie die Laboreinrichtungen erneuert. Eine nicht unerhebliche Investition, die sie einen Großteil ihrer Rücklagen gekostet hatte. Seit ein paar Jahren erwartete die Behörde wie selbstverständlich, dass die Scouts die eingesammelten Erzproben auf dem Rückflug zur Erde eigenständig untersuchten, klassifizierten und einen detaillierten wissenschaftlichen Bericht anfertigten. Je vollständiger und verlässlicher dieser war, desto größer die Wahrscheinlichkeit, weitere Aufträge zu ergattern. Somit war den freien Prospektoren nichts weiter übrig geblieben, als ihre Schiffe entsprechend aufzurüsten.

Auf dem Hauptbildschirm, der fast die komplette Stirnwand der Steuerzentrale einnahm, konnte man die Oberfläche des namenlosen Sterns inzwischen gut erkennen. Eine träge wogende Masse aus Ocker und Braun, aus der sich in unregelmäßigen Abständen Glutfinger wie Tentakel in die Höhe reckten, als wollte ein riesiger Polyp nach der ARWEN greifen, um sie zu sich in ein feuriges Grab zu ziehen.

Die Sonne mit der fantasielosen Katalogbezeichnung DX-21-C-32 stand im Sternbild des Krebses und war gerade einmal fünfzehn Lichtjahre von der Erde entfernt. Sie bildete das Zentrum eines gewaltigen Gürtels aus Asteroiden, der aus mehreren Hunderttausend Einzelobjekten bestand, die größten davon Zwergplaneten mit Durchmessern zwischen vierhundert und sechshundert Kilometern.

Ihr Kurs hatte die ARWEN während der vergangenen Tage zu mehreren dieser Miniwelten geführt, und die Schürfdrohnen hatten mehr als genug Proben gesammelt. Die Lagerräume im Hangarbereich waren bis zur Decke gefüllt. Leonie hegte keine Zweifel daran, dass sich das System als äußerst ergiebig erweisen würde. In Gedanken hatte sie sich schon ausgemalt, was sie mit dem verdienten Geld anfangen würden. Leistungsstärkere Neutralisatoren für den Antigrav. Einen Getränkespender für die Messe, der Kaffee produzierte, den man wirklich trinken konnte. Einen neuen Rechenkern für den Bordcomputer … und einen mindestens vierwöchigen Urlaub für sie und Kalia in einem der Ferienressorts auf Io, Titan oder Enceladus.

Doch dann hatten sie einen Fehler gemacht. Vielleicht war es auch eine technische Panne gewesen. Für eine wirkliche Ursachenforschung war keine Zeit geblieben, und so wie es aussah, kamen sie aus dieser Sache auch nicht mehr heraus, um den Grund für die minimale Kursabweichung später zu ermitteln.

»Okay«, holte sie ihre Partnerin wieder in die raue Wirklichkeit zurück. »Falls du an irgendwelche Götter glaubst – jetzt wäre der Augenblick, sie um Unterstützung anzuflehen …«

Kalia nahm mehrere Schaltungen an ihrer Konsole vor. Es gab einen lauten Knall; dann brüllten die Meilerbänke im Innern der ARWEN wie verwundete Tiere auf. Das ganze Schiff begann zu vibrieren, als sich sämtliche noch verfügbare Energie in die Plasmaemitter der Schubdüsen ergoss. Die Beleuchtung flackerte. Leonie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Machte sich der Ausfall des Schutzschirms bereits bis in die Zentrale bemerkbar, oder waren das lediglich ihre überreizten Nerven?

Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. So kam es Leonie zumindest vor. Mit allem, was sie noch hatte, stemmte sich die ARWEN gegen den mörderischen Sog von DX-21-C-32. Ultrahocherhitztes Plasma wurde innerhalb der Magnetfelder der Zündkammern angeregt und über einen Ionentunnel mit hohem Druck aus den Schubdüsen gepresst. Die Nadel der Beschleunigungsanzeige rückte unaufhaltsam in den roten Gefahrenbereich vor – und stieg weiter. Das Vibrieren wurde zu einem zornigen Schütteln.

Leonie fixierte das Display des Kurscomputers. Wenn der Schub ausreichte, musste sich die Flugbahn der ARWEN verändern, doch das tat sie nicht. Während um sie herum das Dröhnen der überlasteten Maschinen immer lauter und das Rütteln und Stoßen des beanspruchten Schiffsrumpfs immer heftiger wurde, registrierte der Kursrechner nicht die geringste Abweichung von der bisherigen Flugkurve.

Es funktionierte nicht!

Irgendwann gab auch Kalia auf. Mit wenigen Handgriffen schaltete sie den Antrieb und die kurz vor dem Kollaps stehende Energieerzeugung ab. Der Lärm verebbte. Das Schiff beruhigte sich.

»Es hat nicht gereicht«, sagte Kalia. »Der Ausfall einer der Bojen war zu viel.« Sie klang nicht ängstlich. Nicht einmal resigniert. Nur irgendwie … müde.

Leonie nickte, obwohl sie sicher war, dass sie es auch mit vier Bojen nicht geschafft hätten. Sie waren dem Stern schon zu nahe. Der sogenannte Punkt ohne Wiederkehr war längst überschritten.

»Wie lange?«, fragte Leonie.

»Ein paar Minuten noch«, gab Kalia Antwort. »Ich könnte es noch einmal mit dem Schirm versuchen. Wenn ich im Maschinenraum die Verbindungen zu den Verteilern kappe und stattdessen …«

»Halt die Klappe und komm her«, unterbrach sie Leonie.

Kalia runzelte für einen Moment die Stirn, dann lächelte sie und erhob sich aus ihrem Sessel. Sie ging zu ihr herüber und blieb vor ihr stehen.

Keine von beiden sagte etwas. Dazu kannten sie sich viel zu lang. Es bedurfte längst keiner Worte mehr, um den Gefühlen, die sie füreinander empfanden, Ausdruck zu verleihen.

Liebe ist nicht das, was man erwartet zu bekommen, sondern das, was man bereit ist zu geben.

Wer hatte das noch gesagt? Leonie erinnerte sich nicht mehr. Der Hauptbildschirm schien zu glühen. Er zeigte die körnige, dunkelrote Struktur von DX-21-C-32. Wie weit war die Oberfläche der Sonne, dieser tobende Ozean aus heißem, leuchtendem Gas, noch entfernt? Ein Blick auf die Instrumente ihrer Konsole hätte es ihr verraten, doch um nichts in der Welt hätte sie die letzten Minuten ihres Lebens mit solchen Banalitäten verschwendet.

Kalia bewegte die Lippen und formte stumm jene drei Worte, die oft so banal und abgenutzt klangen, aber alles bedeuteten, wenn man sie zu jemandem sprach, der sie wirklich verstand.

Als die Hitze kam, küssten sie sich. Es war ein langer und leidenschaftlicher Kuss. Die Welt um sie herum hörte auf zu existieren. Es gab nichts mehr außer Kalia und Leonie.

Und dann gab es auch sie nicht mehr.

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