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1.3 Musikgeragogische Grundlagen Kai Koch
ОглавлениеFachdisziplin Musikgeragogik
Die Soziale Altenarbeit knüpft an die erworbenen Ressourcen und Potenziale älterer Menschen an und möchte zu einem gelingenden und erfolgreichen Altern beitragen (vgl. Lehr 2007). Musik kann dabei in besonderer Weise ein Medium sein, das die Lebensqualität und -zufriedenheit steigern bzw. erhalten und einen Beitrag zur Bewältigung des Alltags leisten kann (vgl. Grosse & Wickel 2018). Als Disziplin für das Theorie- und Praxisfeld musikalischer Bildung älterer Menschen hat sich innerhalb der Musikpädagogik die »Musikgeragogik« (bzw. »music geragogy«) in Verknüpfung mit gerontologischen bzw. geragogischen Diskursen etabliert (vgl. Fung & Lehmberg 2016; Hartogh 2016). »Musikgeragogik [ist] als praxisbezogene, wertende und empirische Wissenschaft musikalischer Altenbildung [zu verstehen]« (Hartogh 2005, S. 199). Sie ist damit ein Beispiel der sich weiterentwickelnden und vervielfältigenden Arbeitsfelder geragogischer Praxis, die sich durch Spezialisierung bestimmten Zielgruppen und Schwerpunkten nähert (vgl. Kricheldorff 2015; Steinford-Diedenhofen 2018).
Bezugswissenschaften und Angebotsspektrum
Musikgeragogische Vermittlungsangebote müssen an die Voraussetzungen, Fähigkeiten und Bedürfnisse der Zielgruppe angepasst sein und sich der Erkenntnisse aus Bezugswissenschaften wie z. B. Gerontologie, Geragogik, Medizin, Neurophysiologie und Entwicklungspsychologie bedienen (vgl. Hartogh 2018). Das Spektrum der musikgeragogischen Angebote reicht von niederschwelligen Ansätzen für einzelne über Sing- und Musiziergruppen in geschützten Settings bis zu Seniorenchören, Seniorenbands oder -orchestern und auch Konzertformaten für Menschen mit demenziellen Veränderungen und deren Angehörige (vgl. Koch 2020).
Teilhabe statt Curriculum
Es geht bei musikgeragogischen Einzel- oder Gruppenangeboten nicht um ein festes Curriculum oder eine Form »musikalischer Späterziehung«, sondern um Teilhabe und ein Verständnis im Sinne einer Ermöglichungsdidaktik (vgl. Grosse & Wickel 2018). Dennoch kann an die musikalische »Reservekapazität« angeknüpft werden, sodass durchaus noch Entwicklungsmöglichkeiten und Leistungssteigerung möglich sind (vgl. Gembris 2015).
musikgeragogisches Kompetenzprofil
Für das Anleiten musikgeragogischer Angebote werden nicht nur musikalische und musikpädagogische Kenntnisse, sondern auch soziale Kompetenzen und Hintergrundwissen aus den Nachbardisziplinen benötigt. Damit lassen sich zielgruppen- und angebotsspezifische Kompetenzprofile für Anleitende ableiten (vgl. Brand 2016; Spiekermann 2009). »Musikgeragogen müssen umfassend ausgebildet sein, um auf individuelle Bedürfnisse eingehen zu können und nicht nur eine Altenbetreuung mit etwas Musik anzubieten.« (Voss 2020, S. 17) Die Ziele von musikgeragogischen Angeboten sollen bedarfsgerecht gesetzt werden, biografieorientiert ausgerichtet und mit einer »akzeptierenden und dialogischen Haltung« umgesetzt werden, um der Klientel angemessen zu begegnen und in angenehmer Atmosphäre musikalisches Erleben und Sozialkontakte zu ermöglichen (vgl. Hartogh 2018). Es gibt bisher neben den deutschlandweiten hochschulzertifizierten Weiterbildungen der Fachhochschule Münster (z. B. in Münster, Engers, Berlin, Hammelburg) auch einzelne Fortbildungsveranstaltungen zu musikgeragogischen Themen, die über Verbände (z. B. Chorverbände, Musikschulverband, Caritas, AWO), die Kirchen oder Musikakademien angeboten werden.
Fachdisziplin Konzertvermittlung
Für den Bereich der Konzertvermittlung sind die musikgeragogischen Kompetenzen mit Blick auf die Zielgruppe sicherlich genauso wichtig wie grundlegende Kenntnisse zur Programmgestaltung und der Moderation von pädagogischen Konzerten. Die heutige Konzertpädagogik öffnet sich immer mehr auch besonderen Formaten und neuen Zielgruppen (z. B. Menschen mit Demenz), obwohl ihre Ursprünge ganz anders ausgerichtet waren. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es erste Ansätze von Kinder- und Familienkonzerten als Bildungs- und Vermittlungsangebote, die in den 1970er und 1980er Jahren verstärkt zur Akquise eines jüngeren Konzertpublikums durch z. B. Pop- oder Filmmusikelemente weiterentwickelt wurden (vgl. Böttcher 2015). Im Jahr 2001 setzte die Jeunesses Musicales Deutschland5 mit einem großen Kongress in Weikersheim ein Zeichen für den Beginn einer sich immer weiter professionalisierenden Konzertpädagogik bzw. einer künstlerischen Musikvermittlung, in der Folge beschäftigten auch immer mehr Konzerthäuser Konzertpädagoginnen und -pädagogen. Sogar explizite Studiengänge sind hierfür eingerichtet worden, z. B. an der Hochschule für Musik Detmold oder an der Universität Augsburg. Qualitätsstandards für konzertpädagogische Veranstaltungen (vgl. Wimmer 2010) sind inzwischen fest etabliert. Die Musikvermittlung bedenkt die zielgruppenspezifischen Rahmenbedingungen und hat als Ziel »das Vermitteln und Begeistern für die Musik«6. Grundlegende und weiterführende Informationen finden sich z. B. bei Schneider, Stiller und Wimmer (2011) oder bei Cvetko und Rora (2015).
interdisziplinäre Zusammenarbeit
Musikgeragoginnen und -geragogen können sich durch ihr Kompetenzprofil im Kontext von Konzertformaten für Menschen mit Demenz (und deren Angehörige) an den Schnittstellen aller Beteiligten einbringen bzw. vermittelnd tätig sein. Sie kennen sich mit musikalischen Angeboten für Menschen mit Demenz, mit den Rahmenbedingungen der Altenpflege sowie allgemeinen musikpädagogischen Ansätzen, die für die Konzertpädagogik wichtig sind, bestens aus. Außerdem können sie bei der Zusammenarbeit mit Konzerthäusern als Austauschpersonen zur Verfügung stehen oder gar in kleineren Settings Konzerte selbst initiieren bzw. moderieren. Die Interdisziplinarität der Musikgeragogik ist sicherlich förderlich, um ein Ineinandergreifen der sonst sehr unterschiedlichen Professionen zu ermöglichen. Weil nicht selten Personalmangel und fehlende Fachkräfte einem Ausbau von kulturellen Angeboten für ältere Menschen entgegenwirken (vgl. Deyhle 2016), ist die musikgeragogische Expertise in solchen Vorhaben gewinnbringend ( Abb. 1.1).
Abb. 1.1: Musikgeragogische Expertise an der Schnittstelle für Konzertangebote
Mehrwert für alle Beteiligte
Bei der Realisierung von Konzertformaten für Menschen mit Demenz können nicht nur die von Demenz Betroffenen kulturelle Teilhabe erfahren und von dem Konzertformat profitieren, sondern auch die Angehörigen und ggf. Pflegenden bzw. Betreuenden (vgl. Nebauer & de Groote 2012). Der Mehrwert eines kulturellen Angebots für Menschen mit Demenz – auch für die Familien – wurde beispielsweise eindrucksvoll in der ZDF-Dokumentation »Unvergesslich« aus dem Jahr 2020 deutlich, bei der ein wissenschaftliches Chorprojekt für Menschen mit Demenz durch ein Fernsehteam begleitet wurde7. Mit Blick auf den Konzertbereich wurde mehrfach bestätigt, dass musikalische Veranstaltungen für Menschen mit Demenz (und deren Angehörige) auch für die Musikschaffenden und selbst Musikinstitutionen einen großen Mehrwert bieten (vgl. von Leliwa 2019, S. 189 ff.).
positive Auswirkungen
Neben all den positiven Auswirkungen, die musikalische Angebote im Alter auf das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der Teilnehmenden haben, sind auch Effekte zur Verbesserung des subjektiven Gesundheitszustands, zur Stärkung psychologischer Widerstandskraft und zur Ablenken von Beschwerden und Krankheiten beschrieben worden (vgl. Hartogh 2018). Auch die gemeinschaftlichen Dimensionen des gemeinsamen Singens und Musizierens gehen mit vielen sozialen Benefits einher (vgl. Fung & Lehmberg 2016). In Zusammenstellungen zu den positiven Aspekten musikgeragogischer Angebote werden beispielsweise die folgenden Oberbegriffe genannt: (musikalische) Zufriedenheit, »emotional wellbeing«, Reduktion von Angst, Sorgen und Stress, Hilfe bei der Überwindung schwieriger Lebensphasen, Stärkung der eigenen Identität, spirituelles Erleben, Gemeinschaftserlebnisse, Zusammengehörigkeitsgefühl, Gruppengefühl, positive Auswirkungen auf Haltung, Atmung, Stimme, Motorik und Kognition u. v. a. m. (vgl. Koch 2019). Eine Übersicht an Studien, die positive Effekte des aktiven Singens und Musizierens im Alter beschreiben, ist bei Fung und Lehmberg (2016), Hartogh (2005) oder Koch (2017) zu finden. Trotz all dieser Vorzüge ist es wichtig, Musik nicht für außermusikalische therapeutische oder physiologische Zwecke zu funktionalisieren, sondern auch den unersetzlichen Eigenwert zu erkennen (vgl. Wickel & Hartogh 2018).
Rahmenbedingungen und Interdisziplinarität
Abschließend soll noch einmal bekräftigt werden, dass die musikgeragogische Perspektive bei der Initiierung, Umsetzung und Etablierung von Konzertformaten für Menschen mit Demenz (und deren Angehörige) wichtig ist. Sowohl Konzerthäuser bzw. Musikschaffende als auch Alteneinrichtungen sind nicht immer mit den Rahmenbedingungen und internen Abläufen vertraut. Interdisziplinär ausgebildete Musikgeragoginnen und -geragogen können an dieser Schnittstelle tätig sein, eigene musikalische oder konzeptionelle Ideen einbringen und zwischen allen Beteiligten (Betroffene, Einrichtungen, Konzertinstitutionen, Angehörigen etc.) fachkundig vermittelnd tätig werden, um für alle Seiten gewinnbringende Konzertangebote zu ermöglichen.