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Berg
ОглавлениеMontane Metaphern strukturieren die Topographie des Geistes. Dies beginnt jedoch nicht in der Philosophie und den Künsten, sondern in den Religionen. Darum stehen diese zunächst im Mittelpunkt. Weil die Philosophie aus den Religionen erwächst, werden bestimmte Grundgesten der Philosophie auch aus dem Reservoir religiöser Metaphorik des Montanen gespeist. Auf allen Kontinenten der Erde spielen Berge in den Religionen eine überragende Rolle. Man darf annehmen, daß die Entstehung der Religionen mit der Auszeichnung von Bergen als heiligen Topoi koevolutiv verbunden ist. Von hier aus dringen montane Metaphern dauerhaft in die Sprache des Alltags, der Literaturen und später auch in die Diskurse der Philosophie ein.
1 Grundlegende Topographie – Dies hängt mit anthropologischen Grundgegebenheiten zusammen. Durch die Aufrichtung des Hominiden zum homo erectus tritt zu den primären leiblichen Raumrichtungen (links/rechts; vorne/hinten) eine neue Raumachse hinzu: oben/unten. Die frühe griechisch-römische, aber auch christliche Anthropologie hat daraus für den Menschen die Doppelformel entwickelt, daß er sowohl ein cultivator terrae (in horizontaler Dimension) wie auch ein contemplator coeli (in vertikaler Dimension) sei.
Schon bei PLATON1 und XENOPHON2 tritt der divine Zug des Menschen körperlich hervor im aufrechten Gang. Die Figur des homo erectus mit offenem Blick (und freier Hand), dadurch sprachfähig und erfinderisch-technisch (prometheisch), bestimmt bis ins 20. Jahrhundert die anthropologische Diskussion. Das dominium terrae findet eine Grenze darin, daß der Mensch zugleich zum contemplator coeli bestellt ist. Das ist stoisch gedacht: Die Welt ist für den Menschen gemacht, der Mensch aber für die Götter:3 „Denn die Menschen, die der Erde entstammen [sunt enim ex terra homines], sind nicht nur als deren Bewohner und Bebauer [incolae atque habitatores] anzusehen, sondern gleichsam als Betrachter der überirdischen und himmlischen Erscheinungen [… spectatores superarum rerum atque caelestium]“. Die Menschen sind deswegen nicht einfach Herrscher, sondern Pfleger der Erde (cultores terrae constituti), um den Erdkreis zu entwildern und strahlend zu machen. Die nutzenteleologische Einrichtung der Welt schließt ein, daß der Mensch mit seinen Händen (nostris manibus), mit Hilfe von Arbeit und Technik, „eine zweite Natur hervorbringt“ (quasi alteram naturam efficere). Diese zweite Natur soll der Vernunft entsprechen, in welcher die erste Natur eingerichtet ist. Dafür benutzt CICERO die Formel: „haec omnis descriptio siderum atque hic tantus caeli ornatus [… Diese ganze Anordnung der Sterne und dieser herrliche Schmuck des Himmels]“. Diese Konzeption ist den Versen vorauszusetzen, mit denen OVID in den Metamorphosen die Menschwerdung aus Erde und Himmel abschließt: „die eben noch rohe und bildlose Erde legte, so verwandelt, die neuen Menschengestalten an (wie einen Schmuck, ein Ehrenkleid)“.4 Diese anthropologischen Bestimmungen sind Ausformulierungen der beiden grundlegenden Raumorientierungen, der Horizontalen und der Vertikalen. Sie entsprechen den Landschaftsformen der Ebene und des Gebirges.
Die Freisetzung der Fernsinne von Auge und Ohr und die Freisetzung der Hand als operatives Organ lösten den menschlichen Organismus aus dem bodenbezogenen Nahraum der sogenannten niederen Sinne (Riechen, Schmecken, Tasten) und eröffneten nicht nur den horizontalen Seh- und Hörraum, sondern auch den Raum oberhalb des Kopfes: die Vertikale. Mit diesem Übergang war auch der Wandel zur teilweise carnivorischen Ernährung verbunden: Die Menschen aßen nicht nur, was sie an Früchten, Wurzeln, Körnern etc. fanden, sondern auch, was sie erjagen mußten: Diese Tiere aber hatten eine dem Boden zugewandte, „gestreckte“ Physis, im Gegensatz zu dem schlanken, erektilen Erscheinungsbild des Menschen. Die viel spätere normative Hierarchie der Sinne, in der die „höheren“ zugleich die edleren und die „niedrigen“ Sinne zugleich die unedleren darstellen, geht auf diese Differenz im Erscheinungsbild zwischen Tieren und Menschen zurück. Darin drückt sich eine primordiale Wertordnung aus, die der Raumordnung von Oben und Unten entnommen ist. Es ist eine nahezu kulturunabhängige Konstante, daß das Gute, Edle, Schöne, Wahre, Herrscherliche, aber auch das Reine und Göttliche oben und deren Gegenteile unten angesiedelt werden. Dem entspricht auch die Hierarchie von Geist und Materie: Nach oben strebt der Geist, nach unten die Materie. Von daher sind Berg-Gipfel seit jeher Symbole der Vergeistigung.
All diese Bestimmungen hängen mit der Entriegelung des Auges zusammen. Die Augen „aufzuschlagen“ meint nicht nur, daß sie horizontal in die Weite, sondern auch „aufwärts“ gerichtete Sinnesorgane sind. In diesem aufgeschlagenen Blick steckt eine wesentliche Spaltung: Das in der Ferne Erblickte ist potentiell das Erreichbare (der „negative Horizont“, der sich prinzipiell entzieht, ist erst eine späte Entdeckung in der Frühneuzeit); dasjenige aber, was „oben“ ist, gehört zur Sphäre des Unerreichbaren. Es weist eine hohe phänomenale Plausibilität auf, dieses „Oben“ als denjenigen Raum zu entwickeln, in welchem alles situiert wird, was die Seinsweise des Menschen überschreitet, überragt oder ihr gegenüber „jenseitig“ oder „überirdisch“ ist. Dies geht in die Grundgeste aller Religion ein: Sie ist diejenige Praxis, durch welche die Menschen, die der Erde angehören und folglich „unten“ sind, so „aufgerichtet“ sie sein mögen, sich „nach oben“ orientieren und mit demjenigen, was das „Höhere“ ist, in Kommunikation zu treten versuchen. Die Grundhaltung des Religiösen ist die Gestik „von unten nach oben“: Gebete, Opfer, Verehrung sind adressierte Handlungen, die aus einer Demutshaltung heraus sich an ein Höheres richten, um diesem nahe zu kommen, es für sich zu gewinnen, in seinen Schutz zu treten. Das Göttliche und das Heilige sind prinzipiell „oben“, auch wenn es sich um Wesen handelt, die Mächte des „Unten“ sind, also etwa Unterweltsgötter oder untere, mithin böse Dämonen.
Für diese grundlegende Topographie sind Berge von größter Bedeutung. Berge begrenzen den Blick ins Weite und schaffen dadurch die Differenz von davor und dahinter. Dieses Dahinter markiert einen Entzug des Blickes und scheidet das (gegenwärtig) Sichtbare vom (gegenwärtig) Unsichtbaren. Dadurch markieren sie Grenzen im physischen Raum der Horizontale. Sie ermöglichen damit die Bildung symbolischer Topographien, von „Lebensräumen“, die als eigene verstanden werden und durch Berge geschützt und abgeriegelt werden. Die Alpen, die Pyrenäen, der Kaukasus, die Rocky Mountains, der Ural, der Himalaya stellen solche „Raumriegel“ dar. Sie markieren die geomorphologischen Lebenssphären und/oder Wetterzonen. So gelten die furchtbaren Alpen in Italien auch als Schutz und werden metaphorisch als moenia Italiae bezeichnet. Hinter den Bergen leben andere, oft mythische, wilde, unzivilisierte Völker, wenn nicht dahinter die unbewohnbare Wildnis herrscht oder gar die Welt endet. Noch oder schon bei HOMER gelten Bergbewohner als barbarisch.5 Für alte Gesellschaften kann keinesfalls davon gesprochen werden, daß Berge Sehnsucht und Neugier wachrufen auf das, was hinter ihnen ist: Dies ist ein durchaus modernes Gefühl, das die Nobilitierung der curiositas ebenso voraussetzt wie die kolonisierende Landnahme als Grundgeste kultureller Expansion. Alte Kulturen leben zwar im Schatten der Berge, und Berge können auch ihr heiliges Zentrum abgeben; doch Berge zu besiedeln, ist der Fluch der Armen und Verdrängten; gar hinter sie zu kommen, motiviert nur die Not, wenn man aus seinem angestammten Lebensraum vertrieben wird und neuen Raum jenseits der Berge zu suchen gezwungen ist. Über die längste Zeit der Geschichte migriert kein Stamm ohne Not in oder über die Berge, und man hält die physisch-praktischen Kontakte (etwa bei der Jagd) mit ihnen so kurz wie möglich.
Berge sind indes nicht nur Raumriegel, sondern sie ragen auf und stellen damit (wie der homo erectus selbst) innerhalb des Visualfeldes eine materielle Vermittlung von Oben und Unten sowie eine dynamische Bewegung von unten nach oben dar. Dies hängt mit ihrem geomorphologischen Gesetz zusammen: Der Sockel des Berges ist stets breiter als sein gerundeter oder spitzer Gipfel: Dadurch ergibt sich eine nach oben führende Lineatur. Ihr folgend, erreicht man einen Scheitel, von dem der Blick wieder heruntergeführt wird. Oder, und dies ist für die transgressive Funktion der Berge wichtig, der Blick hebt vom Gipfel nach oben in den Luft- und Himmelsraum ab, ein qualitativer Sprung in eine andere Sphäre: das Reich der Wolken, die den Berg auch umhüllen können, das Reich der blauen Luft und, jenseits ihrer, das Reich der Sterne, der Sonne und der Nacht, die Transzendenz schlechthin. Berge führen also zur Transzendenz, sie sind – schon visuell – Medium des Aufstiegs, des Überstiegs und der Transgression.
2 Der Berg als absolute Metapher – In der Metaphorik der Berge findet sich eine grundlegende Antinomie: Sie sind zum einen das Unwirtliche, Unzivilisierte und Schreckenerregende; sie weisen ab und wecken Angst; sie enthalten quasi natürliche Vermeidungsimperative. Zum anderen aber repräsentieren sie durch ihre Aszendenz das Göttliche und Heilige. Dadurch wird eine exklusive Beziehung codiert: die zu den Göttern. Die überragende Bedeutung der Berge in allen Religionen ist in ihrer Natur begründet: Nichts eignet sich besser, das Fremde und Entrückte, Heilige und Imponierende so selbstevident zu figurieren wie sie. Sie müssen, um heilig zu werden, dabei nicht von majestätischer Erhabenheit sein. Entrückte, heilige Topoi – wie etwa der Ayers Rock für die australischen Aborigines (350 m) oder der Satrunjaya (700 m) für die Jaina-Religion im indischen Gujarat – können auch relativ flache Berge sein, die aufgrund örtlicher geomorphologischer Gegebenheiten und lokaler Legenden zu erstrangigen Heiligtümern, zu hieroi topoi werden. Das hohe Maß spezifischer Besonderung und morphologischer Varianz steht zur Universalität der Heiligkeit der Berge nicht im Widerspruch.
So bilden Berge im Sinn der BLUMENBERGschen Metaphorologie eine „absolute Metapher“: Es ist für alle Kulturen, also universell, unvermeidlich, Berg-Metaphern zu kreieren, damit überhaupt Grundstrukturen der kulturellen und religiösen Ordnung gebildet werden können. Berge sind absolute Metaphern, weil sie, ähnlich dem Licht, ein Urphänomen sind. Wir kennen keine Kultur, in der Berge nicht zur Strukturierung der symbolischen Ordnung dienen. Dies gilt auch für schriftlose Kulturen. Berge sind mithin der paradigmatische Fall von Real-Symbolen. Den sprachlichen, gar schriftlichen oder diskursiven, aber auch den pikturalen Metaphoriken des Montanen gehen die wirklichen Berge, strukturell wie zeitlich, voran: Auf allen Kontinenten sind es reale Berge, die symbolische Räume bilden. Es gibt mithin eine prätextuelle und präpikturale universale Textur des Montanen, die den gesamten Globus umspannt. Dies ist ein Unterschied etwa zu der für unseren Kulturkreis bedeutenden Metaphorik des liber naturae. Damit der Text oder das Buch zum Paradigma werden kann, das die Hermeneutik der Natur formatiert, müssen zuvor die Schrift, das Buch, die Autorschaft und die Lektüre erfunden worden sein. Berge sind ein Beispiel dafür, daß Symbolisierungen unabhängig sein können von hochkulturellen Leistungen. Schon schriftlose Stammeskulturen schaffen komplexe Symbolordnungen, die ihr fundamentum in re haben, hier also in den Bergen und in den um sie gruppierten religiösen Praktiken und Riten.
Zum Absoluten der Real-Metaphorik der Berge gehört dabei, daß sie nicht spezifisch für eine lokale Kultur ist, nicht von einer Kultur erfunden wird und sich nicht von dort durch Kulturtransfers ausbreitet. Offenbar werden Berg-Symboliken universal, spontan und unabhängig von kulturspezifischen Kontexten hervorgebracht. Zugleich erzeugen die Kulturen Berg-Symboliken von unermeßlicher, kulturabhängiger und lokaler Varianz. Darum beobachten wir sowohl eine kulturinvariante Matrix der Berg-Symbolik (wo immer es religiöse Verehrung gibt, gibt es Berg-Symboliken; und umgekehrt), wie auch kulturspezifische Matrixen, nach denen sich Berg-Symboliken höchst variantenreich ausdifferenzieren. Es gibt für die primordiale Symbol-Matrix der Berge kein stärkeres Argument als jenes, daß Kulturen, die über Jahrzehntausende in keinerlei Kontakt zueinander standen, gleichermaßen Berge zum Zentrum ihrer religiösen Praktiken gemacht haben: so die australischen Aborigines, die amerikanischen Ureinwohner, die afrikanischen Stammeskulturen. Wenn die sogenannten Hochreligionen – Judentum, Christentum, Islam, der Buddhismus, Hinduismus – in ihrer Symbol-Matrix ebenfalls heilige Berge aufweisen, so haben sie diese nicht etwa aufgrund einer höher entwickelten Symbolisierungstechnik erfunden und dann kulturell diffundiert; sondern umgekehrt ruhen die elaborierten, durch Schrifttradition verstetigten Berg-Symboliken der Hochreligionen auf dem breiten Sockel stammeskultureller Religionsformen.
3 Bedeutungscluster des Montanen – Religionsphänomenologisch gibt es mehrere Bedeutungscluster, die sich unabhängig von der lokalen Geomorphologie der Berge gebildet haben. Die besondere Form eines Berges oder Gebirges kann, aber muß nicht der Anlaß zu seiner symbolischen Aufladung sein. Ja, man kann behaupten, Berge seien eo ipso symbolisch. Das steht quer zu Auffassungen, nach denen jedes Symbol und jede Metapher arbiträr, kontingent und historisch sei. Dem soll nicht widersprochen werden, soweit es sich um einzelne Symbolisierungen handelt, also etwa um die Zuordnung eines bestimmten Bergbau-Geländes zum Regime der Berg-Heiligen Anna. Die kulturspezifische Historisierung erscheint indes in einem anderen Licht, wenn man die globale Streuung symbolischer Besetzungen von Bergen in den Blick nimmt oder in einer lokalen Feinanalyse erkennt, daß es niemals nur ein ganzer Berg ist, der symbolisch besetzt wird, sondern daß ein Gebirgszug in der Regel eine hochdifferenzierte Symboltopographie darstellt, bei der auch einzelne Felsen, Bergpartien, der Gipfel, eine Höhle, eine Quelle, eine Schlucht, ein einzelner Baum semantisiert worden sind. Kurz: Jeder Berg und alles an einem Berg kann symbolisch sprechen und zur Metapher werden. Universalität, Lokalität und Historizität von metaphorischen Aufladungen durchdringen sich stets. Und diese wechselseitige Durchdringung hat zu der unerschöpflichen Textur geführt, die von den Bergen im Weltmaß gebildet wird. Im religiösen Sinn nun, der zweifellos der früheste ist, durch den Berge symbolisch wurden, ergeben sich dabei folgende Typen:
3.1 – Berge sind kosmische Marker. Sie bilden die Weltachse (axis mundi) und trennen dadurch Himmel und Erde, die durch sie auseinandergehalten werden (in der griechischen Mythologie: der Atlas; aber auch der Himalaya und die Rocky Mountains haben diese Funktion). Der in den Kosmogonien interkulturell verbreitete Himmel-Erde-Trennungsmythos (HET-Mythos6) enthält im Kern die Erzählung, daß Himmel und Erde ununterscheidbar in hochzeitlicher Nacht zusammengelegen hätten, so daß kein Raum war, bis dann die Schöpfung durch das primäre opus disiunctionis begonnen hätte: Raum und Licht werden erst durch die Trennung von Himmel und Erde. So heißt es entsprechend dem HETSchema bei EURIPIDES im Melanippe-Fragment: „Ursprünglich war der Himmel mit der Erde eins;/doch als sie voneinander sich geschieden hatten,/da zeugten sie und brachten an die Sonne alles,/die Bäume, Vögel, Tiere, die das Meer ernährt/– dazu die Menschen“.7
Diese Raumbildung, durch die der künftige Lebensraum sich als ein Zwischen von Himmel und Erde, mithin als Welthöhle oder als Faltenraum gebildet habe, muß indes, damit die Welt nicht wieder ins ununterscheidbare Chaos zurückstürzt, verstetigt werden. Diese Verstetigung wird durch besondere Berge (bzw. durch Berge repräsentierende Heroen wie Atlas) geleistet. Berge, wiewohl unbewohnbar, „geben“ mithin erst den Raum der Bewohnbarkeit und des Lebens.
Kosmische Berge haben dagegen die Funktion, die Mitte des gesamten Universums zu bezeichnen und diesem dadurch Halt und Orientierung zu geben. So bezeichnet der Huerfano Mountain in New Mexico für die Navahos die kosmische Mitte, obwohl der reale Berg nur das materielle Abbild eines mythischen Berges darstellt, der allem Geschaffenen vorausgeht. Der Hara-Berezaiti (oder Alborz) im Iran ist nach zaroastrischer Vorstellung der erste Berg (axis mundi) überhaupt, den der Schöpfer- und Erhaltergott Ahura Mazda, der hier seinen Sitz nahm, erbaute und der mit allen Bergen der Welt in wurzelhafter Verbindung steht. Der Alborz ist sowohl der Berg in der kosmischen Mitte als auch jenes Ringgebirge, das die als Scheibe vorgestellte Welt umgürtet. Sein Gegenstück ist der mythische Berg Arezura, der das Reich der Finsternis birgt und der Versammlungsort der bösen Geister aus dem Erdinneren darstellt.
Viele reale wie mythische Weltberge – wie etwa das chinesische Massiv Amne Machem, der nepalesische Annapurna oder der australische Ayers Rock – bilden den symbolischen Ausgang für die jeweilige Kosmogonie und den Schnittpunkt der sakralen Raumordnung einer Kultur. So auch stellt der mythische Berg Meru, in gigantischer Größe noch nördlich des Himalaya, den Nabel der Welt dar. In der Jaina-Religion wird der Meru in der Mitte von schützenden Ringgebirgen aus Edelsteinen situiert; den Himmelsrichtungen wendet er jeweils eine Flanke aus Silber, Beryll, Kristall und Gold zu; auf seiner Spitze befindet sich eine aus Edelsteinen geformte Lotos-Terrasse mit paradiesischem Garten der Götter.8 Bis hin zu DANTES Divina Commedia findet sich immer wieder die Vorstellung, daß das Paradies (der Garten Eden) am Ende der Welt, auf einem Berg oder in ungreifbar mythischer Höhe angesiedelt sei. In den tantrischen Meditationen nimmt der Weltberg Meru eine prominente Stelle im Zyklus der Wandlungen, der Weltzerstörung und Weltentstehung ein. Bei den Griechen ist der Weltnabel ein Marmorkegel (omphalos) im Tempel des Apoll zu Delphi unweit des Parnaß, dem Berg, der ursprünglich ein Heiligtum der Erdmutter Gaia beherbergte, bis er von Apollon besetzt wurde, der den Kult später, in widersprüchlicher Einheit, mit Dionysos teilte. In Rom ist der Nabel (umbilicus) auf dem Forum Romanum situiert und für das Christentum dort, wo seine sakrale Mitte liegt: auf dem Hügel Golgatha in Jerusalem.
Man erkennt, daß lange bevor montane Metaphern in die Sprache der Philosophie und der Literaturen eindringen, reale oder mythische Berge zu Imaginarien werden, die aus nichts als einem Geflecht von Metaphern gebildet sind. In diesen wird die Heiligkeit allererst kreiert. Ferner ist erkennbar, daß der Berg, unabhängig von der jeweiligen Religion, als die erste, geformte Veste (im Chaos) und darum als Symbol der unvordenklichen und unzerstörbaren Mitte des Seins fungiert. Dieser metaphorische Berg muß weder ein gewaltiges Gebirge noch überhaupt ein realer Berg sein, er kann ein imaginärer Berg, ein mythischer erster Hügel oder auch ein artifizielles Bildwerk wie der Nabel-Marmor oder ein Altar sein, der das primär Aufragende, die erste Schöpfung, den Ursprung des Lebendigen symbolisiert. Dies ist insofern von besonderem Interesse, als dadurch das, was den kosmischen Berg ausmacht, ebenso von einem gewaltigen Massiv wie durch eine zentrale Tempelanlage repräsentiert werden kann. So stellen die gewaltigen stufenförmigen Tempel der Maya-Kultur selbst göttliche Berge dar; ähnlich die Tempelberge der Khmer in Ankor oder der Borobodur-Stupa auf Java. Oder die im Kiesbett, das das Meer darstellt, verteilten Felsen in Zen-Gärten werden zu kleinformatigen Paradigmen des Berges überhaupt: aus dem Urwasser aufragende Inseln, die den Hort des gestalteten Lebens bilden. Auch japanische Pagoden und Palastarchitekturen symbolisieren Berge, die in Japan durchweg als heilig gelten.
3.2 – Berge sind die entrückten Wohnorte, Residenzen oder Versammlungsorte der (höchsten) Götter, wie dies für zahllose prominente Berge in der assyrischen, babylonischen oder griechisch-römischen Kultur, aber auch in Iran, Indien, Tibet, China oder in Süd- und Nordamerika bezeugt ist. Häufig sind Berge selbst Götter oder sie sind von Göttern gebaut worden. Der Himalaya insgesamt repräsentiert den Körper des Shiva, der wiederum auch auf einzelnen Bergen, vor allem dem Kailas, seine Stätte und seinen Thron haben kann; zugleich erhebt sich auf den Schneegipfeln des Himalaya der überirdische Palast der Götter. Daß Berge die Wohnstätte der Götter sind, begründet ihre Sakralität und spirituelle Attraktion. Sie teilen damit jene Struktur, die seit RUDOLF OTTO für das Heilige ausgemacht wurde:9 Berge sind Taburäume, die ebenso anziehen wie abschrecken. Darin sind Berge Orte des Numinosen. Numinosität bezeugt die befremdende Gegenwart eines unbestimmt Anderen, das sich als Scheu anzeigt. Die Scheu setzt ein Verhältnis von Unnahbarkeit des Objekts zur Unterlegenheit dessen, der die Gegenwart des Numinosen spürt.
Dieses Grundverhältnis wird in vier Bestimmungsstücke auseinandergelegt, die auch für die religiöse Symbolik von Bergen gelten. (a) Die Vorrangigkeit des numinosen und unvertrauten Objekts enthält ein Angezogenwerden und ein Fliehen-Wollen, Attraktion und Repulsion: diese Ambivalenz wird zur Synergie von tremendum und fascinosum. Tremendum ist das Schauervolle, Unheimliche, Unbestimmt-Große, das vor mächtigen und heiligen Bergen empfunden wird. Fascinosum stammt von lat. fascinare = verzaubern, behexen. Darin drückt sich aus, daß von heiligen Bergen ein Bann ausgeht. (b) In diesem Pendelschlag von Tremendum und Fascinosum entsteht das Gefühl der Gegenwart von etwas Übermächtigem, nämlich der maiestas. Auch dies paßt gut zu den Bergen als Herrschaftssitz von Gottheiten. Maiestas bezeichnet die Erfahrung der Fernrückung des numinosen Objekts, so nah es auch gespürt wird, des Banns, so sehr man auch fliehen möchte. Diese Bipoligkeit charakterisiert die Aura heiliger Berge und die semantische Gespanntheit aller Berg-Metaphoriken, sofern sie im Religiösen wurzeln. (c) Sofern Berge heilig sind, sind sie Träger eines Mysteriums; sie bezeichnen das „Ganz Andere“ (das Mirum). Die mirabile Alteritas entzieht das Heilige dem Begriff und wahrt seine Geheimnishaftigkeit. Darum ist die Sprache über heilige Berge nicht begrifflich, sondern metaphorisch. Dies gilt auch für die postreligiöse, naturästhetische Erhabenheit der Berge, insoweit Metaphern auch innerhalb säkularisierter Sprachen Spuren eines Inkommensurablen und Geheimnishaften behalten. Berge werden zu Metaphern, gerade weil sie sich der Umfassung durch Begriffe entziehen; Metaphern drücken nichts anderes als diese Unfaßbarkeit aus. Geheimnis ist gewöhnlich der Gegenbegriff zu Öffentlichkeit. GEORG SIMMEL10 machte kurze Zeit vor Otto darauf aufmerksam, daß jede Gesellschaft auf die Wahrung des Geheimnisses angewiesen ist. Das Heilige von Bergen ist in diesem Sinn ein Arkanum, das sich zeigt, ohne sich zu enträtseln. Von daher sind Berg-Metaphern survivals uralter religiöser Verhältnisse. Die Epiphanie des Berges kann, etwa in Riten oder Festen, öffentlich sein, ohne doch dabei enthüllt zu werden.11 Sie tritt hervor nicht als decodierbare Mitteilung, sondern als unbestimmte Ausstrahlung, als Metapher und nicht als Proprium. (d) Als viertes Merkmal nennt Otto das Augustum, das sich Kaiser Octavian als Name (Augustus) beilegte, um die Atmosphäre des Erhaben-Strahlenden, Heiligen und Ehrfurchtsvollen auf sich zu konzentrieren. Diese Instrumentalisierung gehört zur Performativität der Macht. Sie entleiht sich das Augustum um den Preis, daß das „Ganz Andere“ (Thateron) sein Geheimnis verliert und zur Repräsentation des Herrschers vereindeutigt wird.
Es ist aufschlußreich, daß in verschiedenen Kulturen Berge gleichgesetzt werden mit Fülle, Überfluß, Reichtum, Glanz, so z.B. der nepalesische Annapurna, dessen Name „Mutter der Fülle“ heißt, der tibetische Kailas, der südindische Arunachala, dessen Haupt mit der Aura des unsichtbaren Lichts Shivas umkleidet ist, oder der griechische Olymp, der als Göttersitz und Thron des Zeus vielen Legenden nach auf seinem Gipfel einen allen Reichtum und alles Heil verkörpernden Palast trägt. Heilige Berge symbolisieren zwar das Überlegene und Fremde, doch gerade daran machen die religiösen Menschen entscheidende Erfahrungen. Sie suchen sie geradezu: Dies ist die Wurzel für die Feste, Rituale, Opferungen, die dem sakralen Berg selbst oder der in ihm inkorporierten Gottheit dargebracht werden. Auch dies gilt transkulturell. Gleichwohl schließen die Rituale am heiligen Berg die Identifikation mit ihm aus, weil zu ihm die Ambivalenz von tremendum und fascinans gehört, die weder zur einen noch zur anderen Seite durch Identifikation oder Distanz aufzulösen ist. Berge sind in einem physischen wie in einem ontologisch-metaphysischen Sinn das Herausgehobene und Erhabene, und dies begründet die Überalltäglichkeit der Bewegungen und Begängnisse, die in Annäherung an Berge oder auf ihnen vollzogen werden. Berge begründen geradezu das strenge Regime des Ritus und des Kultus – in nahezu allen Formen: Dies reicht von den Menschenopfern, die bei Inkas und Mayas den Göttern zur Beschwichtigung und zum Segen in gewaltiger Höhe erbracht wurden bis zu den Anachoreten und Klostergemeinschaften, die in unwirtlichen Lagen an und auf Bergen ein durchritualisiertes Leben in der Nähe des Gottes führen, am Berg Athos ebenso wie am armenischen Ararat, am Sinai (Dschebel Musa) wie am tibetischen Kailas, am japanischen Fuji oder am balinesischen Gunung Agung.
3.3 – Berge sind Offenbarungsorte, entlegene und schwer erreichbare Stätten der Kommunikation mit den Göttern. Klassisch sind die Offenbarungen, die Moses oder Muhammad an Gottesbergen erfahren haben. So auch Zarathustra, der noch als philosophischer Lehrer bei NIETZSCHE „von den Bergen“ herabkommt.12 Aber auch das Delphische Orakel liegt in abgelegenen Bergzonen am Parnaß-Massiv. Gerade das Unwirtliche der Gottesberge macht sie zum Zentrum der Anziehung für Anachoreten und Mönchsgemeinschaften, welche die Weltferne als Bedingung der Gottesnähe suchen. So werden Berge nicht nur zu den Wohnorten heiliger Eremiten, sondern zu Kultzentren, zu denen oft auch zahllose Pilger aufbrechen, um durch Riten, Gebete, Meditationen, asketische Übungen oder Opfer sich der Nähe des Gottes zu versichern. Darin folgen Eremiten wie Pilger der Spur einer ursprünglichen Offenbarung, die zumeist einem Gründungsheiligen oder Religionsstifter zuteil wurde. Beispielhaft sind dafür die Katherinenklöster (seit dem 4. Jh.), die je nachdem, welchen Berg auf dem Sinai man als den Moses-Berg annahm, am Dschebel Musa oder Dschebel Katerin im südlichen Stein-Massiv der Sinai-Halbinsel gegründet wurden und bis heute Ziel von christlichen Pilgern sind. Für Israel wie für das Christentum ist der Sinai der Name für den Bund, den Jahwe in einer gewaltigen Epiphanie mit Moses auf dem Gipfel des Horeb oder Sinai abgeschlossen und durch die Übergabe des Dekalogs besiegelte. Die vierzigjährige Wüstenwanderung des Volkes Israel, von der in der Sinaiperikope Exodus 19 bis Numeri 10 erzählt wird, ist, wenn sie die „Brautzeit“ Israels (Jer 2,2f.) mit seinem Gott genannt wird, als ein entsagungsvoller, ebenso erzieherischer wie prüfender Übergangsritus zu verstehen. Darin bildet die Theophanie am Gottesberg, auf den Moses auf Geheiß Jahwes gestiegen ist (während zu Füßen des Berges das Volk, auf Idolenkulte zurückfallend, ums goldene Kalb tanzt), die entscheidende Initiation ins Gesetz und stellt die religiöse Ordnung des Bundes dar. Der Moses-Berg ist das primordiale Sinnzentrum der jüdischen Religion, das später, nach der Landnahme, im Tempelberg Jerusalems seinen Gegenhalt erfährt. Indes bleibt der Gott Israels der Gott des Sinai-Berges, seinem ursprünglichen Wohnsitz (wo er noch Züge eines alten Erdbeben- und Wetter-Berggottes aufweist). Der Sinai ist paradigmatisch auch für eine der klassischen Formen von Berg-Theophanien, wie sie sich in vielen Religionen finden: Gott steigt herab auf den Berg (Deszendenz). Die Theophanie in der Natursprache dramatischer Wettererscheinungen transformiert sich hier aber in die Schriftform des Gesetzes, die fortan das Zentrum einer Religion ist, die auf jede Gottesmetaphorik und auf jede bildliche Figuration verzichtet, sich aus jeder Verankerung an natürliche Orte (wie Berge) löst oder schließlich sogar, nach Zerstörung des Tempels, sich vom architektural gefaßten hieros topos verabschieden muß.
4 Orte der Wildnis – Sofern Berge nicht geheiligt oder Sitz der Götter und damit Übergangszonen zur Transzendenz waren, bilden sie in christlicher wie antiker Tradition die Sphäre der Wildnis.13 Diese beiden semantischen Achsen herrschen bis weit ins 18. Jahrhundert vor. Das platonische Höhlengleichnis codiert als philosophische Allegorie den Aufstieg aus dem Dunkel sinnlicher Erscheinungen, deren Wesen nicht durchschaut wird, zu den oberen Sphären des Lichtes, das die Wahrheit (aletheia) ist. Philosophie ist Elevation, Erhebung aus dem Trüben bloßer Wahrnehmungsbilder (doxa) zur Welt der Ideen, der noetischen Sphäre. Dem Geist und dem Denken ist seit Platon eine Direktion eigen: nach oben. Das Hohe ist das Wertvolle und Wahre, das Niedrige das Wertlose und Täuschende. Dem entspricht der Aufbau der antiken Kosmologie, die eine qualitative Raumordnung im Elementenschema enthält: von der Erde über das Wasser zu Luft und Feuer als den oberen, edleren Elementen bis hin zum fünften, alles umhüllenden, in sich ruhenden und einheitstiftenden Äther, dessen Feinstofflichkeit von reiner Geistigkeit kaum zu unterscheiden ist (nahe bereits dem christlichen Empyreum). Diese vertikale Wert- und Sphärenschichtung bleibt bis zur Frühneuzeit stabil. Was unten ist, ist nicht nur das Wertlose, sondern auch Ordnungslose: die sublunare Sphäre ist in ihrer Vielheit und Heterogenität kaum erkenntnisfähig; episteme (Wissenschaft) bildet sich an den Dingen des niedrigen Erdkreises gerade nicht. Er enthält auch kaum Schönes, das auf harmonischen und symmetrischen Verhältnissen, auf Zusammenhang und Verknüpfung, stimmiger Anordnung und Übereinkunft beruht. Berge zeigen nichts davon; sie sind rauh, ungeregelt, schroff, wüst und wild, wie urzeitliche Relikte des Chaos, dem die Erde (Gaia) am nächsten steht. Das Schöne muß als Kunst, durch idealisierende Nachahmung und zähmende Formung, hergestellt werden oder findet sich als kleine amoene Szenerie eingebettet in Räumen, die sich rasch in weglose Wälder und wilde Gebirge zerfransen.
Hingegen konzentrieren die Berge, etwa in der Schilderung der Alpenüberquerung von Hannibals Truppen durch Polybios und Livius, alle Züge des Schrecklichen und Barbarischen, leblose und abscheuliche Unformen, die sich in den verwilderten Bergbewohnern widerspiegeln.14 Ähnlich unwirtlich werden der Atlas oder der Kaukasus geschildert, die Verbannungsorte der hybriden Titanen Atlas und Prometheus an den westlichen und östlichen Grenzen des zivilisierten Erdkreises. So sehr die platonische und stärker noch die plotinische Philosophie und dann der Neoplatonismus der Frühneuzeit einen Zug ins Vertikale aufweisen, was sie der christlichen Bewegung des Aufstiegs zu Gott adaptierbar macht, so wenig weisen Gebirge in der Antike Attraktionen auf, die sie für philosophische Metaphern tauglich machen würden. Auch MARSILIO FICINO und GIORDANO BRUNO, die, wie kaum andere Philosophen, die denkerische Aufwärtsbewegung auszeichneten, taten dies ohne Rekurs auf Berg-Metaphern: Sie wären für den Aufschwung des Geistes im furor divinus, bei Bruno bis auf die Höhen des Weltalls, zu geringfügig. Wirkungsmächtig ist eher die römische Stadtkritik, etwa bei HORAZ, der – wie vor ihm schon der Stadtbürger THEOKRIT in seinen Idyllen – den Topos des einfachen, Seelenruhe gewährenden Landlebens und darin auch die Berge als Kontrapunkt des Stadtlebens mit poetischem Lob bedenkt. Doch sind auch hier nicht die schroffen Gebirge gemeint, sondern die zum Seelenfrieden tauglichen, sanfteren Hügel und Berge, die sich der pastoralen Landschaft als behütende Grenze anfügen.
Diese verbreiteten stadtkritischen Gesten der römischen Literatur (z.B. auch IUVENAL) finden sich radikalisiert im Christentum, wenn fromme Eremiten sich aus dem Gewühl der sündenverfallenen Welt in Wüsten und Gebirge zurückziehen, eingedenk jener biblischen Stellen, welche gerade derart lebensferne Zone als Orte der Gottesbegegnung auszeichneten, wie etwa der berühmte Psalmen-Vers Ps 43,3: „Sende dein Licht und deine Wahrheit, damit sie mich leiten; sie sollen mich führen zu deinem heiligen Berg und zu deiner Wohnung.“ Dies ist eine religiöse, keine philosophische oder gar ästhetische Nobilitierung des Berges. Man findet sie in Briefen des anachoretischen HIERONYMUS ebenso wie bei AUGUSTIN, der die Doppelfigur von den guten und den schlechten Bergen rhetorisch prägte. Sind die ersteren die Berge Gottes und das Haupt Christi, von geistlicher Großartigkeit (magnitudo spiritualis), so sind die weltlichen Berge (montes saeculi) das Haupt des Teufels (caput diabolus) und das Geschwür des Hochmuts (tumor superbiae). Jeder Christ erinnerte bei diesen topischen Formeln, die für mehr als ein Jahrtausend die Wahrnehmung der Berge prägten, die überlieferte Versuchung Jesu, als dieser, während seiner Fastenzeit in der Wüste, vom Teufel auf einen Berg geführt wird, um Jesus, im Stil des späteren Teufelspakts, in einem panoramatischen Weltblick alle Reiche zur Herrschaft anzubieten, wenn er sich denn nur dem Satan verspreche (vgl. Mt 4,1–11 u. Lk 4,1–3). Das Muster einer solchen malignen Elevation, die das Weltenpanorama hergibt, findet sich noch in der Historia von D. Johann Fausten (1587): In der Supervisio stillt Faust seinen Welthunger, die teuflische curiositas.15
Es ist eine überzufällig aufgeschlagene Textstelle aus Augustin, die FRANCESCO PETRARCA auf dem Gipfel des Mont Ventoux 1336 aus der selbstvergessenen Faszination durch den tiefengestaffelten Fernblick zurückruft in die fromme Selbstbetrachtung der Seele, im Vergleich zu deren Größe nichts Weltliches groß sei.16 Der höchst stilisierte Bericht über die vielleicht gar fiktive Besteigung des Mont Ventoux folgt der Augustinischen Abrechnung mit dem Augenbegehren (concupiscentia oculorum) und der weltlichen Neugier. Was von heute her als Wende zu einer neuzeitlichen Naturästhetik und als Entdeckung der Erhabenheit der Berge erscheinen mag, ist im 14. Jahrhundert eine exemplarische „Konfession“, nämlich das Dokument einer den montes mali verfallenen superbia, deren Typus Augustin ebenso vorgegeben hatte wie die „Abkehr“ von jenem Weltblick, der in diabolischer Versuchung sich die Welt zu Füßen legt. Der Mont Ventoux Petrarcas ist nicht die Inkunabel der modernen Landschaft, sondern das Exempel des tumor superbiae, eine christliche Umkehr- und Nachfolgegeschichte auf den Spuren Augustins und der Bibel.17
Gleichwohl ist es nicht zufällig ein Berg, der zum Topos dieser spirituellen Erfahrung wird; denn der Berg ist die Metapher der sündigen Weltverfallenheit und zugleich die Metapher der Offenbarung, Weltabkehr und Gottesnähe, zu der Petrarca auf dem Gipfel, wo er nicht nur sieht, sondern auch liest und erinnert, zurückfindet. In eins damit ist der Gipfelblick Petrarcas die erste literarische Ausformulierung des aperspektivischen Panoramablicks, der die Tiefenstaffelung der Horizontale auf einen subjektiven Sehpunkt hin organisiert. Dies mag dem sich augustinisch besinnenden Autor zum „nichtigen Schauspiel“ werden, doch zugleich ist es ein erster Schritt hin zu jenen literarischen und bildkünstlerischen Höhenblicken, die vom 16. Jahrhundert an, vor allem aber im 18. Jahrhundert geradezu zum Paradigma einer säkularen Erhabenheit und ästhetischen Maiestas werden.18
In christlichem Sinn kann der beschwerliche Weg im Gebirge derjenige sein, zu dem sich der Fromme entschließt, während der träge Sünder den bequemen Weg im Tal der Sünden bevorzugt. Dieses Y-Modell des christlichen homo viator, dem „Herkules am Scheideweg“ verwandt, findet sich überaus häufig in christlicher Bildkunst – bis hin zu CASPAR DAVID FRIEDRICH, dessen Herbst-Blatt aus dem Lebensalter-Zyklus (1826) ein Paar zeigt, dessen gemeinsamer Weg sich gerade trennt. Wie der Soldat den Weg, vorbei an Siegesmonumenten, zur Stadt wählt, die aus der Ferne mit versprechender Pracht winkt, so trennt sich die Frau vom Soldaten, um seitwärts den beschwerlichen Felspfad hinauf ins einsame Gebirge einzuschlagen: der gute Weg. Diesen Typus und Anti-Typus formulierte schon der Schweizer Gelehrte KONRAD GESNER, einer der frühesten Naturforscher der Alpen, 1541 in einem Brief an JACOB AVIENUS: „Welch eine Wonne, welche – glaube mir – Ergötzung des Geistes, anders gesagt: des Gefühls, die Ansicht riesiger Bergmassen zu bewundern und das Haupt gleichsam inmitten von Wolken zu erheben. Ich weiß nicht, wie es kommt, daß die Seele auf staunenswerter Höhe eine Erschütterung erfährt und zur Betrachtung jenes höchsten Baumeisters hingerissen wird. Menschen trägen Geistes jedoch bewundern nichts, sie sitzen zu Hause, gehen nicht hinaus zu dem theatrum der Welt, ziehen sich wie Ratten im Winter in ihre Ecken zurück, ohne zu begreifen, daß die menschliche Gattung deswegen inmitten der Welt geschaffen wurde, um aus ihren Wundern die höchste Gottheit besser zu erkennen.“19 Hier verbindet sich das christliche Y-Modell mit der Formel Ciceros vom contemplator coeli, der um der Erkenntnis Gottes willen geschaffen wurde. Die Berge gehören bei Gesner zu den „Ansichten des irdischen Paradieses“.
5 Orte des Schreckens – Lange währen indes noch die Deutungen,20 die die Gebirge zu Geschwüren und Warzen des Erdballs degradieren, bar jeder Annehmlichkeit, jeden Reizes, jeder Schönheit, Inbegriffe des Schrecklichen und Häßlichen. Dies gilt noch für HENRY MORE, neben RALPH CUDWORTH Kopf der Cambridge Platonist School: für ihn waren „die formlos hin geworfenen Berge nichts als Geschwülste und Höcker auf dem Antlitz der Erde“.21 Man darf nicht vergessen, daß GALILEIS Entdeckung der Mond-Berge und -krater, ebenso wie die der Sonnenflecken, zwiespältig aufgenommen wurde. Galilei selbst sah in ihnen, wie seine Mondzeichnungen zeigen, die künstlerische Herausforderung22 und ebenso den Beweis, daß die Erde, entgegen ihrer aristotelischen Niedrigschätzung, ein Stern unter Sternen ist. Der Ingolstädter Jesuit und Astronom CHRISTOPH SCHEINER, dem, gegenüber Galilei, der frühere und bessere Experimental-Nachweis der Sonnenflecken gelang (1611), konnte solche Makel (macula) an einem platonisch idealgeometrischen Himmelskörper aus kosmoästhetischen Gründen nicht ertragen und erklärte die Flecken zu Schatten vorüberziehender Materiewolken bzw. unbekannter Kleinsterne. Gestirne wie ursprünglich die Erde waren als regelmäßige Körper geschaffen, makellos und ohne die kranken Tumore der Berge. Die langwährende Verurteilung der Berge hängt mit der mächtigen Tradition der christlichen Kosmo-Ästhetik zusammen, in der ausgemacht war, daß Gott die Welt nach Gesetzen der Schönheit geschaffen hat; darum galt Gott, aber auch die figurierte Natura, dem Mittelalter als ein Künstler (artifex).23 Die offenbare Regellosigkeit der Gebirge konnte deswegen nicht auf Gott zurückgehen. Eine Ästhetik, die das Maß- und Ordnungslose integrierte, gab es bis 1750 nicht. Darum mußte das Gebirge als locus terribilis24 wahrgenommen werden, abstoßender Aussatz einer aus der Schöpfungsordnung gefallenen Natur (natura lapsa). Das beförderte religiös-geognostische Spekulationen über den Ursprung dieser Ungestalten.
Eines der spätesten Zeugnisse dieser Tradition stammt vom 1.9.1780 „morgens um 4 Uhr“ aus der Feder des paganen WILHELM HEINSE, als er LUDWIG GLEIM von einer Schauer weckenden Geistbegegnung am Gotthard berichtet:25 „Aus dem grauen Altertume der Welt, aus den Ruinen der Schöpfung schreibe ich Ihnen, wogegen die Ruinen von Griechenland und Rom zerstörte Kartenhäuserchen kleiner Kinder und nicht einmal das sind.“ Der Text markiert die kulturgeschichtliche Schwelle zwischen der uralten Tradition, in welcher die Berge als Orte göttlicher Offenbarung galten, und einer säkularen Ästhetik, welche gerade noch den Schauer angesichts der Gott-Natur kennt und doch schon die Stichworte bereitstellt für die touristische und ästhetische Verfügbarmachung der Gebirge. So glaubt sich der nächtliche Wanderer Heinse auf dem Gotthard am „Ende der Welt“, angelangt im „Gebeinhaus der Natur“: „Statt der Totenknochen liegen ungeheure Reihen von öden Steingebürgen und in den tiefen Tälern auf einander gehäufte Felsentrümmer da. […] Schauer wie ein Erdbeben gingen durch mein Wesen.“ Heinse ruft hier noch einmal die leibmetaphorische Parallelität geophysiologischer Gefüge mit der menschlichen Anatomie auf, die besonders für Leonardo charakteristisch war, der eine regelrechte „Anatomie der Erde“26 entwarf, in der die Gebirge das Skelett des Erdleibes bildeten. Diese Parallelität von Erde und Körper ist es, die Heinse erschüttert und auf die Epiphanie des Genius der Natur vorbereitet. Wie der Erdgeist in GOETHES Faust I27 den ungläubig-gläubigen Protagonisten, so stutzt der Gotthard den Reisenden aufs Maß seiner irdischen Kleinheit zurück. Also spricht der Berggeist: „Auch hier war einmal ein Eden, schöner als Genf und Vevey in dem bezaubernden Tale, wo der wilde Rhodan von seinen Stürmen ausschnaubt und in süßem Schlummer heiter hin wallt, und schöner als die Gefilde, wo die Provenzalerin schon zum Schlag der Trommel tanzt. Ich stieg einer der ersten aus den Wassern hervor, und unter den kühlen Schatten meiner Pomeranzenwälder pflegten die neugeborenen Kinder der Erde der jungen Liebe. O goldner Traum meiner Jugend in viele Jahrtausende hinein […]. Kannst Du glauben, daß ich immer Fels war, ohne Pflanze, Halm und Staude? Und siehst du nicht, daß jeder grüne Berggipfel auch nach und nach so wird? Aber ich bin so alt, als dein Schmetterlingskopf mit seinem weichen tagdauernden Hirn nicht auszudenken vermag. Zwar bin auch ich aus einem Element ohne Größe […] einer der gewaltigsten Körper der Erde geworden, der noch jetzt mit seinen Knochen die Furka und den Grimselberg, das Wetter- und Schreckhorn hinunter ungeheuer daliegt […]. Ich bin der Anfang und das Ende. Erkenn in mir die Natur in ihrer unverhüllten Gestalt, zu hehr und zu mächtig und heilig, um von euch Kleinen zu euren Bedürfnissen eingerichtet und verkünstelt und verstellt zu werden. Jedes Element ist ewig wie die Welt, und kann weder erschaffen noch vernichtet werden; und alles andre wird und ist und vergeht […]. Nun geh hin, dir ist das Evangelium gepredigt!“
Dies ist eine eigentümliche Mischung aus neuheidnischer Kontroverspredigt der Natur und Geologieunterricht am Gotthard. Unschwer ist zu erkennen, daß Heinse hier Leitmetaphern aufnimmt, wie sie der berühmte THOMAS BURNET (Telluris theoria sacra, 1689/91) entwickelt und noch der junge LEIBNIZ (Protogaea, 1693) vertreten hatten: Die schroffen Ungestalten der Gebirge sind erdgeschichtliche Ruinen einer globalen Katastrophe, der Sintflut nämlich. Nach Abfluß der Wasser trat die allüberall gebrochene, wüst aufgetürmte und zerklüftete, ehemals jedoch in harmonischer Kreisgestalt gefaßte Erdkruste erschreckend vor Augen. Gebirge sind für Burnet die Erinnerungsnarben einer metaphysischen Verwerfung im Verhältnis zwischen Mensch und Gott, darum im Betrachter Schauder auslösend, an die alte Erbschuld gemahnend, die die Natur in den Fall einbezog: darum ist sie natura lapsa, steingewordenes Monument der Sintflut. Zu Anfang des Jahrhunderts hatte der Naturforscher JOHANN JAKOB SCHEUCHZER, fußend auf JOHN WOODWARD (Essay toward a Natural History of the Earth, 1695), in pflanzlichen wie tierischen Versteinerungen der Schweizer Alpen Relikte der Sintflut ausgemacht und sogar das Skelett eines dabei ertrunkenen Menschen zu entdecken geglaubt: homo diluvii testis (Specimen Lithographia Helvetica, 1702), welches der Paläontologe und Katastrophentheoretiker GEORGES CUVIER freilich als Fossil eines Riesensalamanders entlarvte.28 Wie auch immer: Entscheidend ist die Verschiebung der metaphorischen Matrix, die sich, noch innerhalb des christlichen Rahmens, an den Gebirgen vollzog. Vom caput diabolus verwandelten sich die Berge zu einem geoarchäologischen, 1715 von JOHANN GOTTFRIED GREGORIUS in lexikalischer Form aufbereiteten Archiv,29 aus dem sich die Dramen der Erdgeschichte ablesen ließen. Das schrundige Antlitz der Terra, wie es Burnet im allegorischen Denkbild der Erd-Ruine entwirft, initiiert eine wissenschaftliche Debatte, in der die Berge à la longue zum Objekt empirischer geognostischer Forschung wurden: ein entscheidender Schritt einmal in Richtung auf die Entdeckung der Tiefendimension der Erd-Zeit,30 die nur in Jahrmillionen abmeßbar ist, zum anderen zur Säkularisierung des metaphysischen Schreckens, der in den Bergen lokalisiert wurde.
Heinses Berggeist folgt zwar Burnets Genealogie der Berge aus der in der Sintflut kollabierten Erdkruste. Doch kennt Heinse bereits die Tiefenzeit, wie sie der Tendenz zur Temporalisierung des Wissens entspricht: Diese löste zwischen Burnet, CHARLES BUFFON (Histoire naturelle, générale et particulière, avec la description du Cabinet de Roy, 1750–51) und dem Geologen JAMES HUTTON (Theory of Earth, 1788) bis hin zu CHARLES LYELL (Principles of Geology, 1830–33) eine wahre Explosion der zeitlichen Horizonte der Erdgeschichte aus. Davon wurde – nicht nur bei Heinse, sondern ebenso bei HERDER, Goethe, HÖLDERLIN, ALEXANDER VON HUMBOLDT – die ästhetische Wahrnehmung der Berge geprägt: Ihr Erhabenes ist nicht mehr nur ein Effekt ihrer Größe, sondern vor allem davon, daß sie historische Zeugen der Erdentstehung sind. Gebirge als „Ruinen der Schöpfung“ – in Form von Petrefakten und Fossilien tragen sie die Spuren fernster Vergangenheit wie ein dingliches Archiv. Sie erinnern ferner daran, daß das Steinerne durch alle erdgeschichtlichen Revolutionen hindurch in den ephemeren Menschen „ein hohes Gefühl von ewiger Festigkeit“ rechtfertigt.31 Gerade das Schauerlich-Schreckliche der Gebirge, ihr Totes und Skeletthaftes verleiht der Erdgestalt ihr Festes und Tragendes, dessen unser Lebensgefühl, ausgesetzt den Kontingenzen der Geschichte, bedarf: weswegen denn auch, wie sich 1755 in Lissabon schockartig erwies, Erdbeben auf die Zeitgenossen so verstörend wirkten.
6 Zeugen des Paradieses und der Freiheit – Zum anderen werden Gebirge zu unverlierbaren Zeugen eines Paradieses, das die Natur für den Menschen einmal gewesen ist. Die Gebirge können so das Bild einer unverfügbaren, erhabenen wie zugleich einer menschenfreundlichen Natur aufnehmen. Dabei bildet die Physikotheologie einen wichtigen Übergang. Ihr durchweg metaphorischer Schluß von den Dingen der Welt, so chaotisch und kontingent sie erscheinen mögen, auf einen Weltbaumeister, der in seine Schöpfung eine teleologische Ordnung gelegt habe, bildet in der Frühaufklärung das Initial, die Ordnung der Dinge als eine vernünftiger Zweckhaftigkeit entgegenkommende, menschenkonforme Einrichtung zu deuten. So ist auch den schrecklichen Bergen Nutzen und Zweck abzugewinnen: BARTHOLD HINRICH BROCKES etwa vermag, innerhalb seiner umfassenden Alphabetisierung der Welt von der Ameise bis zum gestirnten Himmel, auch den erschreckenden Bergen eine Unzahl nutzenteleologischer Vorteile zu entlocken.32 Wenngleich KANT später dem physikotheologischen Gottesbeweis, bei aller Achtung, ebenso den Garaus macht wie er die Naturteleologie auf eine konjunktivische Potentialität einschränkt, so ist doch die Bedeutung der Physikotheologie, die durch ihre bedeutendsten englischen Vertreter WILLIAM DERHAM33 und den Botaniker JOHN RAY34 sowie den Derham-Übersetzer JOHANN ALBERT FABRICIUS und den Philosophen CHRISTIAN WOLFF35 Verbreitung fand, kaum zu unterschätzen: Hier bereitet sich der wissenschaftlich-technische, nüchterne und auf den Menschen zentrierte Zugriff auf den gesamten Naturraum vor. Für die teleologische Interpretation der Lithosphäre aufschlußreich ist besonders der Theologe und Naturforscher FRIEDRICH CHRISTIAN LESSER.36
Die vormals sinnlos-häßlichen Berge erhalten dabei, neben all ihren Nützlichkeiten, einen spezifisch kulturkritischen Sinn: Ihre Ferne zur städtischen Zivilisation sichert ihnen die symbolische Funktion, den kritischen Einspruch zur desorientierten und verkünstelten Kultur ins Bild zu setzen.37 Seit ALBRECHT VON HALLER ist die alpine Bergwelt identisch mit versöhnter Natur und befriedeter Gemeinschaft: Schreckbild Stadt und Wunschbild Berg (Die Alpen, 1729; Versuch schweizerischer Gedichten, 1732). Darin besteht, über ihre imposante Statur und ihr unerschöpfliches Alter hinaus, ihre neue Dignität, die sie zur ästhetischen wie moralischen Wertschätzung tauglich macht.
Die zur Freiheit idealisierten Berge sind ein Reflex auf wirtschaftliche Umwälzungen in den Städten. Doch diese Zeichen der Freiheit und Schönheit, welche dem Menschen auf den Gipfeln, ihn sittlich wie ästhetisch hebend, winken, führen innerhalb weniger Jahrzehnte dazu, daß die Alpen zum Tummelplatz des frühen Massentourismus werden. Eine vertrakte Dialektik bewirkt, daß dieselben Motive, die Heinses Gotthard-Geist zu einem frühen Prediger des Gebirgsschutzes werden lassen, eben diese Gebirge den Folgen des Tourismus preisgeben.38
7 Monumente des Erhabenen – Historisch kaum einen Wimpernschlag und doch fremdartig und unvorstellbar weit zurück liegen die ergriffenen Schilderungen, welche die Alpen-Reisenden, oft auf dem Weg nach Italien, im 18. Jahrhundert hinterlassen haben. Sie stehen im Bann der Ästhetik des Natur-Erhabenen, welches die Nachfolge der religiösen Erhabenheit angetreten hat. Menschenleere Wüsten und Meere mit wilden Küsten, schroffe Felsmassen und dräuende Abstürze, aufragende Gipfel und die entfesselten Elemente wurden gezielt aufgesucht, um im Angesicht einer gewaltigen, (noch) nicht beherrschten Natur die „Grenzen der Menschheit“ (Goethe) zu erfahren oder auch, bei aller physischen Kleinheit, sich als überlegenes Vernunftsubjekt innezuwerden – wie es Kant wollte.
Den Ausgangspunkt bildete PSEUDO-LONGINUS’ Schrift Vom Erhabenen (1. Jh. n. Chr.), übersetzt in viele europäische Sprachen. Zwar wurde darin mit dem Ätna schon ein Berg als Beispiel des Erhabenen erwähnt, doch richtungsweisend wurde die Schrift für die Poetik des erhabenen (hohen) Stils, der seinerseits die ästhetische Wahrnehmung von Natur zu prägen begann. Überalltäglichkeit, Großartigkeit, Weite, Übermaß, Bedrohung und Furcht bilden die gleichsam psychophysiologische energeia der erhabenen Redefiguren – im Gegensatz zum Schönen. Dies bot für die Poetiken und philosophischen Ästhetiken seit ANTHONY A. C. SHAFTESBURY (A Letter Concerning Enthusiasm, 1708) und JOSEPH ADDISON (Pleasures of Imagination, publ. im Spectator 1712) das Initial zur Ausarbeitung eines Erhabenen, das die vormals abscheulichen Berge zu nobilitieren vermochte. Hierbei ging es um das Kontrastgefühl des lustvollen Schauders oder angenehmen Schreckens39 angesichts der „Ruinen über Ruinen, ein ungeheures Trümmerfeld“, wie JOHN DENNIS 1688 sein Alpenerlebnis faßte, um sein „Entsetzen“ und die „fast mit Verzweiflung gemischte Erhebung“ mit „Annehmlichkeit“ und „Meditation“ zu verbinden, um so einen „Einklang mit der Vernunft“ herzustellen. „Angst“ mit „Bewunderung“ und vernünftigem Selbstbewußtsein zur Widerspruchseinheit „wonnevollen Entsetzens“ gebracht: Das konstituiert das Erhabene.40 WILLIAM GILPIN dagegen lancierte in seinen furiosen Reiseschilderungen des kargen und wilden Englands, Wales’ und Schottlands eine andere, neue ästhetische Kategorie: das Pittoreske, das sogleich europaweit auch die Wahrnehmung wie Darstellung der Berge in ihrer malerischen Mannigfaltigkeit (rough style) prägte und zur bevorzugten Ästhetik auch des beginnenden Alpentourismus wurde.41 Zwischen 1774 und 1798 entstehen die monumentalen textlichen und durch rauhe Aquatinten illustrierten Dokumente seiner Reisen. Das Pittoreske war die Form einer ästhetischen Schätzung des Wilden, ohne dieses zur moralischen Herausforderung des Selbstbewußtseins werden zu lassen.
Die Wildnis der Berge mit Freiheit zu verbinden, ist ein literarischer Topos, der wenigstens seit JAMES THOMSONS The Seasons (1726–30, rev. 1744) und zeitgleich seit Hallers Alpen (1729) Verbreitung fand. Freiheit verband sich nun mit einer Ästhetik des Rauhen (roughness) und der regellosen Mannigfaltigkeit, wie man sie idealtypisch im Gebirge vorfand (sie hebt besonders der Ästhetiker SULZER immer wieder hervor). Schrecken und Düsternis (gloom) der Berge sind der gleichsam natürliche affektive Korrespondent einer Freiheit, die sich im schroffen Milieu von Felsen, Wasserfällen und Abgründen bewährt. Der Gipfelblick, das freie Auge in panoramatischer Souveränität belohnt nicht nur das Bestehen von Angst, sondern wird zum positiven Paradigma der Freiheit überhaupt. ALEXANDER VON HUMBOLDT, leidenschaftlicher Bergsteiger und Montanwissenschaftler, der seine Wissenslandschaften gern im Stil des Gipfelpanoramas anlegt, zitiert nicht umsonst in der Vorrede zu den Ansichten der Natur (1807) die Verse 2585ff. aus SCHILLERS Braut von Messina: „Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte/Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte;/Die Welt ist vollkommen überall,/Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.“42 Bergeshöhen, Erhabenheit und Freiheitspathos fusionieren besonders im deutschen Idealismus, in rousseauistischer Kulturkritik sowie im topischen Lobpreis der Schweizer Demokratie, deren Bedingung geradezu mit der Freiheit der Bergwelt gleichgesetzt wird.43 So plaziert SCHELLING in seiner Schrift Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) den Menschen metaphorisch „auf jenen Gipfel […], wo er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen gleicherweise in sich hat: das Band der Principien in ihm ist […] ein freies. Er steht am Scheidepunkt“. Auf diesem Gipfel kann freilich den Menschen die „Lust zum Creatürlichen“ überwältigen, „wie den, welchen auf einem hohen und jähen Gipfel Schwindel erfaßt, gleichsam eine geheime Stimme zu rufen scheint, daß er herabstürze“.44
Dies war auch die Richtung, in der Kant das Erhabene entwickelte. Das Erhabene ist für Kant zuerst eine Erfahrung massiver affektiver Dissonanzen, objektiver und subjektiver Disproportionen und damit einer Gefahr: „Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt […] u. dgl. machen unser Vermögen zu widerstehen, im Vergleich mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit.“45 Derartige Schilderungen wilder Natur finden sich in der Literatur dieser Zeit zuhauf und in der Kunst dramatisch ins Bild gesetzt. Im Rückschluß heißt das: Das Schöne ist die ungefährliche, kleinräumige, beherrschte Natur. Wie Garten und locus amoenus seit jeher den Archetyp des Naturschönen bilden, so rücken, innerhalb des Projektes bürgerlicher Naturbeherrschung, mit dem Erhabenen der Berge und der Wildnis die noch umkämpften Zonen des Naturreichs in die ästhetische wie wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Die Ästhetik des Erhabenen ist eine Konzeption, um in einer vortechnischen Dimension – dem Imaginären – die Angst vor übermächtiger Natur beherrschen zu lernen. Dafür sind die Berge der psychophysische Prüfstein par excellence; und die montanen Metaphern einer neuen pathetischen Poesie des Erhabenen sind das Feld der sprachlichen Aneignung des ehemals Unverfügbaren, Heiligen und Dämonischen. Berge sind das Purgatorium der Phantasie. Gerade die vorgestellte erhabene Natur, vor der man als physisches Subjekt klein und schutzlos ist, weckt „eine Selbsterhaltung ganz anderer Art“, nämlich die Selbstbefestigung zu einem wahrhaft erhabenen Subjekt, das in sich „eine Überlegenheit über die Natur selbst in ihrer Unermeßlichkeit“ findet.46 Das Erhabene BURKES verwandelt Kant zu einer transzendentalen Prozedur: Geht es im Schönen um jene Allgemeingültigkeit des Urteils, nach der die Natur in ihrer entgegenkommenden Angemessenheit für den Menschen qualifiziert wird, so im Erhabenen um die Allgemeingültigkeit, mit der das Subjekt sich selbst zu seiner universellen Souveränität aufruft – in Absetzung von der wilden Natur.
Hochgebirge, Vulkane, Erdbeben, Wasserfälle sind Topoi der philosophischen Diskussion und der Reiseliteratur, zugleich aber die realen Grenzräume, auf die sich technische oder wenigstens wissenschaftliche Erschließungsprozesse beziehen. Das Hochgebirge ist eine der letzten terrestrischen Bastionen der Unwegsamkeit und schematisiert die (unendliche) Größe der Natur. Es ist jedoch auch die Zone, in welcher die menschlichen Künste (Mineralogie, Montanbau, Geognosie) sich zu bewähren haben. Das Hochgebirge wird zudem verkehrstechnisch erschlossen und zum bevorzugten Raum der pittoresken Reise-Mode. Das Erdbeben von Lissabon 1755, dem Kant sogleich mehrere Schriften widmete und das er (vulkanistisch denkend) auf einen unterirdischen Feuersturm zurückführte, stellt bewußtseinsgeschichtlich einen epochalen Einschnitt dar. Es zerstört die alteuropäischen Sicherungssysteme der Metaphysik, besonders der Theodizee und Physikotheologie; es treibt die physische Endlichkeit und metaphysische Obdachlosigkeit des Menschen hervor, wodurch – im Gegenzug – gewaltige philosophische Anstrengungen für die säkulare Selbstbegründung des menschlichen Daseins erforderlich wurden. Kants Philosophie ist in toto die Bewältigung der ungeheuren Erschütterung und Angst vor der Natur, die, ausgehend vom Erdbeben in Lissabon, als Beben des Bewußtseins durch ganz Europa lief.47 Die Pointe des Erhabenen, ob es sich am Hochgebirge, Wasserfällen, Meeresstürmen oder Naturkatastrophen darstellt, ist deswegen: „Also ist die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserm Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur […] außer uns, überlegen zu sein uns bewußt werden können. Alles, was dieses Gefühl in uns erregt, wozu die Macht der Natur gehört, welche unsere Kräfte auffordert, heißt alsdenn (obzwar uneigentlich) erhaben.“48
8 Montanwesen – Lange vor der geologischen, ästhetischen und touristischen Erschließung der Gebirge hatte deren Säkularisierung im Bergbau begonnen, der weit in die Antike zurückreicht. Montankunst hatte noch im christlichen Mittelalter einen durchaus sakralkulturellen Charakter. Überwiegend herrschte eine theozentrische Interpretation von Montanwissen und -technik. Die Erze, Mineralien, Reichtümer der inneren Erde dokumentierten die magnalia dei. Gott hatte die Erze nicht umsonst ins Unwegsame der Gebirge und deren verborgener Tiefe versenkt. Sie zum Zweck der Bereicherung herauszureißen, stellte eine Verletzung des integralen göttlichen Leibs der Erde bzw. von Gottes Schöpfung dar. Man wußte vom Fluch der Metalle, der den Weltgang vom Goldenen bis zum Eisernen Zeitalter in die tragische Logik des Unheils einspannte (so schon seit HESIOD, also etwa seit 700 v. Chr.). Um hier Legitimationen für den Bergbau zu schaffen, bettete man ihn in fromme Rituale und symbolische Ordnungen ein, obwohl natürlich auch im Mittelalter klare Regalrechte und ökonomische Interessen walteten. Das Innere der Erde hatte zwar sakrale Bedeutung, war jedoch Besitz der Landesherren. Es sind vor allem die Bergleute selbst, die eine Sakralkultur des Montanbaus entwickeln, deren letzte Spuren noch bei Goethe, NOVALIS, TIECK, E. T. A. HOFFMANN und anderen zu beobachten sind.49 Die Christianisierung des Bergbaus verdrängte die heidnischen und volksreligiösen Deutungsweisen des Gebirges und des Bergbaus. Der Heiligen- und Marienkult drang in den Bergbau ein und beherrschte weitgehend die sakralkulturellen Praxen der stadtfernen Bergbau-Zentren. Die heilige Anna beispielsweise ist die Erzmacherin; sie wird „zu jenem Mutterschoß, metallisch gesehen, zu jenem Bergwerk, das die edlen Metalle spendet“.50 Durch solche Deutungsmuster versuchte man, alte Gottheiten – wie z.B. Hathor-Hekate-Isis als Göttin des Unterraums und Bergwerks oder Path-Hephaistos, den Schmiedegott – zu verdrängen. Christus besetzt die metallurgisch-alchemistischen Symbole Sonne und Gold, Maria den Mond und das Silber.
Mit Hilfe solcher Symboltechniken gelang es, das Sakrileg zu überwinden, das jede technische Ausbeutung des Berginneren tendenziell zu einem Vergehen machte. Diese ethisch-religiöse Ambivalenz im Montanwesen findet sich noch im Iudicum Iovis oder Das Gericht der Götter über den Bergbau (1496) von PAULUS NIAVIS; sie wird indes schon von GEORG AGRICOLA in seinem technischen Lehrwerk über den Bergbau De re metallica (1556) entschlossen überwunden. Von hier geht eine wachsende Kraft zur Verwissenschaftlichung der Gebirge aus, die im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt fand. Die ErhabenheitsÄsthetik kann in diesem Prozeß der Zivilisierung der Berge als das letzte Kapitel betrachtet werden, das in Form poetischer Metaphoriken den Bergen noch etwas von ihrer archaischen und religiösen Macht zugesteht. Doch zugleich wird die Naturmacht in die subjektive Verfügung des aufgeklärten Menschen gerückt, der diese nahezu letzte Bastion des Menschenfremden zu erobern sich anschickt, und sei’s in Form poetischer Sprache. Ja, die Verwissenschaftlichung der Berge sowie der einsetzende Bergtourismus der meist schriftstellernden Reisenden sind komplementär zur Konjunktur der poetischen Montanmetaphoriken und bildkünstlerischen Vergegenwärtigung der Bergwildnis zu sehen. Das archaisch Unverfügbare der Berge hat sich ins Imaginäre, in Metaphern und bildnerische Vergegenwärtigungen zurückgezogen und begleitet den Prozeß der technischen Verfügbarmachung des Montanen als eine Reflexionsebene, die die unumkehrbare Säkularisierung der Berge mit ästhetischer Achtung und zunehmend auch ökologisch mit Schonung einer Naturzone verbindet, vor der sich die Menschen jahrtausendelang zu schützen hatten, während die Berge nun ihrerseits vor den Menschen geschützt werden müssen.