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Krieg, Staat und Gesellschaft

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In der Moderne ist keine Form staatlicher Gewalt dem Genozid strukturell so ähnlich wie der Krieg. Beide unterscheiden sich in ihren Zielen und Bedingungen – Krieg richtet sich in seiner klassischen zwischenstaatlichen Variante primär gegen Kombattanten; Genozid hat für diejenigen, die töten, in der Regel weniger Risiko als die Teilnahme an einem militärischen Konflikt, doch ist ihnen das massenhafte, von der Disposition des Täters unabhängige Töten von zu Feinden erklärten Menschen gemeinsam. Auslöser der Tötungshandlungen kann staatliche Propaganda sein, doch ist auch bei nachhaltiger Dehumanisierung des Feindes direkte oder indirekte Partizipation von Seiten der Bevölkerung unverzichtbar. Brutalisierung und Wille zum Töten können, wie wir am Beispiel Ruandas gesehen haben, eher Folgen des Krieges als seine Ursachen sein. In der Regel resultiert Gehorsam im Krieg aus zwei Triebkräften: Loyalitätsgefühl und Zwang. Wo Loyalität als verantwortungsethischer Faktor fehlt, etwa wenn es einem Regime an Legitimität mangelt oder der Krieg nicht als „gerecht“ erscheint, schafft der Staat Anreize, meist in Gestalt der Drohung mit negativen Sanktionen für jene, die sich der Teilnahme verweigern. Alternativ kann ein Regime Söldner oder paramilitärische Helfer anwerben, die entweder seine Ziele teilen oder eigene, etwa materielle Interessen verfolgen. Deutlich stärker ist der staatliche Konformitätsdruck in bürgerkriegsartigen Konflikten, die die Bevölkerung zwingen, sich aktiv für die eine oder andere Seite zu entscheiden, doch spielen auch hier für das Handeln des Einzelnen spezifische, oft örtlich-situativ gebundene Faktoren eine wichtige Rolle.22

Viele dieser Beobachtungen treffen auch für genozidale Gewalt zu, wie sich an den Beziehungen zwischen herrschendem Regime einerseits und Staat und Gesellschaft andererseits zeigen lässt. Wenngleich es sich bei Genoziden um eine Art ideologischen Krieg handelt, folgt daraus (ebenso wenig wie im Fall von Bürgerkriegen) noch nicht, dass jeder Teilnehmer an Tötungshandlungen Überzeugungstäter sein muss. Zur Veranschaulichung dient uns wiederum der Fall Ruanda, wo die Partizipationsrate am Genozid etwa um das Zehnfache höher lag als in Deutschland zu Zeiten des Holocaust.23 Will man nicht der rassistischen Karikatur von den „afrikanischen Wilden“ aufsitzen, so verlangt diese erstaunliche Partizipationsrate nach Erklärung. Zwar sahen viele Hutu-Täter vor dem Genozid in den Tutsis Fremde, was vor dem Hintergrund der auf Betonung vermeintlicher Stammesunterschiede ausgelegten belgischen Kolonialstrategie kaum verwundern kann, doch führte dieses Ressentiment nicht notwendigerweise zu Feindschaft. Auf lokaler Ebene war stammesübergreifende Interaktion verbreitet; noch in den ersten Tagen nach dem gewaltauslösenden Abschuss des Flugzeugs von Präsident Juvenal Habyarimana am 6. April 1994 bestanden einige der von den Präfekturen zur Friedenssicherung eingesetzten Milizeinheiten aus Hutus und Tutsis. Dass sich die Hutu-Mitglieder dieser Milizen kurz darauf massiv als Mörder hervortaten, kann mit dem Verweis auf tiefgreifende interethnische Gegensätze allein nicht erklärt werden.24

Der Genozid in Ruanda war Teil des Bestrebens eines Teils der etablierten Eliten im Land, den nach ihrer Ansicht angemessenen Grad gesellschaftlicher Vorherrschaft der Hutus zu sichern. Zwischen 1990 und 1994 deuteten sie die ebenso vielfältigen wie komplexen Veränderungen des politischen Status quo zu simplen Ausformungen interethnischer Rivalitäten um. Besonders bedrohlich wirkte die militärische Herausforderung durch die Ruandische Patriotische Front (RPF), in deren Reihen vor allem Exil-Tutsis kämpften und der es gelungen war, neben der Herrschaft über den Nordosten des Landes auch internationale Unterstützung für ein power-sharing-Übereinkommen zu gewinnen. Die Regierungspartei Mouvement Républicain National pour la Démocratie et le Dévelopement (MRNDD) und die extremistische Coalition pour la Défence de la République (CDR) bemühten sich, die gesamte Tutsi-Minderheit als Fünfte Kolonne in einer Zeit nationaler Krise zu stigmatisieren. Neben den bis zu 800.000 ermordeten Tutsis fielen dem Genozid zehntausende Hutus zum Opfer, unter ihnen viele politische Oppositionelle und gemäßigte Befürworter des power-sharing, aber auch solche, die ihre übereifrigen Mörder mit Tutsis verwechselten.

Dem Grad der Entschlossenheit der Planer, tatsächliche und imaginierte Gegner physisch zu vernichten, entsprach die Teilnahmebereitschaft in Verwaltung und Bevölkerung. Zusätzlich zu MRNDD und CDR stellten Mitglieder des Verteidigungsministeriums, der Armee sowie der Wirtschafts- und Regionaleliten die Anführer der Mordaktionen. Diejenigen, die die Gewaltaktionen vor Ort leiteten, kamen vor allem aus den Reihen der Regional-, Kreis- und Ortsadministration, der Armee, Gendarmerie und den Milizen der MRNDD (Interahamwe) und der CDR (Impuzamugambi). Anhand der Milizen lässt sich nicht nur die Bedeutung außerstaatlicher Tatbeteiligter verdeutlichen, sondern auch die Schlüsselrolle jugendlicher Banden bei der Ausstattung örtlicher Machthaber mit genozidalem Handlungspotenzial.25 Aus dem Bündnis von Extremisten und Opportunisten innerhalb und jenseits des Staatsapparats erwuchs der konkrete Antrieb zum Massenmord. Gleichzeitig erhöhte sich der Druck innerhalb der Hutu-Bevölkerung zum Mitmachen, indem jene, die bereits gemordet hatten, von anderen forderten, es ihnen nachzutun, um so ihre eigenen Schuldgefühle durch die Herstellung von Komplizenschaft abzuschwächen.26 Die Vernichtung der Tutsis war Teil des als Nationsbildung verstandenen Versuchs, mittels Massengewalt Hutu-Gesellschaft und internes Machtgefüge zu restratifizieren.

Anders als in Ruanda war im Dritten Reich für die Herstellung von Mittäterschaft die Androhung physischer Gewalt – verkörpert in den Konzentrationslagern – weitaus wichtiger als ihre Anwendung. Der Umstand, dass trotz relativ geringen direkten Partizipationsdrucks so viele Deutsche bei der Ermordung der europäischen Juden mitmachten, lässt sich in unterschiedlicher Weise deuten: dass die meisten Deutschen überzeugte Rassisten waren, dass Deutsche besonders obrigkeitshörig sind, oder dass das Regime wie auch seine Politik als legitimer Ausdruck des „nationalen Interesses“ galt. Für letztere Annahme spricht, dass die Bevölkerungsmehrheit mit den etablierten Eliten in Klerus, Militär und Bürokratie an der Spitze seit dem Sommer 1941 glaubte, bei dem Feldzug gegen die Sowjetunion, innerhalb dessen sich der Genozid vollzog, handele es sich um einen wenn nicht gerechten, so doch gerechtfertigten Krieg. So erklärt sich die Arbeitsgemeinschaft von Funktionseliten und Direkttätern im Rahmen von Organisationen, denen die Sicherung und „Befriedung“ des deutschen Herrschaftsgebiets oblag.

Wie stark zu Beginn des Zweiten Weltkriegs NS-Bewegung, Staat und Gesellschaft miteinander verschränkt waren, zeigt das allgemeine Wissen um die Einstellung des Regimes gegenüber Juden und um die Vorteile des Mitmachens an „von oben“ vorgegebenen Projekten. Das Regime konnte zwar erwarten, dass gewöhnliche Deutsche, selbst wenn sie – wie die Rekruten der Wehrmacht und die Reservisten der Ordnungspolizei-Bataillone – beliebig ausgewählt worden waren, ihre wie auch immer definierte Pflicht tun würden, doch wahrte die NS-Spitze gegenüber der deutschen Öffentlichkeit den Massenmord als, wie Frank Bajohr und Dieter Pohl es treffend formulieren, „offenes Geheimnis“. Lediglich sehr indirekt lässt sich im propagandistischen Streuen selektiver Nachrichten über das Schicksal der Juden durch die NS-Führung eine Parallele finden zur komplizenhaften Involvierung breiter Kreise, wie sie in Ruanda 1994 zu beobachten war.27

Zu den subtileren Aspekten der gegenseitigen Durchdringung von Staatsapparat und Partei gehört die Wechselwirkung zwischen formeller Disziplinierung durch das Regime, die mit dem Berufsbeamtengesetz von 1933 begann, und dem Bemühen um administrative Effizienz. Letztere spielte eine Schlüsselrolle bei der Einbindung politisch oder anderweitig „vorbelasteter“ Beamter, die – etwa in den Reihen der Gestapo – wirkungsvoll und mit den bekannten Folgen für imaginierte oder tatsächliche „Staatsfeinde“ das NS-System stabilisieren halfen.28 Damit transformierte sich auch das Binnenklima der Bürokratie, was wiederum zur Konditionierung ihrer Mitglieder beitrug und Zwangsmaßnahmen zur Sicherstellung interner Kohärenz überflüssig machte.

Weit weniger subtil gestalteten sich die Machtverhältnisse zwischen Deutschen und ihren Helfern in Osteuropa. Um Kollaboration von Seiten der einheimischen Bevölkerung sicherzustellen, ohne die die Besatzungsmacht trotz verbreiteter gegenläufiger rassistischer Vorurteile nicht auskam, bedienten sich NS-Funktionäre sowohl direkter Zwangsmaßnahmen wie auch materieller Anreize, vor allem in Gestalt der geduldeten Teilhabe an der Beraubung und Ausplünderung von Juden. Die Mehrheit des Wachpersonals in Belzec, Sobibor und Treblinka waren sowjetische Kriegsgefangene, von denen viele, wenngleich nicht alle, in den Lagern der Wehrmacht vor der Wahl zwischen sicherem Tod infolge gezielter Unterversorgung und Teilnahme am Judenmord standen.29 Volksdeutsche, die oft als Mittelsmänner zwischen deutscher Polizei und einheimischen Hilfskräften fungierten, sahen sich kaum geringerem Druck ausgesetzt, wenn sie in den Verdacht mangelnder Loyalität gerieten.30

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