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Ursachen und Formen von Partizipation

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Diesem Beitrag ging es darum, dem von vielen Historikern gezeichneten schematischen, gleichsam archetypischen Bild genozidaler Gewalttäter einen Alternativentwurf gegenüberzustellen, der Pauschalkategorien wie „materielle Interessen“, „Druck der Umstände“ oder „Überzeugungsethik“ zugunsten einer differenzierteren, stärker auf den Einzelfall und seinen Kontext abgestimmten Betrachtung überwindet. In der Regel lässt sich das Täterverhalten nicht auf eine alles entscheidende Einflussgröße reduzieren; es resultiert vielmehr aus einer Fülle unterschiedlicher, sozial und kulturell vermittelter Faktoren, deren Wirkung dem Einzelnen nur selten bewusst ist. Zwar beeinflussen persönliche Dispositionen und Glaubenssätze die Bereitschaft zum Mitmorden, doch verweist die Vielzahl der historisch überlieferten Fälle eher auf die Stärke soziopolitischen Drucks, dem nur die Wenigsten zu widerstehen in der Lage sind. Die Frage, warum Menschen am Massenmord teilnehmen, sollte daher ergänzt werden durch die Nachfrage, wie extensiv und enthusiastisch sie mitmachen.

Zum Problem gesellschaftlicher Partizipation bietet der Genozid in Ruanda wichtige Aufschlüsse. Das Täterprofil entspricht hier in etwa den Hauptmerkmalen der Gruppe erwachsener männlicher Hutus im Lande, doch verbergen sich hinter diesem Befund zentrale Unterschiede im Grad der Involvierung.36 Die große Zahl der Mordbeteiligten ermöglichte sowohl die horrende Intensität der Massenmorde als auch ihre arbeitsteilige Organisation, innerhalb derer die einen eher distanziert am Rande, andere wiederum mit großem Einsatz im Zentrum agierten. Druck von Seiten des Regimes bot den wichtigsten Impuls zur Teilnahme und förderte Hass im interethnischen Alltag, während für einige Täter Vorurteil oder Raubgier zusätzlich motivierend wirkten. Viele der enthusiastischsten Mörder außerhalb des Militärs und anderer staatlicher Instanzen kamen aus den Reihen der unterprivilegierten Jugend – Milizen junger arbeitsloser Männer brachten verhältnismäßig mehr Menschen um als jede andere Gruppe – und den vom vorangegangenen Bürgerkrieg radikalisierten „Selbstschutz“-Zellen in den Gemeinden.37

Auch andere Genozide sahen ideologisierte Gruppen mit starken parteipolitischen Affiliationen als Avantgarde der Mordaktivisten. Aus diesem Kern entstanden rasch neue, militaristische Organisationen mit ebenso ergebenen wie opportunistischen Mitgliedern, was die funktionale und geographische Integration des Tötungsapparats verstärkte. Waren erst administrative Schlüsselpositionen erobert, neue, ostentativ überzeugte Gruppen gewonnen, die Konfliktpotentiale jenseits traditioneller politisch-administrativer Grenzen verschoben, folgten fast von selbst die „Gleichschaltung“ bislang unbeteiligter Instanzen und die Ausrichtung der verbliebenen Eliten auf das gemeinsame Ziel, wobei hinreichend Raum blieb für persönliche Bereicherung und Karriereschübe. Hätte im NS-Deutschland ein allgemeiner Konsens bestanden, die „Endlösung“ mittels physischer Vernichtung aller jüdischen Männer, Frauen und Kinder zu vollziehen, wäre die Führungsrolle von SS und Partei verzichtbar gewesen. Der Genozid wäre anders verlaufen, hätten etablierte Staats- und Verwaltungsinstanzen in Deutschland sowie die Bürokratien der mit dem Reich verbündeten Länder ihre Mitarbeit versagt.38 Eine Palette positiver und negativer Anreize sorgte dafür, den Grad institutioneller und individueller Partizipation am Holocaust zu erhöhen, denn ohne die Hilfe anderer Täter mit eigenen Interessen- und Motivationslagen kam die genozidale Kerntruppe nicht aus.

Der neuen herrschenden Norm arbeiteten in diesem wie in anderen Fällen unterschiedliche Akteure entgegen, sei es aus Überzeugung, Furcht, Machtfülle, Karrierismus, Gier, Sadismus, Schwäche oder – was der historischen Wirklichkeit am nächsten kommen dürfte – der Kombination mehrerer Antriebsfaktoren. Angesichts der Heterogenität menschlicher Motivationen und der Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt fällt es schwer, die Bedeutung einzelner Entscheidungskomponenten genau zu ermessen. „Mitmachen“ hatte verschiedenartige Bedeutung für unterschiedliche Akteure, je nachdem, für welche Aspekte des arbeitsteiligen Mordunternehmens sie zuständig waren. Von den Überzeugungstätern abgesehen lässt sich für die Mehrheit der Deutschen an den Mordstätten nicht mit Sicherheit sagen, ob sie aus eigenem Antrieb oder, wie nach dem Krieg oft behauptet, unter Druck handelten.

Als dritte Möglichkeit sollte die Schutzfunktion übergeordneter Direktiven und die Macht des Herrschaftsapparats in ihrer Handlungsrelevanz nicht verkannt werden, ermöglichten sie doch dem Einzelnen, seine persönliche Verantwortung gerade beim Überschreiten der entscheidenden Trennlinie von der Diskriminierung zum Massenmord (also vor der genozidalen Sozialisierung infolge habitueller Gewaltpraxis) abzuleugnen. Was für den Polizisten an der Mordgrube der „Befehl“, war für den Beamten in seiner Amtsstube der „Dienstweg“. Meinte der eine, keine Wahl zu haben, sah sich der andere als unbedeutendes, aber zur Loyalität verpflichtetes Zahnrad einer riesigen Maschinerie. Dieser psychologische Legitimationsmechanismus wirkte selbst dann radikalisierend, wenn die Anordnungen „von oben“ Interpretationsspielräume enthielten und der Dienstweg verschlungen genug war, um den Funktionären vor Ort die Möglichkeit einzuräumen, Milde bei der Amtsführung walten zu lassen. Die Tatsache, dass sie das in der Regel nicht taten, sondern sich stattdessen für ein radikales Vorgehen entschieden, bleibt eines der dringlichsten Probleme der Forschung.

1 Dieser Beitrag basiert auf dem wesentlich umfangreicheren Kapitel „Perpetrators and their Environment: Why did they kill?“ in meinem Buch The Final Solution. A Genocide, Oxford 2009, und entwickelt dessen Argumentation weiter in Richtung einer integrierten Analyse der Faktoren genozidalen Handelns; Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Matthäus.

2 Pierre-Joseph Proudhon: Système des Contradictions Economiques ou Philosophie de la Misere, Paris 1923, Bd. 1, S. 286.

3 Vgl. Irmtrud Wojak: Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay, Frankfurt/M. 2001.

4 Bernward Dörner: Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte, Berlin 2007.

5 Zygmunt Bauman: Modernity and the Holocaust, Ithaca 1989; Michael Herzfeld: The Social Production of Indifference. Exploring the Symbolic Roots of Western Bureaucracy, Chicago 1992, S. 80f., spricht in diesem Zusammenhang von „the ethical alibi of the heartless ‚system‘“.

6 Neil Gregor: Nazism – A Political Religion? Rethinking the Voluntarist Turn, in: ders. (Hrsg.): Nazism, War and Genocide. Essays in Honour of Jeremy Noakes, Exeter 2005; zum Stand der Forschung vgl. Dan Stone, Histories of the Holocaust, Oxford 2010.

7 Jean Hatzfeld: Une saison de machetes, Paris 2003; ich beziehe mich hier auf die Analyse von Luke Fletcher: Turning Interahamwe. Individual and Community Choices in the Rwandan Genocide, in: Journal of Genocide Research 9/1 (2007), S. 25–48, hier S. 29, die ich vollständig teile.

8 Vgl. Nicolas Werth: The Mechanism of a Mass Crime. The Great Terror in the Soviet Union, 1937–1938, in: Robert Gellately/Ben Kiernan (Hrsg.): The Specter of Genocide. Mass Murder in Historical Perspective, Cambridge 2003, S. 215–39; Robert Conquest: The Great Terror. The Great Purge of the Thirties, Harmondsworth 1971, S. 728f.

9 Donald Cameron Watt: Succeeding John Bull. America in Britain’s Place, Cambridge 1984; Chalmers Johnson: MITI and the Japanese Miracle. The Growth of Industrial Policy, 1925–1975, Stanford 1982; allgemein Robert K. Merton u.a. (Hrsg.): Bureaucracy, New York 1952, S. 282–297.

10 Herzfeld, Production, S. 5.

11 Vgl. Hans Mommsen: Der Nationalsozialismus. Kumulative Radikalisierung und Selbstzerstörung des Regimes, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Mannheim 1976, Bd. 16, S. 785–790.

12 Rüdiger Hachtmann/Winfried Süss (Hrsg.): Hitlers Kommissare. Sondergewalten in der nationalsozialistischen Diktatur, Göttingen 2006.

13 Vgl. die beiden ersten Beiträge in Hachtmann/Süss, Kommissare; sowie Mommsen, Nationalsozialismus; Diemut Majer: Führerunmittelbare Sondergewalten in den besetzten Ostgebieten, in: Dieter Rebentisch/Karl Teppe (Hrsg.): Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, Göttingen 1986, S. 374–394.

14 Wolf Gruner/Armin Nolzen (Hrsg.): Bürokratien. Initiative und Effizienz, Berlin 2001, S. 12.

15 Pim Griffioen/Ron Zeller: Anti-Jewish Policy and Organization of the Deportations in France and the Netherlands, 1940–1944. A Comparative Study, in: Holocaust and Genocide Studies 20/3 (2006), S. 437–473; David Fraser: The Jews of the Channel Islands and the Rule of Law, 1940–1945, Brighton 2000; sowie die Rezension der Studie von Donald Bloxham in: The English Historical Review 117/470 (2002), S. 226–227.

16 Jan Erik Schulte: Zwangsarbeit und Vernichtung. Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, 1933–1945, Paderborn 2001, S. 459f.

17 Ian Kershaw: Hitler 1889–1936, München 2002, Kapitel 13.

18 Wendy Lower: ‚Anticipatory Obedience‘ and the Nazi implementation of the Holocaust in the Ukraine. A case study of central and peripheral forces in the Generalbezirk Zhytomyr, 1941–1944, in: Holocaust and Genocide Studies 16 (2002), S. 1–22.

19 David Rieff: At the Point of a Gun, New York 2005, S. 97.

20 Gabor T. Rittersporn: Zynismus, Selbsttäuschung und unmögliches Kalkül. Strafpolitik und Lagerbevölkerung in der UdSSR, in: Dittmar Dahlmann/Gerhard Hirschfeld (Hrsg.): Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation, Essen 1999, S. 291–316; Robert Conquest (Hrsg.): The Soviet Police System, London 1968, S. 42f.

21 Martin McCauley: Stalin and Stalinism, London 1995, S. 39.

22 Stathis Kalyvas: The Logic of Violence in Civil War, Cambridge 2006.

23 Derartige Quantifizierungen sind naturgemäß problematisch und abhängig von der jeweiligen Täter-Definition. Vergleichbare Zahlen bei Dieter Pohl: Holocaust. Die Ursachen, das Geschehen, die Folgen, Freiburg 2000, S. 124, der von 200.000–250.000 „deutschen und österreichischen Tätern und Tatbeteiligten beim Judenmord“ ausgeht; Scott Straus: The Order of Genocide. Race, Power, and War in Rwanda, Ithaca 2006, S. 117f., nennt einen Schätzwert von 175.000–210.000 ruandischen Tätern bei einer Gesamtbevölkerung von sieben Millionen, davon etwa 85 Prozent Hutu. (Andere Schätzungen zur Zahl der am Genozid beteiligten Hutus liegen z.T. deutlich höher oder niedriger als die von Straus). Die Gesamtbevölkerung Deutschlands betrug 1933 rund 65 Millionen.

24 Zu den im Folgenden näher ausgeführten administrative Aspekten des Genozids vgl. Allison des Forges: Leave None to Tell the Story. Genocide in Rwanda, New York 1999, S. 4–12, 180–594; Gérard Prunier: The Rwanda Crisis 1959–1994. History of a Genocide, London 1995, S. 237–255; Mahmood Mamdani: When Victims Become Killers. Colonialism, Nativism, and the Genocide in Rwanda, Oxford 2001, Kapitel 7; und Straus, Order.

25 Fletcher, Interahamwe, S. 34–38; Linda Melvern: Conspiracy to Murder. The Rwandan Genocide, London 2004, S. 27–32, 63, 174f.

26 Fletcher, Interahamwe, S. 39; Straus, Order, S. 89, 120.

27 Frank Bajohr/Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006; Peter Longerich: „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006.

28 Vgl. Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. „Heimatfront“ und besetztes Europa, Darmstadt 2000; Robert Gellately: The Gestapo and German Society, Oxford 1990.

29 Peter Black: Footsoldiers of the Final Solution. The Trawniki Training Camp and Operation Reinhard, in: Holocaust and Genocide Studies 25/1 (2011) S. 1–99.

30 Wendy Lower: A New Ordering of Space and Race. Nazi Volksdeutsche Experiments in Zhytomyr, Ukraine, 1941–1944, in: German Studies Review 25 (2002), S. 227–254.

31 Vgl. Klaus-Michael Mallmann/Volker Rieß/Wolfram Pyta (Hrsg.): Deutscher Osten 1939–1945. Der Weltanschauungskrieg in Photos und Texten, Darmstadt 2003.

32 Ebd., S. 7.

33 Emmanuel Levinas: Peace and Proximity, in: Emmanuel Levinas: Basic Philosophical Writings, Bloomington 1996, S. 161–169. Ich danke Ziya Meral für diesen Hinweis.

34 Mit anthropologischem Schwerpunkt Christopher C. Taylor: Sacrifice as Terror. The Rwandan Genocide of 1994, Oxford 1999, Kapitel 3; stärker psychologisch ausgerichtet Alexander Laban Hinton: Agents of Death. Explaining the Cambodian Genocide in Terms of Psychosocial Dissonance, in: American Anthropologist 98/4 (1996), S. 818–831.

35 Dale T. Miller: Pluralistic Ignorance. When Similarity is Interpreted as Dissimilarity, in: Journal of Personality and Social Psychology 53 (1987), S. 298–305; Roy F. Baumeister/W. Keith Campbell: The Intrinsic Appeal of Evil. Sadism, Sensational Thrills, and Threatened Egotism, in: Journal of Personality and Social Psychology Review 3 (1999), S. 210–221; zur Bandbreite der Studien über den Einfluss sozialer Faktoren auf menschliches Verhalten F. D. Richard/C. F. Bond/J. J. Stokes-Zoota: One Hundred Years of Social Psychology Quantitatively Described, in: Review of General Psychology 7 (2003), S. 331–363; angewandt auf den Holocaust besonders Christopher R. Browning: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992; unter Einbeziehung anderer Genozide Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt/M. 2005; James Waller: Becoming Evil. How Ordinary People Commit Genocide and Mass Killing, Oxford 2002.

36 Vgl. Straus, Order.

37 Mamdani, Victims, S. 204–7, 219f.; Straus, Order, Kapitel 4f.; Fletcher, Interahamwe, S. 39.

38 Donald Bloxham: Organized Mass Murder. Structure, Participation, and Motivation in Comparative Perspective, in: Holocaust and Genocide Studies 22/2 (2008) S. 203–245; vgl. auch Gerald D. Feldman/Wolfgang Seibel (Hrsg.): Networks Of Nazi Persecution. Bureaucracy, Business, And The Organization Of The Holocaust, New York 2005.

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