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Regionale Peripherie als Gewaltzentrum

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Ausschlaggebend für die deutsche Herrschaftspraxis im besetzten Osteuropa waren weniger die Faktoren, die im Reich eine zentrale Rolle spielten, als vielmehr die massiv radikalisierenden Folgen der eigenen Kriegsführung, an erster Stelle die Obsession, das eroberte Gebiet so rasch und nachhaltig wie möglich zu „befrieden“. Fast alle nationalsozialistischen Massenmorde fanden außerhalb der Vorkriegsgrenzen des Deutschen Reichs statt, vor allem in Ost- und Südosteuropa. Dort ließ sich nicht nur größere Geheimhaltung insbesondere gegenüber dem Ausland sicherstellen; es herrschten hier auch – real, aber mehr noch in der Vorstellung der Besatzer – andere Verhältnisse, die neue Möglichkeiten für die Wahrung deutscher Interessen boten. Unterschiedliche Instanzen arbeiteten hierbei zusammen, ohne auf die Rivalitäten zwischen den Berliner Zentralinstanzen oder andere handlungshemmende Bedenken, an denen man in Deutschland nicht vorbeikam, Rücksicht nehmen zu müssen.31

Diese Konstellation verweist über den Nationalsozialismus hinaus auf die handlungsrelevante Rolle regionaler und institutioneller Distanz, die in Kolonisations- und Expansionsprojekten vor der Integration eines Territoriums in die jeweiligen staatlichen Strukturen zunächst Zonen schafft, die – etwa als „Wilder Westen“ in den USA oder „Wilder Osten“ im Zweiten Weltkrieg32 – eine Art Kriegsgebiet darstellt, in denen etablierte Verhaltensnormen nicht oder nur eingeschränkt gelten. In diesen Gebieten herrscht Ausnahmerecht, dessen Regeln Militär, Milizen oder andere Instanzen mit staatlicher Surrogatfunktion setzen, überwachen und erzwingen. Der Gewinnerwartung der Kolonisatoren entspricht der ideologisch verbrämte Anspruch, sei es in Afrika, Australasien oder in der UdSSR, das Land einer sinnvollen Nutzung zuzuführen, nachdem die eingeborene Bevölkerung diesem zivilisatorischen Gebot gegenüber versagt und damit das Recht auf Erhalt ihrer kulturellen und ökonomischen Autonomie verwirkt habe. An ihre Stelle rückt die Kolonialmacht und entscheidet nach Maßgabe eigener Interessen und Vorurteile sowie situativer Gegebenheiten über das Schicksal der Eingeborenen. Im „deutschen Osten“ wirkten antisemitische Einstellungen als Teil eines umfassenderen Feindbilds, indem „Juden und Bolschewisten“ ganz oben auf der Liste jener Gruppen standen, deren sich die Besatzungsmacht im Interesse nachhaltiger „Befriedung“ unter Einsatz massivster Gewalt zu entledigen trachtete. Mit der Stabilisierung der Verhältnisse oder dem Rückzug aus der Region endet der Ausnahmezustand; deutsche Herrschaftsträger, die infolge der Niederlage aus Osteuropa zurückkehrten, passten sich so rasch und reibungslos in die „Normalität“ der Heimat ein.

Historisch erwiesen ist, dass sich in der Ausnahmezone die Bedeutung psychologischer Faktoren für die Partizipation am Genozid verändert. Die wiederholte Teilnahme an Mordaktionen hilft Extremverhalten zu „normalisieren“, so dass es – anders als in der Anfangsphase – aufmunternder Antriebe „von oben“ oder durch die jeweilige Bezugsgruppe kaum noch bedarf. An die Stelle von peer pressure tritt die gemeinsame Erfahrung habitueller Gewaltanwendung, in deren Folge sich die Gruppenbindungen verstärken und verbliebene moralische Skrupel verschwinden können. Am Ende steht ein Grad von „Kaltblütigkeit“ und Brutalisierung, der bei einigen Mitgliedern der Gewaltgemeinschaft die Mordtat zum tatsächlichen oder scheinbaren Genuss werden lässt.

Um ihr Handeln in Vergangenheit und Gegenwart mental zur Deckung zu bringen, beginnen die Täter ihre Opfer zu Untermenschen oder Todfeinden zu erklären, wie es etwa die von Hatzfeld befragten Hutus mit ihrer Instrumentalisierung von Hass taten. In der Sozialpsychologie spricht man von kognitiver Dissonanz, um den inneren Konflikt zwischen Taten und Selbstbild des Akteurs zu beschreiben. Die Aufrechterhaltung des Selbstbilds erfordert die Rechtfertigung der Tat. Als Folge dieses psychologischen Mechanismus wächst die menschliche Distanz zwischen Täter und Opfer, was entweder zu gesteigerter Empathie oder zu verschärfter Verfolgung führen kann.33 So erklärt sich, warum an den Mordstätten die Kinder als verletzlichste Opfer zu Objekten der schrecklichsten Verbrechen wurden.

Auch für andere Genozide lassen sich Interpretationen finden, die extreme Gewalttaten auf anthropologische oder sozialpsychologische Faktoren zurückführen, ohne ideologische Idiome zu bemühen.34 Über die Gewichtung dieser Faktoren für die Erklärung von konkretem, experimentell nicht replizierbarem Täterverhalten während der „Endlösung“ mag man streiten, doch kann angesichts ähnlicher Extremsituationen, wie sie sich zu unterschiedlichen Zeiten in vielen Kulturen nachweisen lassen, an ihrer Relevanz kein Zweifel bestehen.35 Der Nachweis, dass gewöhnliche Deutsche in erster Linie aus ideologischen Gründen mordeten, kann nicht gelingen, denn er impliziert neben der Herauslösung der Täter aus dem regionalen, sozialen und situativen Umfeld ihrer Tat auch die Ausblendung all jener psychologischen Zusammenhänge, die gemeinhin unter dem Begriff „Bewältigung“ zusammengefasst werden.

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