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Deportation ins Reichsinnere

Bruno Müller und das Schicksal der Juden aus Ostfriesland und Schneidemühl

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Kommandoführer in Polen, Leiter der Stapostelle Wilhelmshaven, Kommandoführer in den Niederlanden, Referatsleiter im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), Kommandoführer in der Sowjetunion, Leiter der Stapoleitstelle Stettin, Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) zunächst in Luzk, dann in Rouen, Kommandoführer beim Befehlshaber der Sipo und des SD (BdS) in Prag und schließlich KdS in Kiel – „kein SS-Führer aus dem Bereich des RSHA kam auf eine höhere Zahl“ an Auslandseinsätzen als SS-Obersturmbannführer Bruno Müller.1 Die Stationen dieser Karriere sind in der Forschung zu Drittem Reich und Holocaust in den Grundzügen bekannt;2 zu einigen seiner Einsätze, vor allem zu denen in Polen und der Sowjetunion, gibt es eingehendere Untersuchungen. Denn in Polen und der UdSSR hinterließ Müller, anders als in den Niederlanden und in Frankreich, genügend Spuren in den zeitgenössischen Akten, dass er nach dem Krieg zum Gegenstand juristischer Ermittlungen werden konnte. Damit wurde auch eine gewisse historische Aufarbeitung dieser Phasen seiner Laufbahn möglich.3

Das halbe Jahr, das Müller nach seinem Poleneinsatz zwischen Ende November 1939 und Mai 1940 zu Hause in Wilhelmshaven verbrachte, ist jedoch nicht minder interessant – nicht nur wegen der beabsichtigten Folgen, die Müllers Handeln für die Juden in seinem Zuständigkeitsbereich, der Stapostelle Wilhelmshaven, hatte, sondern auch wegen der anfänglich unbeabsichtigten Konsequenzen, die sein Vorgehen für die Juden im Regierungsbezirk Schneidemühl am anderen Ende des „Altreiches“ gehabt haben mag. Die Geschichte der Vertreibung der Juden aus den Stapobezirken Wilhelmshaven und Schneidemühl ist bereits an anderer Stelle erörtert worden. Jüngst veröffentlichte Arbeiten, einige frisch entdeckte Quellen sowie auffallende Überschneidungen in der Wortwahl zweier Schlüsseldokumente legen den Schluss nahe, dass es zwischen der Vertreibung der Juden aus Wilhelmshaven und der Deportation der Juden aus Schneidemühl ein unvermutetes Bindeglied gegeben hat: Bruno Müller.

Der Kommandoführer des Einsatzkommandos (EK) 2 der Einsatzgruppe (EG) I während des deutschen Einmarsches in Polen kehrte vermutlich in seine Heimat Wilhelmshaven zurück, kurz nachdem die Einsatzgruppen am 20. November 1939 aufgelöst worden waren.4 Zuvor hatte er kurzzeitig als KdS in Krakau fungiert, vermutlich zwischen dem 26. Oktober, als die Militärverwaltung die Befehlsgewalt an die Zivilverwaltung übergab, und dem 8. November, als Walter Huppenkothen zum KdS Krakau ernannt wurde.5 Ob Müller Krakau auf eigenen Wunsch verließ oder nicht, ist unklar. Am 1. November übernahm der Führer der Einsatzgruppe I, Bruno Streckenbach, als BdS den Militärbezirk Krakau, und es steht zu vermuten, dass er Huppenkothen, der im September und Oktober als sein Stellvertreter in der EG I am Einmarsch in Polen teilgenommen hatte, als KdS in Krakau bevorzugte.

Bei seiner Rückkehr nach Wilhelmshaven traf Müller auf Parteifunktionäre und Regierungsbeamte, die entschieden die Deportation der Juden aus seinem Zuständigkeitsbereich, dem Land Oldenburg und dem Regierungsbezirk Aurich, verlangten.6 Als Kommandeur des EK 2/I war Müller natürlich an Repressionen gegen Juden und polnische Intelligenz beteiligt gewesen; er hatte insbesondere am 6. November 1939 die Verhaftung von 183 polnischen Professoren in Krakau vorgenommen.7 Als kommandierender Offizier und leitender Gestapobeamter in Krakau hatte er jedoch auch die sogenannte Nisko-Operation, die Deportation von rund 5500 Juden aus Wien, Mährisch-Ostrau und Ostoberschlesien nach Nisko (im künftigen Distrikt Krakau) und Zarzecze (im künftigen Distrikt Lublin) beobachten können, vielleicht auch dabei mitgewirkt.8 Auf jeden Fall war Müller zumindest am Rande über die Aktion unterrichtet. Schließlich bereitete Adolf Eichmann, der als Leiter der Prager und Wiener Zentralstellen für jüdische Auswanderung für die Aktion verantwortlich war, von Krakau aus die Verschickung ganzer Zugladungen voll Juden quer durch das Einsatzgebiet der EG I vor: aus Ostoberschlesien, in dessen Nähe Karl Brunners EK 4/I operierte, durch Krakau und Umgebung, wo Müller zuständig war, nach Nisko in die Nähe von Dr. Adolf Hasselbergs EK 3/I. Eichmann benötigte für diesen Auftrag Zugang zu Büros, Funk- und Fernsprechanlagen und Personal. An all dem mangelte es, insbesondere in den ersten Monaten der deutschen Besatzung, und die vorhandenen Kapazitäten mussten sorgsam koordiniert werden.9 Nicht nur auf Besprechungen, auch bei informellen Begegnungen von Huppenkothen, Eichmann und Müller dürfte über die kommenden Ereignisse geredet worden sein. Bei seiner Rückkehr nach Wilhelmshaven war sich Müller daher vollkommen im Klaren darüber, dass die Deportation der deutschen Juden nach Polen erwogen wurde, und er hatte bereits aus erster Hand einiges über die damit verbundenen politischen und organisatorischen Schwierigkeiten erfahren. Außerdem wusste er, dass die Operation abrupt gestoppt und bis zu seiner Abreise aus Krakau nicht wieder aufgenommen worden war.

Ob die örtlichen Parteifunktionäre auf die Idee zur Deportation der Juden aus dem Stapobezirk Wilhelmshaven kamen, wie es offenbar in Wien der Fall war10, oder ob Gerüchte und vertrauliche Informationen die Runde machten und den Boden dafür bereiteten, lässt sich den Quellen nicht entnehmen.11 Aber schon in der ersten Novemberwoche 1939 baten der Landrat in Norden und der Oberbürgermeister von Emden den Regierungspräsidenten in Aurich, die Juden aus ihrem Zuständigkeitsbereich „nach Warschau und Umgegend“ bzw. „nach einem ziemlich isolierten Ort in Polen“ zu vertreiben.12 Zwei Wochen später, ungefähr um die Zeit, als Müller nach Wilhelmshaven zurückkehrte, drängten auch der Bürgermeister von Leer (und Gauinspektor des Gaues Weser-Ems) sowie der Landrat in Aurich den Regierungspräsidenten in Aurich schriftlich, die einheimischen Juden „nach Polen“ oder „nach dem Osten“ abzuschieben.13 Alle vier Amtsträger führten Gründe der militärischen Sicherheit dafür an; die ersten beiden Briefe wurden jedoch noch vor dem Venlo-Zwischenfall vom 9. November – als der SD in der niederländischen Grenzstadt zwei Agenten des britischen Geheimdienstes entführte – verfasst und alle vier Schreiben weit vor den Vorbereitungen auf den Einmarsch in die Niederlande. Erst mit dem Venlo-Zwischenfall aber wurde die britische Spionagetätigkeit propagandistisch breit thematisiert. Zum Zeitpunkt der Korrespondenz war das Nachbarland noch neutral.

Da die anhaltende Anwesenheit von Juden im Regierungsbezirk Aurich in diesen Memoranden zur Bedrohung der militärischen Sicherheit erklärt wurde, wandte sich der Regierungspräsident in Aurich am 16. Dezember nun seinerseits an den Reichsverteidigungskommissar im Wehrkreis X und Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann.14 Der wiederum scheint das Schreiben an den HSSPF Nord-West Hans-Adolf Prützmann weitergeleitet zu haben, denn dieser ließ den Regierungspräsidenten in Aurich in der ersten Januarwoche wissen, dass Deportationen nach Polen auf Befehl des Reichsführers-SS und Chefs der Deutschen Polizei „verboten“ worden seien.15

Müller wusste aufgrund seiner Krakauer Erfahrungen von Beginn an, dass dem Vorhaben der Bürgermeister und Landräte aus dem Regierungsbezirk Aurich kaum Erfolg beschieden sein würde. Am 21. Dezember 1939 bestätigte sich diese Einschätzung, als das Reichssicherheitshauptamt die Gestapostellen im Reich darüber informierte, dass Himmler die Deportation von Juden in das Generalgouvernement eingestellt habe.16 Die Nachricht, die Prützmann zwei Wochen später an den Regierungspräsidenten in Aurich sandte, war im Grunde nur eine Zusammenfassung eben dieses RSHA-Schreibens an die Stapo(leit) stellen, das Müller bereits erhalten hatte. Also leitete er für den Stapobezirk Wilhelmshaven eine eigene Lösung in die Wege.

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