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‚Realistische‘ Erzählstrategien und die literarische Praxis des ‚Realismus‘ im 19. Jahrhundert

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Die Herausbildung der Literatur des deutschsprachigen Realismus wird spätestens um 1850 von philosophischen, literaturkritischen und politischen Beobachtungs- und Reflexionsdiskursen begleitet, die sich zwar um das normative Konzept des ‚poetischen Realismus‘ gruppieren, aber zusehends nicht nur von der novellistischen Literatur des Zeitraumes marginalisiert werden – einer Literatur also, die dazu tendiert, die Beziehungen von Zeichen und Realität innerhalb ihrer fiktionalen Realitätskonstruktionen zu thematisieren und nicht erst am Ende des 19. Jahrhunderts metafiktionale und selbstreferentielle Texte hervorbringt. In ihnen werden Erinnerungs-, Verschriftungs-, Erzähl- und Lektüreakte erzählt, deren vergangene Binnensujets in Rahmenerzählsituationen den Status bloßer Repräsentationen absenter Realität erhalten, wodurch sich die fingierte Realität auf Reproduktion sprachlicher Zeichen oder erinnerter Bilder beschränkt, deren Referenz auf die je vergangene und eigentlich zu erzählende Realität mehr oder weniger zweifelhaft scheint. Solch letztlich ‚unzuverlässiges‘ Erzählen, Erinnern und Überliefern findet sich u.a. schon in Jeremias Gotthelfs Die schwarze Spinne (1842) und in Theodor Storms Immensee (1850), aber auch in Wilhelm Raabes Chronik der Sperlingsgasse (1857), C. F. Meyers Das Amulett (1973), Storms Aquis submersus (1876), im ersten Band der Züricher Novellen von Gottfried Keller (1877) oder in Storms Der Schimmelreiter (1888), Raabes Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte (1891) und Die Akten des Vogelsangs (1896).

Dabei koexistieren zwei Abweichungen vom favorisierten Mittelwert einer durch verklärende Poetisierung eingeschränkten Nachahmung, nämlich zum einen die bis zur Vollständigkeit steigerbare Mimesis zitierter mündlicher oder schriftlicher Rede und zum anderen die reduzierte Mimesis von als inkohärent stilisierten Erinnerungsakten, die wiederum Erinnerungsbilder oder zurückliegende Lektüreakte betreffen. Gerade die Signale fingierter Authentizität historisierend chronikalischen, ‚aktenmäßig‘ protokollierenden Erzählens problematisieren die Kohärenz des ‚Berichteten‘ umso mehr und markieren die unvermeidbare Inkohärenz und Lückenhaftigkeit jeglichen Erzählens, ohne die Referenzillusion allerdings gänzlich zu brechen. Beide Varianten finden sich exemplarisch in Friedrich Theodor Vischer: Auch einer. Eine Reisebekanntschaft von 1879.

Die inhaltliche Funktion solch selbstreflexiver Sujets erschöpft sich jedoch nicht in der Erfüllung eines Verklärungs-Gebotes durch rahmende oder ironische Distanzierung, sondern erweitert die Themenvielfalt um pessimistische Sujets, die den Kriterien ‚poetisierender‘ Stoffwahl kaum mehr gehorchen: Tod und todesnahes Erzählen, Wirklichkeits- und Gegenwartsverlust, die bedrohliche, Realität verdrängende Dominanz vergegenwärtigenden Erinnerns sowie alle Varianten der raumzeitlichen Absenz von Realität und die damit verknüpften Probleme der Repräsentation des Abwesenden. In diesem Kontext verdient die Funktion dargestellter, erzählter Zeichen erhöhte Aufmerksamkeit – also nicht nur in Rahmenerzählungen oder Künstlernovellen und nicht nur die Funktion erzählten Erzählens, sondern auch erzählter Musik oder bildender Kunst (etwa bei Fontane) –, um den in Texten des Realismus behandelten Problemen bildlicher und sprachlicher, künstlerischer wie alltäglicher Repräsentation von Welt auf die Spur zu kommen.

Ein elementares sprachliches Kriterium für realistische Welt-Repräsentation und Referenzillusion formuliert darüber hinaus Roman Jakobson bereits 1921, der in Metonymie und Synekdoche die vom Realismus bevorzugten Tropen erkennt, während in Romantik und Symbolismus eher die Metaphorik dominiere (Jakobson 1969, S. 377, 385). Der „realistische Autor [geht] nach den Regeln der Metonymie von der Handlung zum Hintergrund und von den Personen zur räumlichen und zeitlichen Darstellung. Er setzt gerne Teile fürs Ganze“ (Jakobson 1971, S. 329). Kontingente, scheinbar überflüssige Details ohne narrative Funktion widerstreben zwar tendenziell der poetischen Verklärung, die solche Elemente weitgehend tilgen möchte, bilden aber gleichwohl eine wesentliche, seit dem 18. Jahrhundert erkannte Voraussetzung zur Erzeugung einer realistischen „Referenzillusion“ (Zeller 1987, S. 565ff.). Auch Bertolt Brecht zählt zu den „bekannten Kennzeichen des Realismus“ das „realistische Detail“, das „das Besondere [gibt]“, das – wie „die Glatze des Cäsar“ – für „die große Handlung mehr oder minder entbehrlich“ ist (Brecht 1967, S. 369). Roland Barthes rekonstruiert die Semiotik der Wirklichkeitsillusion („vraisemblance“) als „effet de réel“ (Realitätseffekt) und illustriert sie mit dem Klavier in Gustave Flauberts Un cœur simple von 1877 (Barthes 1968).

Rosmarie Zeller erblickt neben der Referenzillusion im „Vertuschen der Künstlichkeit“ (Zeller 1987, S. 570ff.) und in der Berücksichtigung von je sujetbezogenen zeitgenössischen Wahrscheinlichkeitsnormen und Motivierungsstandards (ebd. S. 574ff.) zwei weitere fundamentale Verfahren der realistischen Schreibweise, um Realitätsillusionen zu produzieren. Insbesondere der Zusammenhang der Referenzillusion mit „Informationsmangel“ (ebd. S. 573), wie ihn z.B. Dramen des Naturalismus aufweisen, führt das Dilemma vor Augen, das einerseits zwischen dem Verleugnen der Künstlichkeit eines Textes (dem Ausblenden seiner Selbstreferenz) und seiner damit gewährleisteten (fremd-)referentiellen Lesbarkeit und andererseits seinem relativen „Informationsmangel“ besteht, der zwar die Referenzillusion steigert, aber die Lesbarkeit behindert und damit auf die künstlichen Mittel dieser Illusion aufmerksam macht.

Dass nicht nur die Definition bestimmter Erzählverfahren als ‚realistisch‘, sondern auch – auf der Ebene des ‚Was‘ – die Geschichte der sukzessiven Sujet-Erweiterung und Lockerung der klassischen Stoffwahl-Restriktionen von Ständeklausel und Drei-Stil-Lehre die literaturgeschichtliche und komparatistische Reichweite der mimetischen Dichtung erheblich vergrößert, verdeutlicht die Studie Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946) des deutschen Romanisten Erich Auerbach. Sie erstreckt sich von Homers Odyssee und biblischen Texten bis zu Virginia Woolf und interpretiert exemplarisch u.a. das Drama des Sturm und Drang sowie Romane von Stendhal und Honore de Balzac.3

Sujets, denen zeitgenössische Realitätskonzeptionen eine ‚Wahrscheinlichkeit‘ nur in Vergangenheit oder Zukunft zugestehen oder auch gänzlich absprechen, können gleichwohl mit ‚Realitätsillusion‘ erzählt werden (Phantastik, Science Fiction, Surrealismus) und realitätsverträgliche Stoffe sind umgekehrt nicht an im engeren Sinn ‚realistische‘ Erzähl- und Darstellungsweisen gebunden (psychologisches Erzählen: innerer Monolog, stream of consciousness; dokumentarische Literatur: Montage). Daraus folgt erstens, dass Realismus nur als je epochen-, gattungs- oder werkspezifische Konstellation aus Erzähl- bzw. Darstellungsverfahren und gewähltem Sujet beschreibbar ist, und zweitens, dass die spezifischen Eigenschaften der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen deutschsprachigen Literatur nicht von vornherein mit den normativen Positionen der Realismus-Programmatiker kurzgeschlossen werden können, sollen beider Beziehungen mit Erkenntnisgewinn rekonstruiert werden.

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