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Christian Begemann Einleitung

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Viel stärker als andere Epochenbegriffe hat der des ‚Realismus‘ eine Eigendynamik entfaltet, die zu einem guten Stück auch die literaturwissenschaftliche Forschung geprägt hat. Die Frage, was das ‚Klassische‘ an der ‚klassischen‘ oder das ‚Romantische‘ an der ‚romantischen‘ Literatur ist, hat bei weitem nicht so viel Aufmerksamkeit gefunden wie die, was an der Literatur des ‚Realismus‘ eigentlich ‚realistisch‘ sei. Während viele Epochenbezeichnungen kaum mehr sind als historisch konventionalisierte, semantisch aber wenig aussagekräftige Verlegenheitslösungen – man denke beispielsweise an den Begriff des ‚Biedermeier‘ –, verhält es sich im Falle des ‚Realismus‘ offenbar anders. Ähnlich wie ‚Aufklärung‘ nämlich suggeriert die Kategorie des ‚Realismus‘, es handle sich um eine Art Programm. ‚Realismus‘: Das meint alltagssprachlich die Orientierung an der empirischen Wirklichkeit der Außenwelt, und im Bereich der Kunst handelt es sich einer verbreiteten Meinung zufolge um die getreue Wiedergabe, ja die Abbildung dieser Wirklichkeit. Blickt man auf die Literatur des 19. Jahrhunderts, dann ist diese Einschätzung erheblich zu differenzieren. Lässt man vorerst einmal alle epistemologischen und ästhetischen Probleme, die mit ihr verbunden sind, außer Acht, so muss schon dem flüchtigsten Blick auffallen, dass sich die deutschsprachige Literatur im Gegensatz zur zeitgenössischen englischen oder französischen nur in seltenen Fällen der konkreten historischen Wirklichkeit ihrer eigenen Zeit zuwendet. Im Gegenteil: Vor den Veränderungen einer zunehmend von Modernisierungsprozessen, Arbeitsteiligkeit und Industrialisierung geprägten Gesellschaft weicht sie größtenteils in traditional geprägte ländliche oder kleinstädtische Räume oder in die vormoderne Welt der Geschichte aus, in Bereiche also, die Friedrich Theodor Vischer in seiner Ästhetik von 1857 als noch poesiefähige „grüne Stellen mitten in der eingetretenen Prosa“ der realen Lebensverhältnisse bezeichnete und für die Stoffwahl der Literatur empfahl (in: Plumpe 1985, S. 241). Was aber soll daran ‚realistisch‘ sein?

Auch diese Wahrnehmung ist allerdings verkürzt. Tatsächlich nämlich besteht über die größten Differenzen hinweg ein weithin akzeptiertes ‚realistisches‘ Postulat, zumindest auf theoretischer Ebene. Eine konsistente programmatische Theorie der Literatur hat die Ära des Realismus in den deutschsprachigen Ländern nicht hervorgebracht, wohl aber gibt es eine Vielzahl in Essays, Rezensionen, Briefen und Notizen verstreuter programmatischer Aussagen, die einen relativ homogenen Befund ergeben. Immer wieder geht es hier um die richtige Bestimmung der Kategorie ‚Realismus‘, die gerade nicht als pures Abbild des Vorfindlichen verstanden wird, sondern als Bezug auf eine wesentliche und sinnstiftende Dimension der Wirklichkeit. Diese Dimension, so besagt ein breiter Konsens, falle nicht unmittelbar in die Wahrnehmung, sondern sei erst freizulegen unter jenen zufälligen, hässlichen und unpoetischen Zügen der Erscheinungswelt, die sich nicht zuletzt gerade den aktuellen historischen Entwicklungen verdanken. Es ist diese Konstruktion, die es erlaubt, den angedeuteten Widerspruch wenigstens vordergründig zu neutralisieren und zu harmonisieren: das realistische Postulat einerseits und eine profunde Abneigung gegen die Wirklichkeit der Moderne andererseits, der die Literatur ihre eigene, ‚wahrere‘ und ‚wesentlichere Wirklichkeit‘ entgegenzustellen habe.

Vielleicht ist es nicht zuletzt das unterschwellige Irritationspotential dieses poetologischen Spannungsverhältnisses, das dazu führt, dass auf der Inhaltsebene der literarischen Texte immer wieder ausdrücklich die Frage nach der Realität selbst aufgeworfen wird: die Problematik beispielsweise ihrer Wahrnehmung und Erkenntnis, ihrer Verkennung oder ihrer subjektiven Überformung, der unterschiedlichen Perspektiven auf sie und der Kollision unterschiedlicher Realitätsdeutungen, ihrer Ordnung und ihres Sinns oder nicht zuletzt der Herstellung künstlerischer ‚Bilder‘ der Welt. Betrachtet man Texte wie Stifters Nachkommenschaften, Kellers Pankraz, der Schmoller, Raabes Stopfkuchen oder Meyers Hochzeit des Mönchs, dann kann man zu dem Schluss kommen, der Realismus arbeite sich mehr als jede andere Epoche buchstäblich ab am Problem der ‚Wirklichkeit‘. Allerdings sollte man der Suggestionskraft des Realismusbegriffs auch nicht allzu weit folgen. Die Literatur der Epoche ist zu vielfältig und zu reichhaltig, als dass man sie thematisch oder poetologisch allein auf die Problematik des Realismus festlegen könnte oder sollte.

Der vorliegende Band bietet eine Einführung in die Literatur des Realismus, in die Epoche, in das Œuvre der bekanntesten Autoren und in einzelne Werke. Er rekonstruiert dabei zunächst den Begriff des Realismus, und zwar zunächst auf der Ebene der Literaturprogrammatik, verfolgt ihre Relevanz für die literarischen Texte, legt sich aber keineswegs auf sie als maßgebliches oder gar einziges Epochenmerkmal fest, sondern zeichnet die Konturen der Epoche auch an anderen thematischen und poetologischen Konstellationen nach. Die Untersuchung des Realismus wird hier auf die dominanten literarischen Konstellationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeschränkt. Von einer (ohnehin problematischen) Klärung hingegen, was ‚Realismus‘ als überepochale Kategorie meinen könnte und ob es Sinn macht, von einem ‚Realismus‘ in der Antike, im Mittelalter oder im Barock zu sprechen, wird ebenso Abstand genommen wie von einem Vergleich der europäischen Nationalliteraturen in puncto realistischer Programmatik und Schreibweise. Die genauen Konturen der Epoche zu definieren, wirft dabei gewisse Schwierigkeiten auf. Es ist keineswegs alles geklärt, wenn man den allgemeinen Konsens wiederholt, die Epoche des literarischen Realismus beginne mit einem Mentalitätswandel nach der Revolution von 1848 und ende mit dem Tod Kellers (1890), Fontanes und Meyers (1898) oder gar Raabes (1910), zu einem Zeitpunkt also, an dem man gerne die ‚Moderne‘ in Gestalt der symbolistischen und ästhetizistischen Strömungen der Jahrhundertwende beginnen lässt. Tatsächlich nämlich verschwimmen solch vermeintlich klare Grenzlinien bei näherer Betrachtung. Auf der einen Seite hat der nach 1848 angesiedelte Realismus, den man zur genaueren Klärung gerne unter sozialhistorischer Perspektive als ‚bürgerlichen‘, unter literarischer und poetologischer als ‚poetischen‘ und mit Blick auf seine theoretischen Konzepte als ‚programmatischen Realismus‘ bezeichnet, eine komplexe Vorgeschichte in der nachromantischen Ära. Ihr lassen sich Autoren wie Annette von Droste-Hülshoff, Georg Büchner u.a., Gattungen wie etwa die Dorfgeschichte und literarische Verfahrensweisen wie der sog. Detailrealismus zurechnen. Am anderen Ende der Epoche zeigt sich ein ähnlicher Befund, ein Befund, der den immer wieder behaupteten Gegensatz zwischen dem literarisch vermeintlich konventionellen Realismus und der avantgardistischen Moderne ein gutes Stück relativiert. Prägt ein mimetisch-realistischer Impetus weite Teile der modernen Literatur, so haben die selbstreferentiellen und abstrahierenden Verfahren, wie man sie der Moderne zurechnet, nun ihrerseits eine lange Vorgeschichte bei den Realisten, vorzugsweise in deren Spätwerken. Diesen beiden Übergangsphasen sind zwei Kapitel des Bandes gewidmet, deren zweites den Band abschließt. Ein weiteres übergreifendes Kapitel behandelt die „Medien des Realismus“, d.h. die Wechselbeziehung zwischen Literatur und periodischen Printmedien, die eine maßgebliche Rolle für die Formate und Techniken des realistischen Schreibens spielten.

Im (räumlichen) Zentrum dieses Bandes stehen sechs teils Überblickshaft, teils exemplarisch verfahrende Studien zu einzelnen Autoren, die als repräsentativ für den literarischen Realismus angesehen werden dürfen. Es handelt sich um Adalbert Stifter, Gottfried Keller, Theodor Storm, Wilhelm Raabe, Conrad Ferdinand Meyer und Theodor Fontane. Natürlich ist die Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viel reichhaltiger, und so ließe sich diese Reihe noch beträchtlich erweitern – um Namen wie Gustav Freytag, Otto Ludwig, Friedrich Spielhagen, Paul Heyse, Marie von Ebner-Eschenbach, Ferdinand von Saar und manch andere, die hier gar nicht oder nur am Rande vorkommen. Die Entscheidung für die genannten Autoren ist eine, die sich aus der Not der Beschränkung auf die noch heute meist gelesenen, und das heißt: die kanonischen Autoren erklärt. Erläuterungsbedürftig ist dabei vielleicht das Gewicht, das den Prosawerken zufällt. Tatsächlich gehört dieses Gewicht maßgeblich zum literarischen Profil der Epoche. Dahinter stehen nicht nur ökonomische Bedürfnisse der Autoren, die sich am besten mit Erzählungen und Romanen erreichen ließen, sondern auch eine sehr entschiedene Einschätzung der historischen Situation von Literatur. Bei allem Bedürfnis nach Sinnstiftung und Verklärung der vorfindlichen Wirklichkeit erscheint doch primär die literarische Prosa der Prosa der Verhältnisse angemessen. 1851 bemerkt beispielsweise Robert Prutz, die Schriftsteller würden „vor allem in der episodischen Form des Romans ein bequemes Gefäß finden für den so vielfach auseinandergehenden, sich so vielfach durchkreuzenden Inhalt unserer Zeit“. Vom Drama hingegen, eigentlich der „höchste[n] Kunstform“, lasse sich das nicht behaupten: „wie wäre es denn möglich, daß eine in sich so zerfahrene, zerflatternde, um ihren eigenen Inhalt noch so ringende Zeit wie die unsrige, sich zu dieser äußersten Plastik des dramatischen Kunstwerks zusammenfassen könnte?“ (in: Plumpe 1985, S. 276f.). Und die Einschätzung der Lyrik schließlich leidet unter der Behauptung, sie widerstehe der Forderung nach Objektivität, wie etwa Julian Schmidt formuliert: „Fast in keinem Zweige der Kunst wird aber die Abweichung von diesem Gesetz so ins Große getrieben, als in der Lyrik“ (ebd., S. 291). In ganz unterschiedlicher Weise stehen damit sowohl Lyrik wie Drama in einem prekären Spannungsverhältnis zu Grundkonstellationen des Realismus. Das heißt natürlich durchaus nicht, es habe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine nennenswerte Produktion von Gedichten und Dramen gegeben. Tatsächlich aber stehen sie so unverkennbar im Schatten der dominanten Prosagattungen, dass sie in manchen Epochendarstellungen gar nicht erst vorkommen. Der vorliegende Band trägt diesem Befund mit zwei Überblicksdarstellungen zur Entwicklung von Lyrik und Drama Rechnung und rundet damit das Bild einer durchaus spannungsvollen Epoche ab.

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