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Grenzen des ‚Menschen‘:
Psychische Untiefen – statistische Verteilungen
ОглавлениеDie Vielzahl solcher Texte führt damit das Scheitern des Bildungshelden vor: Weder gelingt ihm Selbst- und Partnerfindung, noch die abschließende Reintegration in eine neue Sozialordnung. Stattdessen erleidet der vorgetragene Autonomieanspruch Schiffbruch, wo die Helden sich als psychisch und ideologisch Zerrissene erweisen und häufig in Wahnsinn und Tod enden wie etwa in Alexander von Ungern-Sternbergs Die Zerrissenen (1832/33) oder Büchners Lenz. Im Modell des Zerrissenen verarbeitete die Zeit stellvertretend ihre Selbstwahrnehmung, sich im Übergang zwischen zwei historischen Perioden zu befinden. Der Zerrissene scheitert an der Erfahrung, dass er emotional einer älteren, oft von der Elterngeneration getragenen Ordnung noch verhaftet bleibt, obwohl er deren Defizite erkennt und sich selbst bestimmt von ihr lösen will. Er zerbricht an der Zugehörigkeit zu zwei einander widersprechenden Ordnungen, deren Konflikt nicht mehr rational mit Argumenten ausgetragen werden kann, sondern als Spaltung in der Psyche erfahren wird. Daraus erwachsen Antriebsschwäche und Tatenlosigkeit, aber auch eruptive Ausbrüche und Aggression. Das Bemühen um ein differenziertes Bild solcher psychischer Tiefenstrukturen gehörte speziell in die Zeit vor dem Realismus.
Obwohl Johann Nestroy das populäre Modell in Der Zerrissene (UA 1844) verspottete, entsprang auch das Problem des ‚guten Schlusses‘ seiner Possen diesem Erfahrungszusammenhang. So verdankt sich das positive Ende einer glücklichen Wendung, die der Verlauf des Stückes vorweg bereits als unmöglich markiert hatte. In Einen Jux will er sich machen (1842) bringt die Figur des Weinberl die Unmöglichkeit der Komödie, die aus mangelnden Lebenschancen in einer starren, von ökonomischem Egoismus und erotischen Leidenschaften regierten Gesellschaft resultiert, auf den Punkt: „Nein, was ’s Jahr Onkel und Tanten sterben müssen, bloß damit alles gut ausgeht – !“ (Nestroy 1977ff., 4, S. 10).
Angesichts der allenthalben scheiternden Figuren prägt die Suche nach Alternativen zum Modell der Bildung diese Phase. In Eichendorffs Dichter und ihre Gesellen (1834) ist der jugendliche Held durch eine ganze Gruppe von Vordergrundsfiguren ersetzt. Trat vordem eine Reihe von Nebenfiguren nur auf, um diesen genauer zu kennzeichnen, so folgt der Text nun verschiedenen Figuren auf vielfältigen Lebenswegen. Radikal über solchen Relativismus hinaus stellen historische Romane wie Alexis’ Cabanis (1832) umfassend und schonungslos die Aufhebung der Selbstbestimmung durch Macht und Gewalt dar.
Solche scheiternden oder relativierten männlichen Biografien begünstigten den Verlust des männlich-bürgerlichen Monopols auf Bildung. Schwache, getriebene, zerbrechende, also latent feminine Titelfiguren rechtfertigten überdies das Erscheinen neuartiger Frauencharaktere als Titelheldinnen. ‚Emancipirte‘ mit einem ausdrücklich formulierten Bildungsanspruch verbinden Gutzkows skandalträchtige Wally, die Zweiflerin (1835) mit Ida Gräfin Hahn-Hahns Gräfin Faustine (1841) und Fanny Lewaids Jenny (1843). An letzterem Roman lässt sich ablesen, wie der Geschlechtergegensatz als Thema zusammen mit neuen sozialen Schichten und Milieus – Arme, Juden – auftrat.
Das führte zu deutlichen Verschiebungen in der Anthropologie, also in dem Regelwerk für das biologische, psychische und sozial-rechtliche Wesen des Menschen, das die Texte darboten. Schon in Tiecks Der junge Tischlermeister (1836) wird die Abkehr von der bürgerlichen Jugend deutlich. Vom Handwerker in der Lebensmitte wird hier eine versäumte Lebensspanne der Selbstfindung gleichsam nachgeholt. Die Gefahren der ‚Jugend‘ als Lebensalter leidenschaftlicher Überschreitung sozialer und erotischer Grenzen sind so vermieden. Anderswo wurde diese kurze Spanne romantischen Aufbruchs nur noch als erinnerte Vergangenheit zugelassen. Damit rücken schon bis zum beginnenden Realismus (Storms Immensee 1851, Raabes Chronik der Sperlingsgasse 1857) immer mehr die Gealterten an der Schwelle zum Greis ins Zentrum der Texte. Deren untadeliges Leben soll die Bannung der als gefährlich eingeschätzten Potentiale von romantischer Jugend, Liebe und Kunstschwärmerei verbürgen: so seit Heinrich Zschokkes Addrich im Moos (1826) über Tiecks Der Alte vom Berge (1828) und Karl Immermanns Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken (1839) zu Ernst Adolf Willkomms Weiße Sclaven oder Die Leiden des Volkes (1845). Im Realismus verbindet sich diese Ausgrenzung des romantischen Hauptthemas der ‚Jugend‘ samt des mit ihr verbundenen Affekthaushalts und der Bereitschaft zur Grenzüberschreitung dann häufig mit einer formalen Präferenz für die mehrfach gerahmte Rückblickserzählung.
Der romantischen Feier der Sinnlichkeit im Kunst- wie Naturerleben wurden also Zweifel nicht nur in der jungdeutschen Reflexionsliteratur entgegen gebracht, die Entzauberung der Natur und Desillusionierung jeglicher Ordnungsgewissheit durch intellektuelle Analyse betrieb. Zwar erschien ein solches von Zwecken, Nutzen, Absichten und Tendenzen gesteuertes Schreiben den Romantikern wie Tieck und Eichendorff jetzt als Trivialisierung des Wunderbaren im Zeichen der ‚Prosa der Verhältnisse‘ (Hegel). Doch sie lehnten selbst eine traumbefangene ‚Romantisierung‘ dieser Verhältnisse als Verfehlen der Realität und des Bildungszieles der Integration in die soziale Welt ab: In Tiecks einzig noch bekannter Novelle aus dem Spätwerk, Des Lebens Überfluß (1839), hält die erzählende Stimme ironisch Abstand vom jungen Helden, den seine romantische Liebesauffassung in die soziale Isolation bis zum Verlust jeglicher Lebensperspektive treibt, der dies jedoch in deutlich als romantisierend gekennzeichneter Rede sprachlich-künstlich zu beschönigen sucht. Wie nah sich dabei Autoren verschiedener Lager kommen, belegt der Jungdeutsche Heinrich Laube, der in seiner Novelle Das Glück (1837) solche Warnungen ernst nimmt und einen ganzen Katalog von Verhaltensmaßregeln für den mittelmäßigen verehelichten bürgerlichen Mann beigibt.
Der Realismus wird dagegen trachten, Fälle gespaltener Psyche zu vermeiden und die komplexe psychische Organisation von Figuren zu homogenisieren. Der Schwerpunkt wird von Veränderung und Dynamik auf Ausgleich, Konstanz und Gleichgewicht verschoben. Die moralisierende Eindeutigkeit hat das letzte Wort, nicht die komplexe Psychologie. Diese Weise des Umgangs mit einem differenzierten Stand psychologischen Wissens vor dem Realismus darf als prototypisch für die selektiven, auf Moralisierung gerichteten Formen des Realismus überhaupt gelten. Auch Wissen soziologischer und historischer, aber vor allem auch naturwissenschaftlicher Art wird nach denselben Leitprinzipien ausgewählt.
In einer Vielzahl von Texten vor dem Realismus verdichteten sich die Schwierigkeiten und Unsicherheiten im Bild der ‚Großen Stadt‘, konkretisiert gern mit Reiseerfahrungen aus Paris und London mit ihrer unübersichtlichen Topographie und der schieren Menge und Verelendung ihrer Bevölkerung. Dort verwischen sich die Unterschiede zwischen den Einzelnen wie ihren immer vielfältiger werdenden Soziallagen und ideologischen Einstellungen und sind nicht mehr als eindeutige Gegensätze anzugeben. Mischklassen und Übergänge erfordern graduelle Skalen, wie etwa in dem Projekt, die Armen nicht länger zu verurteilen, sondern zu zählen, wie es auch Friedrich Engels Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845) anleitet. Die Stadt erscheint als „Freistädte aller Gedanken und Meinungen, und wenn diese selbst friedlich nebeneinander hergingen, so hatte der Anblick so vieler unvermittelter Gegensätze für den dritten Beschauer auf die Länge etwas Seelenzerstörendes.“ (Immermann 1981, S. 372) Dem gelebten Pluralismus der Lebensformen in der Stadt entspricht der Pluralismus der Denkformen im Journal.