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Claus-Michael Ort Was ist Realismus? Mimesis und Poesis:
Realismus zwischen Fremdreferenz und Selbstreferenz

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Versuche, die Frage nach dem Realismus epochenübergreifend zu beantworten, sehen sich erstens mit der Geschichte des Begriffs ‚Realismus‘ einschließlich seiner Parallel- und Gegenbegriffe und zweitens mit Perioden der Kunst- und Literaturgeschichte konfrontiert, in denen sich – wie im 19. Jahrhundert – bildende Künste und Literatur selbst ausdrücklich als ‚realistisch‘ bezeichnen. Zu unterscheiden sind einerseits philosophische und erkenntnistheoretische Bedeutungen von ‚Realismus‘ und ‚realistisch‘ und andererseits kunst- und literaturtheoretische Definitionen, die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus ersteren abzuleiten beginnen (Kant, Schiller). Letztere dienen entweder der Selbstbeschreibung einer Kunst- oder Literaturrichtung im kunsttheoretischen oder poetologischen Begleitdiskurs oder finden nachträglich in Kunst- und Literaturwissenschaft als Beschreibungskategorien solcher Richtungen oder Epochen Verwendung. Spätere Definitionen tendieren dazu, aus gattungs- und einzelwerkspezifischen Eigenschaften stilistische (sprachliche, erzähltechnische) oder inhaltliche Kriterien für ‚Realismus‘ zu abstrahieren, deren Reichweite sich potentiell nicht nur auf ‚realistische‘ Epochen oder Richtungen beschränkt. Ebenso kann wiederum umgekehrt deren bildkünstlerische oder literarische Produktion von den formulierten produktions- und wirkungsästhetischen Positionen ihres Reflexionsdiskurses mehr oder weniger stark abweichen.

Allen Verwendungen des Begriffs ‚Realismus‘ gemeinsam ist jedoch der Bezug auf eine je epochenspezifische Konzeption von ‚Realität‘, die eine unabhängig vom Beobachterbewusstsein existente Außenwelt annimmt, deren natürliche und kulturelle Wirklichkeit Kunst und Literatur nachzuahmen oder darzustellen beanspruchen. Da sich das, was jeweils als beschreibbare, empirisch beobachtbare oder subjektiv erfahrbare Realität gilt, selbst als historisch kontingente gesellschaftliche Konstruktion erweist, erscheint der Bezug auf Realität immer als Bezug auf alltägliches oder wissenschaftliches Wissen über Realität – also auf religiöse, philosophische, naturwissenschaftliche, politische Aussagen, die die „Basispostulate über die Struktur der Realität“ betreffen und „die fundamentalen ontologischen Annahmen der Kultur“ bilden (Titzmann 1991, S. 408). Insofern Kunst und Literatur selbst an Wissenskonstruktionen beteiligt sind, die „die Wahrnehmung und Interpretation der ‚Realität‘“ regeln (ebd.), kann die Realitätskonzeption einer Kultur auch aus literarischen Quellen rekonstruiert werden, so dass sich Forschungen zu philosophischen oder literarischen Diskursen über Realität einem Zirkel aussetzen, den die neuere Realismus-Forschung zunehmend reflektiert (z.B. Eisele 1977, Zeller 1987, Titzmann 2000, S. 101–104). Dass vor diesem Hintergrund die außerliterarische Umweltreferenz ‚realistischer‘ Literatur lediglich als eine spezifische Variante der innerliterarischen Koppelung von Fremdreferenz und ästhetischer Selbstreferenz erscheint, zeichnet sich schon in Brinkmanns Studie Wirklichkeit und Illusion ab (1966, Ohl 1968, Plumpe 1995, S. 105–137). Auf dieser Basis lässt sich auch Literatur, deren Sujetwahl gegen ein im engeren Sinn ‚realistisches‘, naturwissenschaftliches Weltbild verstößt und die deshalb – wie z.B. die phantastische Erzählprosa um 1900 – als nicht realitätskompatibel gilt, auf zeitgenössische, z.B. okkultistisch erweiterte Realitätskonzeptionen beziehen (Wünsch 1991a, S. 7–68).

Literatur, die außerliterarische Wirklichkeit zu beobachten beansprucht, ohne ihren Status als Kunstliteratur einzubüßen, ist gezwungen, die Wahrnehmung von ‚Realität‘ (Mimesis) und die Produktion von ‚Zeichen‘ (Poesis) zu unterscheiden und die Differenz von ‚Realität‘ und ‚Zeichen‘ selbst in ihre dargestellten Welten einzuführen – etwa durch erzählerische Rahmung oder ironische Distanzierung. Auf welche Weise dies jeweils geschieht, entscheidet zugleich auch über die je spezifischen Anteile, die einerseits der ‚Nachahmung‘ (Mimesis) von Natur und Gesellschaft und andererseits der werkintern signalisierten künstlerischen ‚Poiesis‘ sowohl bei der Gestaltung dargestellter Welten als auch bei der Auswahl und Kombination der Darstellungsverfahren zufallen – ein Verhältnis, das sich zumindest die deutschen Realisten, sofern sie poetologisch theoretisieren, als harmonischen Ausgleich zwischen Empirie und poetischer Phantasie, zwischen ‚Finden‘ und ‚Erfinden‘ wünschen (vgl. etwa Friedrich Spielhagens Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, 1883).

Die Programmatiker des deutschsprachigen Realismus reagieren nach der gescheiterten März-Revolution 1848 mit ihrem Versuch, die Opposition zwischen ‚Realismus‘ und ‚Idealismus‘ abzuschwächen, um ‚Realismus‘ zugleich gegen den als ‚Naturalismus‘ kritisierten französischen ‚Realismus‘ zu profilieren und das Verhältnis zwischen dem ‚Wie‘ der Darstellung und dem ‚Was‘ der Sujetwahl normativ und restriktiv zu regeln, nicht nur auf politische und literarische Konstellationen des Vor- und Nachmärz. Ihre Forderungen scheinen darüber hinaus dem Problem der Beziehung von Mimesis und Poiesis verpflichtet, das bereits Aristoteles’ Poetik aufwirft. Die Bestimmung der Extrempunkte einer nicht aufzugebenden Außenreferenz (Naturnachahmung) bei zunehmender Autonomie der Kunst und Freiheit ihrer Mittel beschäftigt v.a. die Kunst- und Literaturtheorie erneut seit der Mitte des 18. und bis weit in das 19. Jahrhundert hinein – von J. J. Bodmer, J. J. Breitinger, J. Ch. Gottsched, J. E. Schlegel über G. E. Lessing bis zu F. Schiller und G. W. F. Hegel. Unter Rekurs auf Horaz’ Vergleich von Dichtung und Malerei („ut pictura poiesis“, Horaz 1984, S. 26f.) beziehen darüber hinaus schon Bodmer und Breitinger in Die Discourse der Mahlern (1721–1723) die Ähnlichkeit der Darstellung auf die Ähnlichkeit der durch sie auszulösenden Rezipienten-Empfindung und verpflichten die Mimesis poetischer ‚Malerei‘ auf das Ziel, die Empfindungen des Dichters angesichts des ‚Urbildes‘ auf diejenigen des Lesers des poetischen ‚Abbildes‘ zu übertragen. – Ohne die Geschichte der ‚Mimesis‘-Konzeptionen seit Plato und Aristoteles und ihre Auswirkungen auf die Poetiken des 18. und den ‚Realismus‘ des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen (vgl. Widhammer 1972, Berghahn 1975), ist festzuhalten, dass sich die angedeuteten Problemhorizonte unter veränderten Rahmenbedingungen auch noch in den Positionen des programmatischen Realismus wiederfinden lassen.

Anlässlich seiner Definition der Tragödie als „Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung“ (Aristoteles 1994, S. 19) unterscheidet Aristoteles zwischen dem ‚Wie‘ und dem ‚Was‘, also den sprachlichen „Mitteln“, den „Gegenständen“ und der „Art und Weise“ der Nachahmung (epischer „Bericht“ oder Tragödie, ebd. S. 5–11) und initiiert damit normative Restriktionen, denen die Sujetwahl einzelner (komischer, tragischer) Gattungen und die Gestaltung ihrer ‚Fabeln‘ unterliegen (drei Einheiten, gemischte Charaktere, Ständeklausel, rhetorische Normen der sachlichen und sprachlichen Angemessenheit, der Stilhöhe). So garantieren die von Lessing bevorzugten aristotelischen, also mittleren, moralisch ‚gemischten‘ Charaktere bürgerlicher Trauerspiele die emotionale und soziale Wiedererkennbarkeit und Wahrscheinlichkeit ihrer privaten, familialen Handlungskonstellationen, um in der Lebenswelt von Bürgertum und verbürgerlichtem Adel kathartisches Mitleid zu erregen. Die Forderung nach natürlicher Mimesis gesellschaftlicher Wirklichkeitsausschnitte bleibt also vorerst an die affektive ‚Ähnlichkeit‘ mit dem Zuschauer als Wirkungsgarantie gebunden.

Der Aufstieg des Romans zur dominierenden Gattung, der mit einer Marginalisierung wirkungsorientierter Dramenpoetiken nach Schiller einhergeht, trägt im Verlauf des 19. Jahrhunderts schließlich dazu bei, dass sich die normativen Kriterien literarischer Sujetwahl von der Dominanz wirkungspoetischer Funktionszuweisungen lösen. Ohne die produktions- und rezeptionsästhetischen Konsequenzen der behaupteten inhaltlichen Kriterien für ‚Realismus‘ zu verleugnen, legitimieren sich diese Kriterien nun aber vorwiegend über die Reflexion der bedrohten Kunst-Eigenschaften selbst, welche die Literatur auf dem Weg zu einer Nachahmungspoetik nun gerade einzubüßen befürchtet – einer Nachahmungspoetik, die primär ‚Ähnlichkeit‘ mit außerliterarisch gegenwärtiger ‚ Realität‘ anstrebt.

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