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Prosa der Verhältnisse 1: Abschied von der Romantik

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Die Periode vor dem Realismus war die Zeit, will man diesen Prozess in seiner großen Geste zusammenfassen, des langen Abschieds von der Romantik. Themen, Gestaltungsweisen und Bauprinzipien der Texte, erzählte Geschichten, dargestellte Welten und Selbstwahrnehmung von Literatur und Kunst in Literatur, all das löste sich nach und nach von romantischen Vorbildern und wies ihre Geltung zunehmend schroffer, zunehmend desillusionierter zurück. Solche „Anti-Romantik“ (Scherer 2005) konnte zwar schon bei einer der Gründerfiguren der Romantik wie Ludwig Tieck 1805/06 in den nicht mehr in Reim, Metrum und Rhythmus gebundenen Prosanotaten seiner Reisegedichte eines Kranken aufblitzen, in denen es dem Übersensiblen nicht mehr gelingt, die vielfach einbrechenden, lästigen Sozial- und Sinneserfahrungen einer Italienreise mit den vertrauten Kunst- und Literaturreminiszenzen von Landschaft, Land und Leuten zu harmonisieren. Erst 1823 jedoch schienen Tieck, motiviert vom Salon der Rahel Levin, ihrem Bruder Ludwig Robert und Heine, derartig unverstellte Erfahrungen publikationsfähiger Ausdruck einer neuen authentischen Sensibilität zu sein.

Jetzt erst wurden literarische Verfahren zur Darstellung der Realität ausgebildet, beständig verfeinert und auf neue Gegenstände ausgeweitet. Die Literatur orientierte sich dabei am Aufschwung, den Positivismus, empirische Forschung und Materialismus nahmen und der von der medizinischen Physiologie repräsentiert wurde. Dichter jeglicher Couleur brachten sich mit diesem Paradigma in Verbindung oder wurden es von anderen. Das gilt nicht nur von Büchner, der ohnehin gerade in der Medizin promovierte und von Gutzkow aufgefordert wurde, mit seiner, „fast möcht’ ich sagen, […] Autopsie […] unter die deutschen Philosophen“ zu treten (Büchner 1988, S. 350). Ebenso rechtfertigte Heine die Schärfe seiner Polemik gegen August von Platen damit, „wie sorgfältig der feine, zierliche Cuvier, in seinen Vorlesungen, das unreinste Insekt mit dem genauesten Detail schildert“ (Heine 1981, 3, S. 465). Doch traf dies weder nur auf die Linken und Radikalen, noch nur auf die 1830er Jahre zu. Über Annette von Droste-Hülshoff verlautete der ihr befreundete Philosophiedozent Christoph Bernhard Schlüter: „Nichts war vor ihrem psychologischen Anatomiemesser sicher.“1

Auf der Grundlage dieser Bereitschaft, vermehrt empirische Erfahrungen zuzulassen und zu suchen, konnte der systematische Umbau goethezeitlicher Literaturmodelle beginnen, an denen wiederum Tieck mit seinen „Dresdener Novellen“ (fast 40 Texte von 1826 bis 1841) ebenso teilhatte wie der jüngere Romantiker Josef von Eichendorff (Das Schloß Dürande, 1837) und Goethe selbst. Dem optimistischen Bildungsprogramm in Wilhelm Meisters Lehrjahren (1795/96) stellte er mit den Wanderjahren (1821, überarbeitet 1829) ein Programm der Entsagung, so im Untertitel, entgegen. Als hervorragende Vertreter von Klassik und Romantik reagierten diese Autoren auf eine veränderte historische und gesellschaftliche Situation nach der Umgestaltung Europas durch die napoleonischen Kriege mit Revisionen ihrer Literaturprogramme. Ihre Werke, die Selbstbestimmung und Fremdbestimmung in individueller Bildung und Kunst zu versöhnen versucht hatten, verloren angesichts der veränderten Situation an Überzeugungskraft. Variiert hatten sie bislang das Modell der Biographieerzählung vom jungen Mann, der seine Herkunftsfamilie verlässt, zumeist auf einer Reise, frei von sozialen, ökonomischen und ideologischen Zwängen, verschiedene Milieus und Lebensentwürfe kennen lernt, um sich schließlich durch eigene Wahl auf Beruf und Partnerin festzulegen.

Geriet dieses Erzählmodell schon bei seinen ursprünglichen Trägern in die Krise, wurde es von den jüngeren Autoren der 1820er und 30er Jahre bewusst weiter umgebaut. Die empirische Aufmerksamkeit für die ganze Natur rückte zunehmend auch die Schattenseiten des Menschen und der Gesellschaft in den Blick. Die bislang ausgesparten sozialen, ökonomischen und psychischen Voraussetzungen des Bildungsprozesses wurden jetzt mehr und mehr aufgedeckt. Die von der Romantik, bei all ihrer spielerischen Neigung zu Ironie, Fragment und Arabeske, noch vorausgesetzte metaphysische ‚Einheit‘, Harmonie und Homogenität von Person, Gesellschaft und Kunstwerk ging unter dem Druck der einbrechenden neuen Erfahrungen verloren. Das schlug sich in literarischen Verfahrensweisen der Gattungs- und Stilmischung zwischen erzählender und Zweckprosa, Brief-, Tagebuch- und Memoiren-Fiktionen und umfassender Gattungsintegration, wie sie Eduard Mörikes Maler Nolten (1832) kennzeichnet, und vielfältigen Störungen der Textorganisation bis hin zum überraschenden Abbruch nieder wie bei Heines Der Rabbi von Bacherach (1840).

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