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II.

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Zweimal hatte Bonhoeffer eine folgenreiche Entscheidung zu treffen. Jedesmal brach sie ab, was er sich für seinen eigenen Weg gewünscht hatte.

1. Als er 1934 Pfarrer in London war, bekam er eine Einladung nach Indien, Gandhi zu treffen. Schon in New York war er 1930 von den verschiedenen Formen des Pazifismus und den Problemen des Stadtteiles Harlem angezogen. […]

Mitten in die Vorbereitungen für Indien kam der Ruf, eines der neu einzurichtenden Predigerseminare der Bekennenden Kirche zu übernehmen. Die Bekennende Kirche war zu dem Entschluß gekommen, keinen ihrer Theologen mehr auf die Seminare der offiziellen Kirche zu schicken. Ein Aufschub konnte nicht riskiert werden. So fiel die Entscheidung im Frühjahr 1935: zurück in ein pommersches strohgedecktes Provisorium, in dem Humor und Kirchenkampfbegeisterung über vieles hinweghalfen.

Diese Entscheidung Bonhoeffers bedeutete noch keine Lebensbedrohung. Trotz aller Ungewißheit und persönlicher Opfer war sie ein Teil der ersten Kirchenkampfjahre, die jetzt im Rückblick voller Optimismus erscheinen.

Aber aus der gehorsamen Entscheidung resultierte eine neue Konzentration auf den Gehorsam der Kirche. Die erste Vorlesung des Seminars führte uns mitten in seine Auslegung der Bergpredigt. Es entstand die „Nachfolge“, die ihn damals bekanntgemacht hat. Die Formel klang anstößig, aber sie blieb hängen: „Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt“ (Nachfolge, 19). Wir protestierten, aber er lehrte uns, die Frage des Gehorsams in eigenem Gehorsam zu überprüfen, um zu erfahren, daß nur die teure Gnade Gnade ist, die billige aber aus der Kirche einen Kramladen macht.

In dieser Zeit entstand das Bruderhaus in Finkenwalde, dessen Fama von einem düsteren klösterlichen Leben alsbald die Runde machte. […]

Bis zur Auflösung des Seminars durch einen Himmler-Erlaß im August 1937 lebte dieser Versuch eines Bruderhauses. So sind nicht Forderungen und Wünsche, sondern praktische Erfahrungen in das Büchlein „Gemeinsames Leben“ eingegangen. Anstöße liegen schon in Bonhoeffers Zeit in England, wo er aufmerksam anglikanische evangelische Klöster besucht und manche Anregung für den praktischen Ablauf des Tages einer solchen Gemeinschaft empfangen hatte.

2. Die andere Entscheidung griff tiefer. Diesmal rührte sie an das Leben. Ende Mai 1939 ging er an Bord der Europa nach USA. Die Gründe für diese Reise sind ein ganzes Bündel und die Begründungen auch.

Es lagen Einladungen vor vom Federal Council of Churches und vom Union Theological Seminary, wo Bonhoeffer 1930 studiert hatte. Niebuhr [deutscher Theologieprofessor in den USA], der die Sache betrieb, hatte nicht ohne Grund gemeint, diesen Mann aus der kommenden Entscheidung heraushalten zu müssen, wenn es an ihn komme, den Dienst mit der Waffe zu tun. Bonhoeffer war tatsächlich in den Jahren seiner Beschäftigung mit dem christlichen Pazifismus so weit gekommen, daß er zu dieser Zeit die Kriegsdienstverweigerung für seine eigene Person in Betracht zog. Der Bruderrat der Bekennenden Kirche hatte nach langen Überlegungen endlich eingewilligt, den brennend benötigten Lehrer im Namen der wenigen noch existierenden ökumenischen Verbindungen gehen zu lassen.

Kaum in USA, begann Bonhoeffer aber schon wieder, mit den Einladenden darüber zu verhandeln, wie er sich den Weg zurück offen halten könne. So steht in einem Tagebuch: „Ich begreife nicht, warum ich hier bin … Das kurze Gebet, in dem wir an die deutschen Brüder dachten, hat mich fast überwältigt … Wenn es jetzt unruhig wird, fahre ich bestimmt nach Deutschland … Ich will für den Kriegsfall nicht hier sein …“ Und wenig später heißt es: „Seit ich auf dem Schiff bin, hat die innere Entzweiung über die Zukunft aufgehört.“ Paul Lehmann, Professor für Ethik in Princeton, war noch auf das Schiff gekommen, um ihn vielleicht doch noch herunterzuholen. Er ahnte wohl, was diese Reise bedeutete.

[…] Er war in den Westen gegangen, um das Schwert nicht nehmen zu müssen, und er kehrte um, es zu nehmen. Er hat gewußt und ausgesprochen, daß, wer es nimmt, auch dadurch umkommen wird. Die Bereitschaft, diesen Richtspruch willig anzunehmen, war das innere Thema, das zunächst tastend und dann immer klarer die Jahre beherrschte. Als er damit spielte, sich herauszuhalten und seine reichlichen Möglichkeiten zu nutzen, wußte er doch, daß er zu zahlen hatte. Wie – das war nicht sofort deutlich. Aber nun ging er aus den „letzten“ in die „vorletzten Dinge“. Die letzten schienen klar und einfach, die vorletzten waren verwickelt und mußten es auf sich nehmen, nicht mehr eindeutig sein zu können und dennoch mit Blut bezahlt werden zu sollen. Gleichwohl begann jetzt nicht etwa eine Zeit der Düsternis und der Bedrücktheit; es erschien kein Glanz des Tragischen, des ungelösten Konfliktes über ihm, sondern eine neue Freiheit und Freude an Menschen, Spielen und Farben. In dieser Zeit hat er sich auch verlobt.

1935 begann er die „Nachfolge“ zu schreiben, 1939 machte er sich an die „Ethik“. Später hat er selbst gesagt, daß die Nachfolge einen Abschluß bedeute, von dem er freilich auch nicht zurücktreten wolle (WE 248). Es war lange keine Ethik mehr geschrieben worden, und er war der erste, der sich bewußt wieder an dieses eine zeitlang verpönte Fach der Theologie heranmachte. […] Er hat zwar die abstrakte Luft der akademischen Tradition, in der er aufgewachsen war, niemals billig verlästert; aber Denken und Existenz durchdringen sich bei ihm unlöslich. Er kommt aus Amerika zurück und es entsteht eben ein Kapitel mit der Überschrift „Schuldübernahme“ (Ethik, 186). Wie so oft, ist es nicht zu entscheiden, ob die Gedanken seine neue Existenz und ihre Aktionen bestimmen, oder ob die spezifische Existenz und ihre Erfordernisse die Gedanken ins Leben riefen. Die Verantwortung, über die er schreibt und lehren will, kam mit jedem Tag kompakter auf ihn zu.

Zum Verständnis dieser Jahre noch ein anderes. In der „Ethik“ bestreitet er die absolute Ethik. Es komme alles darauf an, den eigenen relativen Standort zu erkennen und von diesem aus im Glauben zu handeln und zu gehorchen. Christus wird nicht im Absoluten, sondern in diesem Relativen nur ernsthaft angenommen. Darum hat jeder das Seine, die Verantwortung und Schuld der eigenen Sphäre anzunehmen. Bonhoeffer wurde es jetzt immer dringender, die Verantwortung seiner persönlichen Herkunft und ihr Gericht zu erkennen. Er wurde sich immer mehr seiner bürgerlichen Herkunft bewußt. Er konnte es jetzt weniger gut vertragen, wenn der Bürger verächtlich gemacht wurde. Er bekam eine neue Vorliebe für das 19. Jahrhundert. In der Finkenwalder Zeit hatte er versucht, uns aus den bürgerlichen Bindungen zu lösen: die großen Feste sollten nicht mehr der Familie, sondern den Brüdern gehören. Jetzt genoß er, was er nur immer von dem Elternhaus noch haben konnte – die Gestapo versuchte seit 1940, ihn davon abzuschneiden. Das Fragment des Romanes, den er in der Zelle begann, ist nichts anderes als eine Liebeserklärung an seine bürgerliche Heimat. Und in dem anderen, ebenso abgebrochenen Versuch eines Dramas läßt er den sehr gesunden, durch den Krieg freilich vom Tode gezeichneten Sohn eines bürgerlichen Hauses (eines Arzthauses) mit einem jungen Proletarier in einen Disput kommen:

„Christoph: ‚… Aber auch Du kennst meine Welt nicht. Ich stamme aus einem sogenannten guten Haus, d.h. aus einer alten angesehenen Bürgerfamilie, und ich gehöre nicht zu denen, die sich schämen, das auszusprechen. Im Gegenteil, ich weiß, was für eine stille Kraft in einem guten Bürgerhaus lebt. Das kann keiner wissen, der nicht hineingewachsen ist … Aber eins mußt Du wissen: Wir sind groß geworden in der Ehrfurcht vor dem Gewordenen und dem Gegebenen und damit in der Achtung vor jedem Menschen. Mißtrauen gilt uns als gemein und niederträchtig. Das unbefangene Wort und die unbefangene Tat des anderen Menschen suchen wir und wollen wir ohne Argwohn hinnehmen …‘

Heinrich: ‚… Wir wollen etwas viel Einfacheres. Boden unter den Füßen, um leben zu können. Das ist es, was ich das Fundament nannte. Spürst Du den Unterschied nicht? Ihr habt ein Fundament, Ihr habt Boden unter den Füßen, Ihr habt einen Platz in der Welt, für Euch gibt es Selbstverständlichkeiten, für die Ihr einsteht und für die Ihr Euch auch ruhig den Kopf abschlagen lassen könnt, weil Ihr wißt; daß Eure Wurzeln so tief liegen, daß sie wieder treiben werden … Diesen Boden haben wir nicht; … darum haben wir nichts, wofür wir uns den Kopf abschlagen lassen können und wollen …‘

Christoph (nachdenklich geworden): ‚Boden unter den Füßen. Ich habe das so nicht gewußt. Ich glaube, Du hast recht. Ich verstehe, Boden unter den Füßen – um leben und sterben zu können.‘

Heinrich: ‚… welche Schuld trifft die, die man ins Leben hineingestoßen hat, ohne ihnen Boden unter die Füße zu geben? Kannst Du an ihnen vorübergehen und vorbeireden? …‘“

Hier sind Bonhoeffers Erlebnisse mit den Konfirmanden aus dem Berliner Wedding 1929 und die Wohnlaube in Biesental, die er für sie einrichtete, wieder da – in dem Moment, als es für ihn darauf ankam, in Tegel das Vertrauen der Wächter und Zellennachbarn zu haben. „Ja, Boden unter den Füßen … ich habe das so nicht gewußt.“ Er wußte um das vage Existenzrecht des Bürgertums. Er war bereit, einzustehen für das auf dem Höhepunkt angelangte Aufgeben der Verantwortlichkeit für das Öffentliche und dem Namen des Bürgers wiederzugeben, was er verloren hatte.

Ein Mensch wird so weit in das Gedächtnis der Menschen eingeschrieben, wie er seinen Ort wahrnimmt und an ihm tut, was auf ihn – und nicht auf seinen Nebenmann – zukommt. Er wird so wirksam, wie er seine spezifische – und nicht eine immer gleichbleibende – Aufgabe sieht und angreift. […]

[Bonhoeffers Aussagen über eine] Grenzsituation gehören nun freilich auch in die spezifische Situation von Kenntnis und Beteiligung, in der Bonhoeffer durch seine engste Umgebung stand. Hans von Dohnanyi, Freund und Schwager, war einer der Hauptbeauftragten des Generals Beck; er hatte u.a. die Dokumente zu sammeln, die nach Gefangennahme oder Beseitigung Hitlers dem deutschen Volk die Hintergründe und Verbrechen des Regimes evident machten. Damit sollte das Entstehen einer Dolchstoßlegende verhindert werden. Ein gewisser Höhepunkt dieser Tätigkeit war mit der General-Fritsch-Krise im Februar 1938 erreicht. Von nun an war Bonhoeffer ständig über Fortschritt und Rückfall der Widerstandsarbeit unterrichtet. Etwa diese Zeit markiert den Wendepunkt.

Er fand sich mehr und mehr aus der mittelbaren Mitverantwortlichkeit am deutschen Schicksal in die unmittelbare Mitschuld und Mitverhaftung hineingezogen. In der mittelbaren konnte man mit seinem Einsatz für die Kirche das Übrige ruhig Gott befehlen. In der unmittelbaren war es aber gerade dieses „Übrige“, in dem Gott nach Leuten rief, die sich endlich bewährten. Wenn die Bürger in den verschiedenen Mandaten des Rechtes, der Verwaltung, des Heeres, der Forschung die ihnen befohlene Verantwortlichkeit Schritt um Schritt delegierten an einen, der jenseits der Verantwortung stand, wenn sie Würde gegen Würden eintauschten, dann konnte es unter den Sehenden eben auch an einen Pastor kommen: willst Du in dieser Notstands- und Grenzlage stellvertretend ein Stück der Verantwortlichkeiten mit übernehmen, die nicht genug Träger mehr finden? Als ein italienischer Mitgefangener beim Spaziergang auf dem Hof Bonhoeffer einmal fragte, wie er denn als Christ und Pfarrer sich an einem Komplott beteiligen könne – es war keine Zeit, lange zu argumentieren –, sagte er: „Wenn ein Wahnsinniger auf dem Kurfürstendamm sein Auto über den Gehweg steuert, so kann ich als Pastor nicht nur die Toten beerdigen und die Angehörigen trösten; ich muß hinzuspringen und den Fahrer vom Steuer reißen, wenn ich eben gerade an dieser Stelle stehe.“ Der Gedanke findet sich übrigens schon sehr früh in einem Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“: „Die dritte Möglichkeit (der Kirche) besteht darin, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen …“

Wie viel Gedanken man sich gemacht hat, ob es denn erlaubt und recht sei, den Mann am Steuer abzuschießen oder ihn zu verhaften und vor ein Gericht zu stellen, ist inzwischen genügend bekannt. Bonhoeffer, der mit Moltke 1942 eine längere gemeinsame Reise im Auftrag der Abwehr nach Norwegen machte, teilte dessen Ansicht nicht, daß man das Gericht am deutschen Volk bis zum Ende sich austoben lassen müsse. Er war an den Überlegungen über die Art der Gewaltanwendung in vielen Stadien beteiligt. Er führte jetzt sein Leben zwischen den Aufträgen der Bekennenden Kirche und den durch das Amt Canaris ermöglichten Reisen u.a. nach Basel oder Stockholm; zwischen Visitationen, theologischer Arbeit an der „Ethik“ im Kloster Ettal, auf dem Kleistschen Gut in Klein-Krössin und der zwielichtigen Beantragung von Pässen und Kurierausweisen mit dem Stempel der Abwehr – so zwielichtig, daß selbst Karl Barth an Bonhoeffers Loyalität einmal zweifelte, als dieser allzu glatt bei ihm in Basel erschien. Deshalb war Dietrich Bonhoeffer die Zigarre so wichtig, die ihm Barth als einen sakramental-leiblich greifbaren Gruß der Gemeinschaft in die Zelle nach Tegel schickte (WE 106)!

Bonhoeffer hat wohl unterschiedene Perioden der Verantwortlichkeit in seinem Leben gesehen, aber er hat keinen inneren Bruch zwischen der Zeit der „Nachfolge“ und der Zeit der „Ethik“ gespürt und anerkennen wollen7. […] Wie es an ihn gekommen ist, wäre es ihm als eine unerlaubte Flucht erschienen, sich den ihm zugewachsenen Kontakten zu entziehen in einen sündlosen Raum. Das war ja gerade die Sünde seiner Klasse vor Gott und Menschen: die Flucht vor der Verantwortung, gleichgültig ob in einen frommen Raum oder in private Versicherungen oder in öffentliche Würden. Nicht jeder sollte so handeln wie er, aber jeder sollte den Ruf an seinem Ort vernehmen und ihm nicht ausweichen. „Eine geschichtliche Entscheidung geht nicht in ethische Begriffe auf. Es bleibt ein Rest, das Wagnis des Handelns“ (Ethik, 268).

[…]

Die Kirche … fühlt sich in offiziellen Gremien unwohl bei der Herausforderung ihres Dieners Bonhoeffer. Vor der Einweihung einer Tafel in der Kirche des Todesortes gab es ein Zögern in einer Kirchenleitung: es müßte erst geprüft werden, ob Bonhoeffer wirklich für Christus den Tod erlitten habe. So sucht man sich den Bonhoeffer der „Nachfolge“ oder des „Gemeinsamen Lebens“ heraus. Aber er läßt keine Ruhe … 1946 schrieben Pastoren einer norddeutschen Stadt an Bonhoeffers Vater, daß der sozialistische Stadtrat neue Straßennamen beschließen und mitten unter den politischen und sozialistischen Opfern auch Dietrichs Namen anbringen wolle. Er möchte doch etwas tun, daß Dietrichs Name nicht in dieser Umgebung auftauche. Er antwortete kurz: sein Sohn sei mit lauter Verschwörern zusammen gestorben, er sähe nicht, warum er daran etwas verfälschen solle!

[…]

Dietrich Bonhoeffer

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