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«Wir befanden uns in einem Theater»

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Es herrschte eine solch spezielle Atmosphäre, ein solches Chaos, dass man sich wie in einem Theaterstück vorkam, in dem man eine Rolle zu spielen hatte. In einem Stück, das irgendwann zu Ende wäre. Und dann würdest du deine Uniform ablegen können, deinen Namen zurückbekommen, deine Persönlichkeit, und wieder du selbst sein. Bis dahin spielte ich mit. Wie viele andere.

Aber viele taten auch gar nichts. Sehen Sie, es gab drei Sorten von Menschen in der Bevölkerung. Die erste: sich den Pfeilkreuzler-Faschisten anschliessen, ungarischer Soldat werden und mit den Deutschen zusammenarbeiten. Die zweite: nichts tun und sich verstecken. Die dritte: sich dem Widerstand anschliessen.

Auch Carl Lutz spielte mit. Er hatte etwas Hypnotisches. Wir lebten alle in einem Vakuum, Zeit zählte nicht. Die Tage zählten nicht. Man wusste nicht, wo man war, was man tat. Man liess sich einfach von der Bewegung mitreissen, wie unter einem Opiat, wissen Sie. Und ich glaube, Lutz war ebenfalls in Trance, in Trance, zu helfen: immer arbeiten, nicht aufhören, weitermachen, von einem Büro zum nächsten, von einer Person zur nächsten, umgeben von verzweifelten jüdischen Menschen wie Krausz und anderen. Sie drängten ihn täglich, noch mehr zu tun: noch ein Schutzhaus eröffnen, die rumänischen Juden retten, dann die slowakischen. Der Druck war enorm. Gefahr gehörte zum Leben – vielleicht kommen sie mich heute Nacht holen, vielleicht werden sie mich an der nächsten Ecke erschiessen. Man war entweder ständig voller Angst und zitterte oder man hypnotisierte sich selbst, damit es zu einem vorübergehenden Zustand wurde; du musstest weiter zum nächsten Akt und es würde höchstens noch eine Woche oder einen Monat dauern. Der mentale Prozess der Angst war nicht so, dass ich sagen könnte, ich hatte am Mittwoch Angst und nicht am Donnerstag. Es war eine ständige Unsicherheit, versteckt hinter einer mentalen Haltung, die wir selbst zu unserem Schutz entwickelt hatten.

Carl Lutz war genauso in Trance wie wir alle. Es war eine chaotische Zeit, in der Übertretungen, Entscheidungen, Handlungen nicht wie üblich bewertet werden konnten, wie in der Vergangenheit, als man sich hinsetzen und sich fragen konnte: «Na, was mache ich denn nächste Woche? Wie soll ich diese Rechnung bezahlen? Wie werde ich meine Kinder unterstützen, sie erziehen?» Es war alles abstrakt. Es war alles wie in einer unwirklichen Wolke, wir arbeiteten mit einer Einstellung, die wir zu normalen Zeiten nicht für möglich gehalten hätten.

Wer nach dem 19. März 1944 in Aktion trat, wusste, dass der Krieg vorbei war. Was folgte, war eine Übergangszeit, die nur noch wenige Monate dauern konnte. Die Nazis hatten den Krieg verloren. Jeder, der eine Zeitung las oder BBC hörte – unsere Informationsquelle – wusste, dass es vorbei war. Es war nach Stalingrad; es war nach der Invasion in Frankreich; es war nach Italien; es war nach Mussolini. Jeder wusste, dass es vorbei war; die Russen waren bereits über die Karpaten und rückten nach Budapest vor. Ein neues Kapitel begann. Wir hörten die Geschütze östlich des Stadtzentrums, und wenn Bomben explodierten, wussten wir, dass die Russen anrückten. Wir hörten BBC; wir wussten, dass sie die Aussenbezirke unseres Wohnviertels besetzten. Wir zogen die Uniformen aus, verbrannten sie, und holten unsere in russischer Sprache gedruckten Schutzbriefe aus der Schublade.

Wir waren so gut vorbereitet, dass wir Dokumente hatten, auf denen stand, dass wir in der Widerstandsbewegung waren, um Ungarn zu retten – in Russisch, russische Dokumente – und dass wir auf der Seite der sowjetischen Besatzungsarmee standen. Dass wir die einmarschierende sowjetische Armee unterstützen würden. Als die Russen in dieser Nacht kamen, zogen wir Zivilkleidung an und steckten unsere russischen Dokumente in die Tasche. Aber wir konnten sie nicht davon abhalten, die Bediensteten, die sich im Haus befanden, in unserem provisorischen Hauptquartier, zu vergewaltigen, die schönen ungarischen Frauen. Wir konnten sie nicht retten und auch nicht die Autos und ihre Fahrer im Hof; sie verprügelten die Chauffeure, setzten den Motor in Gang, stiegen ein, fuhren weg, kamen zurück, nahmen eine Frau, nahmen ein anderes Auto, verprügelten den Chauffeur, nahmen unsere Uhren – das war die «Befreiung».

Die sowjetische Armee war eine unaufhaltsame Welle menschlicher Gewalt ohne jedes Gewissen. Sie kamen nach Budapest und befanden sich plötzlich in einer grossen Stadt, wo es Essen gab. Dort gab es zivilisierte Menschen, einst gab es zivilisiertes Leben– russische Soldaten vom Land hatten so etwas noch nie gesehen, wissen Sie. Aber inzwischen war die ganze Stadt ein einziges Chaos. Die Bomben fielen, die Brücken stürzten ein und die halbe Stadt stand in Flammen.

Ich wurde kurz darauf von den Sowjets verhaftet. Hauptsächlich wegen des Funkgeräts, das wir von Lutz hatten; er hatte ein Kurzwellenfunkgerät angeschafft, das wir für die Kommunikation benutzten, das Erez-Israel-Büro hatte es von ihm erhalten und an uns weitergegeben; dann haben es die Russen gefunden. Sie wussten nicht, woher es kam oder wozu es gut war. Sie dachten, es sei ein Funkgerät, mit dem die Faschisten mit Deutschland kommunizierten. Das Ding legte mich und meine Leute herein, und sie verhafteten mich. Ich war mehrere Wochen im Gefängnis, zusammen mit meinem Gefährten, dem Kriegskorrespondenten Géza Saly, der für ein Jahrzehnt in einem sibirischen Lager landete.

Irgendwie bekam ich genug Zeugen, genug Geschichten und genug Lügen zusammen, um die Sache der «russischen Gestapo», damals GPO genannt, mit ihren eher primitiven Inquisitionsmethoden glaubhaft zu machen. Ich habe es geschafft rauszukommen. Aber es war nicht das erste Mal, dass mir das passierte. Ich war zweimal von den Russen verhaftet worden, und ich hatte wegen meiner Arbeit für den polnischen Widerstand auch in einem deutschen Gefängnis gesessen. Die Arbeit in Warschau als Kriegskorrespondent der ungarischen Armee unter britischen Agenten stellte ein Abenteuer dar, war aber auch eine gute Übung für die Zeit der Besetzung von Budapest durch die Nazis im Jahr darauf. So durchlief ich, wie viele andere meiner Generation, mehrere Gefängnisse. Auf welcher Seite auch immer, mit Glück gelang es mir zu überleben.


Oberleutnant Pál András Fabry 1944

Wäre Lutz genauso bekannt gewesen wie der schwedische Diplomat Wallenberg, wäre er auf die gleiche Weise verhaftet und verschleppt worden, denn er war ohne jeden Schutz. Wallenberg wurde aus zwei Gründen verschleppt. Erstens, weil er Geld und Gold bei sich hatte. Zweitens, weil er bekannt war und jeder sah, dass er wichtige Verbindungen und einen Namen hatte. Er hatte zu vielen Menschen geholfen, und wahrscheinlich hätte er sich gegen die Sowjetunion und den Kommunismus engagiert, wenn er dortgeblieben wäre. Lutz war aufgrund seines ruhigen Auftretens, weil er hinter den Kulissen agierte, nicht bekannt. Die Russen mussten über die Schutzhäuser Bescheid gewusst haben, aber es war ihnen völlig egal. Lutz überlebte einzig, weil er sich auf der Buda-Seite der Stadt befunden hatte. Bis sie dort waren, hatten die Russen ihre Raubzüge und ihren Terror, ihr Vergewaltigen und Morden auf der Pest-Seite bereits beendet. Sie konnten sich frei bewegen und die Stadt blindlings ausrauben.

Mein Cousin, Dezsö Molnar, und einige seiner Leute wurden von der Sowjetarmee erbarmungslos verschleppt. Ich weiss nicht, wie und wohin sie verschwanden, niemand von der Familie weiss es. Aber sie holten Dezsö am 16. oder 17. Januar aus dem Glashaus. Ich stelle mir vor, dass er einige Tage später während des Marsches im Schnee gestorben ist. Und von den anderen beiden, die geholt wurden, wurde einer erschossen und der andere ist in der Nähe erfroren, sagte mir die Familie. Es wurden vermutlich noch andere verhaftet, aber ich weiss nicht, wie sie verschwunden sind. Für die Russen bedeuteten die Schutzhäuser gar nichts. Das Schweizer Kreuz bedeutete nichts. Lutz bedeutete nichts. Juden zu retten bedeutete nichts. Zur selben Zeit wurde auch Wallenberg verschleppt, und sein Schicksal gibt noch immer Rätsel auf.

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