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4 Virtuelle Einheiten auf der Textebene

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Mit mündlich tradierten Stoffen, insbesondere volkstümlichen, haben wir den Gegenstand vor uns, bei dem es unausweichlich ist, (bestimmte) Texte zu parallelisieren mit (bestimmten) Wörtern, sie nämlich als Einheiten zu begreifen, die zum kollektiven Gedächtnis gehören und immer wieder neu realisiert werden, mitunter also auch in mehr als milliardenfacher Materialisierung. Bei solcher Reproduktion kann man von Performanz in besonders positivem Sinn sprechen, es kann sich nämlich durchaus um ,Aufführungen‘ handeln, in denen es um Virtuosität geht – für diese ist Variation konstitutiv.

Solchen überlieferten, aber doch notwendigerweise immer wieder neu und jeweils mehr oder weniger anders realisierten Einheiten gilt die klassische Studie von André Jolles (1930) zu Einfachen Formen. Sie ist nicht nur in literaturwissenschaftlichen und volkskundlichen Arbeiten breit rezipiert, sondern – allerdings recht spät – auch in der Textlinguistik aufgegriffen worden (vgl. dazu Fix 1996). Auf Jolles (neben vielen anderen Arbeiten zur oral poetry) bezieht sich auch Thomas Luckmann (1927–2016) in seinem wissenssoziologischen Ansatz (vgl. besonders Luckmann 2002: 165f.; und Auer 1999: Kap. 16). Während das gemeinsam mit Peter L. Berger (1929–2017) schon 1966 verfasste Buch auf ein außerordentliches Echo stieß und bald zum Klassiker aufstieg, sind Luckmanns zahlreiche seit den 80er Jahren entstandene Arbeiten (am besten zugänglich über die Aufsatzsammlungen von 2002 und 2007) weniger verbreitet. Dabei geht es in ihnen um nichts weniger als Das kommunikative Paradigma der ‚neuen‘ Wissenssoziologie. Dazu hat Luckmann einen Vortrag auf dem Symposium New paradigms in contemporary sociology gehalten, kommentiert dies freilich folgendermaßen:

„Ich möchte hier kein neues theoretisches Paradigma vorstellen. Im Grunde bin ich sogar sehr skeptisch, was Positionen angeht, die beanspruchen, neue Paradigmen zu präsentieren. Vertreter von Neuigkeiten leiden herkömmlich sowohl unter historischer Kurzsichtigkeit als auch unter dem Drang, Marginalitäten überzubewerten – und großrednerische Prediger von Paradigmenwechseln haben in der Regel Kuhns Theorie […] völlig fehlinterpretiert.

Dennoch möchte ich nicht bezweifeln, daß in einigen Teilen der Gesellschaftstheorie ein Wandel vollzogen wurde, der zu einer vermehrten theoretischen Beachtung der Kommunikation als einer wesentlichen sozialen Tatsache führte [… Bourdieu, Luhmann, Habermas]. Ich möchte mich hier jedoch nicht mit diesen theoretischen Entwicklungen auseinandersetzen, sondern meine eigene Position vorstellen – eine Position, die eine empirische Ausweitung des Versuchs darstellt, den Berger und ich […] vor mehr als einem Vierteljahrhundert unternommen haben: einige Schlüsselbegriffe der allgemeinen Soziologie im Sinne dessen neu zu definieren, was man als ,neue‘ Wissenssoziologie bezeichnet hat. Neben meiner Arbeit in der Religionssoziologie habe ich mich zunehmend auf die Entwicklung einer soziologischen Sprachtheorie und anschließend auf die detaillierte Analyse kommunikativer Formen konzentriert, in denen Wissen oder, allgemeiner, Sinn und moralische Orientierungen erzeugt, vermittelt und reproduziert werden.“ (Luckmann 2002: 201; Hervorhebungen K. A.)

Im Mittelpunkt steht dabei das Konzept der kommunikativen Gattungen. Eingegangen ist dieses auch in diverse Unterprojekte des Konstanzer Sonderforschungsbereichs Literatur und Anthropologie (SFB 511; 1996–2002), insbesondere in das Projekt Anthropologische Funktionen nicht-schriftlicher kommunikativer Formen und Gattungen: Thematisierung des Menschlichen, sekundäre Ästhetisierung und Fiktionalisierung (1996–1998). An diesem Projekt haben auch Susanne Günthner und Helga Kotthoff mitgewirkt; dies erklärt, dass das Konzept der kommunikativen Gattungen in der Gesprächs-/Konversations- bzw. Interaktionsanalyse sehr prominent ist.

Unter diesen Voraussetzungen könnte man erwarten, dass die außerordentlich breit ausgerichtete – u. a. Literatur, Religion, Mythos, Wissenschaft und Alltagswelt zusammen denkende – Sichtweise Luckmanns auch zu einer besseren Verständigung einerseits zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft, andererseits innerhalb der letzten zwischen Text- und Gesprächslinguistik geführt hat. Davon kann aber (noch) keine Rede sein. Vielmehr geht die Tendenz derzeit deutlich in Richtung auf immer spezialisiertere Subdisziplinen (bzw. ‚Paradigmen‘) und die Hervorhebung von Gegensätzen. Dazu gehört, dass viele TextlinguistInnen literarische Texte aus ihrem Objektbereich ausschließen (vgl. Adamzik 2017: bes. Kap. 4) und sich zunehmend auch wieder nur mit schriftlich Fixiertem auseinandersetzen wollen (für Nachweise vgl. Adamzik 2016: Kap. 2.5.2., Anm. 23). Dies führt zur Präsentation von Textsorten und kommunikativen Gattungen als konkurrierenden Konzepten (vgl. so auch Auer 1999: 176f.):

„Die Termini ‚kommunikative Gattungen‘ und ‚Textsorten‘ sind nicht gleichzusetzen. Das Konzept der kommunikativen Gattung basiert auf der Annahme, dass eine dialogische Kommunikation vorliegt, das Textsortenkonzept geht für den prototypischen Fall gerade nicht von dieser Annahme aus.“ (Dürscheid 2005)

„Gattungen werden […] nicht etwa als homogene, statische Gebilde mit festgelegten formalen Textstrukturen betrachtet, sondern als Orientierungsmuster für die Produktion und Rezeption von Diskursen.“ (Günthner 2000: 21)

In ihrer Rezension zu Günthner merkt Fix zu Recht an,

„dass die Charakterisierung der Textlinguistik dem jetzigen Forschungsstand der Textsortenforschung, für die die Annahme beweglicher, prototypischer Textsorten und deren Einbettung in kommunikative Zusammenhänge doch mittlerweile selbstverständlich ist, nicht ganz gerecht wird“ (Fix 2002: 292).

Es wird aber m. E. auch das Potenzial nicht ausgeschöpft, das Luckmanns Wissenssoziologie für die Textlinguistik bietet (vgl. im Ansatz so Heinemann / Heinemann 2002) – Textlinguistik hier verstanden in einem weiten Sinn, denn die Entgegensetzung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit läuft dem Anliegen Luckmanns zuwider; sie passt ja auch nur schlecht zu den Titeln des Konstanzer SFB und des genannten Teilprojekts.

Wenn Luckmann sich ausdrücklich den mündlichen Gattungen, der Face-to-Face-Kommunikation, zuwendet, so geschieht dies nicht etwa, weil er die schriftlichen Formen der „Tradierung und Vermittlung bestimmter gesellschaftlich relevanter Wissensbestände“ – so bringt Auer (1999: 177) die Funktion von Gattungen auf den Punkt – für unwichtig hielte: Wenn eine Gesellschaft über Schrift verfügt, dann wird das Tradierenswerte auch schriftlich festgehalten. Er konstatiert jedoch ein Versäumnis der traditionellen Soziologie; diese habe nämlich „die Frage nach der kommunikativen ‚Urproduktion‘ von Sinn und Kultur im Gesellschaftszusammenhang entweder nur auf der abstrakten Ebene von ,Geist‘ und ,Gesellschaft‘ gestellt oder ganz ausgeklammert“ (Luckmann 2002: 158f.; Hervorhebungen K. A.). Kommunikative Urproduktion möchte ich dahingehend interpretieren, dass sich Gesellschaften (wie Sprachen) und gesellschaftliche Gruppen (wie sprachliche Varietäten) nur erhalten können, indem sie die relevanten Wissensbestände immer wieder neu aktualisieren, sie sich zu eigen machen und weiterbearbeiten. Dies geschieht am unmittelbarsten in mündlicher Interaktion, in der die Teilnehmer auch körperlich beieinander sind (vgl. Luckmann 2002: 187).

Die Einfachen Formen sind nun gewissermaßen der Inbegriff solcher mündlichen Traditionen, und Jolles (1930 / 1999: 262) meint sogar, dass sie der Schrift „zu widerstreben scheinen“. Davon kann in einer Zeit, in der die Publikation von gesammelten Märchen, Sagen, Witzen, Sprüchen … einem florierenden Geschäft entspricht, eigentlich keine Rede sein; auch von den mittelalterlichen Legenden wüssten wir allerdings nur wenig, wenn sie nicht auch aufgeschrieben worden wären. Die Bedeutung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit für die Tradierung gesellschaftlich relevanten Wissens scheint also doch verwickelter. Dem soll unter Rückgriff auf die Ausführungen von Luckmann und Fix (2009 / 2013) zu Jolles und der Frage nachgegangen werden, wie stark kommunikative Gattungen bzw. Textsorten verfestigt sind – oder: wie viel Variation sie aufweisen.

In der wohl frühesten Erwähnung kommunikativer Gattungen bei Luckmann1 erfolgt der Rückgriff auf Jolles‘ Einfache Formen noch nicht explizit, es ist aber offensichtlich, dass sie im Hintergrund stehen:

„In allen Gesellschaften werden Stileinheiten des Sinns als kommunikative Gattungen objektiviert und bilden Sinnsetzungstraditionen. In Schriftkulturen werden zusätzlich auch literarische Genres ‚bereitgestellt‘, die den einzelnen noch stärker von eigenständigen Sinnsetzungen und -findungen entlasten können. Kommunikative Gattungen reichen von alltäglichen Sprichwörtern bis zu Fabeln, von Fluch- und Schimpfkonventionen bis zu Heiligenlegenden.“ (Schütz / Luckmann 2017: 450)

Eine Entgegensetzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Alltags- und Hochkultur ist nicht zu erkennen; ferner geht es offensichtlich nicht in erster Linie um Muster für die Lösung alltäglicher Kommunikationsaufgaben – in diese Richtung verflachen die Vorstellungen von Textsorten / kommunikativen Gattungen besonders leicht –, sondern um anthropologische Grundaufgaben der Sinnfindung. Diese stehen auch bei Jolles im Mittelpunkt (vgl. bes. den Ausblick in Jolles 1930 / 1999: 262–268, wo er erwägt, ob sich die Einfachen Formen in allen Kulturen finden).

Zumindest aus heutiger Sicht etwas befremdlich wirken die beiden zentralen Termini, mit denen Jolles arbeitet, nämlich Geistesbeschäftigung und Sprachgebärde. Zum ersten hat Luckmann sich folgendermaßen geäußert:

„Nach Jolles entwickeln sich diese kleinen Gattungen gewissermaßen von selbst aus der Sprache, wenn der Mensch der Welt mit einer bestimmten ‚Geistesbeschäftigung‘ begegnet. Jeder einfachen Form ordnet Jolles die für sie spezifische und maßgebliche Geistesbeschäftigung zu: dem Memorabile etwa die ‚Geistesbeschäftigung mit dem Tatsächlichen‘, dem Märchen dagegen die der ‚naiven Moral‘. Statt von Geistesbeschäftigung zu reden, würden wir heute eher, wie es H. R. Jauss vorgeschlagen hat, den Schützschen Begriff der ‚Subsinnwelt‘ verwenden. Die kleinen (vorliterarischen) Gattungen können soziologisch als Organisationsformen des Alltagswissens verstanden werden, die darauf angelegt sind, die intersubjektive Erfahrung der Lebenswelt unter verschiedenen Sinnkriterien zu thematisieren, zu bewältigen und zu vermitteln.“ (Luckmann 2002: 166; Anm. 16; Hervorhebungen K. A.)

Für Schütz ist die Auffassung zentral, dass sich die Lebenswelt in verschiedene Wirklichkeitsbereiche mit jeweils eigener Sinnstruktur untergliedert: „alle Erfahrungen, die zu einem geschlossenen Sinngebiet gehören, weisen einen besonderen Erlebnis- bzw. Erkenntnisstil auf“ (Schütz / Luckmann 2017: 54; Hervorhebungen K. A.). Neben der alltäglichen Lebenswelt gehören dazu die Welt des Traums, der Literatur, der Religion und der Wissenschaft (vgl. dazu weiter Adamzik 2018b: Kap. 2.4.). Wo Jolles von verschiedenen Geistesbeschäftigungen spricht, unterscheidet Luckmann Gattungsfamilien, mit denen kollektive ‚kommunikative Probleme‘ bearbeitet werden.

„Die wichtigsten davon sind: Wie werden relevante Aspekte der Vergangenheit vor dem Vergessen bewahrt? Wie werden zukünftige Handlungen geplant und umgesetzt? Wie wird Allgemeinwissen oder Sonderwissen vermittelt? Wie werden Vorstellungen guten Lebens formuliert und gestützt? Offensichtlich sind Probleme dieser Art universell.“ (Luckmann 2002: 184)

Die dem zuerst genannten Problem geltenden rekonstruktiven Gattungen hält Luckmann (ebd.: 178) für „eine der wichtigsten sprachlich-kommunikativen Funktionen in menschlichen Gesellschaften“. Dabei bezieht er sich keineswegs jeweils auf Gesamtgesellschaften, sondern auf Formationen aller Art und auch auf Individuen.

„Zu verstehen, wie eine Gesellschaft, eine Gruppe, eine Organisation, eine Institution, eine Person Ausschnitte und Gesamtheiten ihrer Vergangenheiten aufbereiten und vermitteln, heißt, Wesentliches über eine Gesellschaft, Gruppe, Institution, Person zu verstehen. Ein wesentlicher Teil der historischen gesellschaftlichen Konstruktionen von Wirklichkeit besteht erstens aus vielschichtigen kommunikativen Bearbeitungen von Vergangenheit und zweitens aus der Vermittlung der Ergebnisse solcher Bearbeitungen über Generationen hinweg. Über kommunikative Vorgänge und Gattungen hinaus, deren Hauptfunktion Vergangenheitsvergegenwärtigung ist, dürften sich rekonstruktive Funktionselemente auch in vielen anderen, vor allem zukunftsplanenden, moralisch-pädagogischen und – auf personaler und Gruppenebene – identitätsstiftenden kommunikativen Vorgängen und Gattungen finden.“ (Luckmann 2002: 179; Hervorhebung K. A.)

Der Hinweis auf die identitätsstiftende Funktion solcher Gattungen stellt die Verbindung zur Varietätenproblematik her, auf die Luckmann auch explizit eingeht. Dies führt auf die Frage nach der Festigkeit von Gattungen und der Bedeutung verfestigter Formen überhaupt zurück. Auer (1999: 177) erkennt als Fortschritt von Luckmanns Gattungsbegriff gegenüber dem der Textsorten,2 er werde „nicht so weit, daß er sinnlos würde: nicht alles Sprechen findet in Gattungen statt“. Bei Luckmann heißt es dazu:

„Wenn man alltägliche kommunikative Interaktionen von Angesicht zu Angesicht betrachtet und anhört, wird offensichtlich, daß gattungsartig festgelegte Interaktionen wie Inseln im Fluß weniger streng strukturierter kommunikativer Prozesse auftreten. Zweifellos kann ein Individuum in einigen kommunikativen Handlungen einem selbstgewählten Ablauf kommunikativer Schritte folgen, um das Ziel zu erreichen, das es sich selbst gesetzt hat. Die Wahlen sind eingeschränkt von morpho-phonetischen, syntaktischen und lexikalischen Regeln und von klassen-, milieu-, geschlechts-, alters- und situationsabhängigen Regelungen des Sprachgebrauchs.“ (2002: 179; Hervorhebungen K. A.; vgl. auch ebd.: 198)

Der Hinweis auf eine Skala von Vorstrukturiertheit und die Auflistung der Variationsparameter zeigen, dass Luckmann einen denkbar weiten Phänomenbereich im Auge hat; angesichts des Anspruchs, eine soziologische Sprachtheorie zu entwickeln, kann das auch nicht erstaunen. Es fragt sich allerdings, welchen Stellenwert die Rückbesinnung auf die Einfachen Formen eigentlich hat. Halten wir vorerst nur – als wenig spektakulären Hinweis – fest, dass neben den in der Variationslinguistik im Vordergrund stehenden phonetischen, grammatischen und lexikalischen Variablen selbstverständlich auch die Kenntnis und der Gebrauch von Gattungen gruppen- bzw. varietätenspezifisch sein können. Luckmann (vgl. 2002: 167) spricht dabei von der Außenstruktur kommunikativer Gattungen, die insbesondere relevante soziale Milieus und Situationen betrifft. Auf die Binnenstruktur komme ich etwas später zu sprechen, weil sich hier m. E. der Vergleich zum Ansatz von Fix als interessant erweist.

Fix geht es aus textlinguistisch-rhetorisch-stilistischer Sicht darum, Textsorten danach zu gruppieren, inwiefern sie in ihrer Oberflächenstruktur festgelegt sind bzw. wie viel und welche Variation sie zulassen. Sie unterscheidet zentral drei Gruppen (Abb. 2): Zwischen den in der Rhetorik als Verbrauchsrede bezeichneten Gebrauchstexten und den für die Überlieferung ausgearbeiteten Texten (Wiedergebrauchsrede) siedelt sie als Reproduziertexte eben jene nicht absichtlich gestalteten kleinen Gattungen an, die Jolles mit Jacob Grimm auch als Naturpoesie bezeichnet. Sie weisen (schon aus mnemotechnischen Gründen) eine gewisse ästhetische Formung auf, sind aber für Variation relativ offen, während die echten Kunstwerke Änderungen nicht zuließen.

1 Zitiertexte in jeder Hinsicht festgelegte ästhetisierte Form; Wiedergebrauchsrede Choral; literarische Texte
2 Reproduziertexte durchgehaltener ästhetischer Gestus Märchen; Einfache Formen
3 Mustertexte mit signalhaften, die Textsorte indizierenden Merkmalen ohne grundsätzlichen Ästhetisierungsanspruch; Verbrauchsrede Gutachten; Gebrauchstexte
4 Abweichungstexte erkennbar intendierte Abweichung zu Texten vom Typ 1–3 Antisprichwörter

Tab. 1:

Textsortengruppen (nach Fix 2009 / 2013: 188, 201; vgl. auch Fix 2009b: 17f.)

„Im Fall der literarischen Texte sind Änderungen nicht möglich bzw. gar nicht angestrebt. Wo mehrere Fassungen eines Textes vorliegen, wird man immer bemüht sein, die ‚authentischste‘ (Erstfassung, Fassung letzter Hand) herauszufinden. Die ‚Wiederverwendung‘ literarischer Texte besteht darin, dass sie immer wieder neu rezipiert werden können, jeweils bezogen auf dieselbe Textoberfläche, aber durchaus in sehr verschiedenen Lesarten. Was die Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft mit literarischen und rituellen Texten bleibend installiert hat, ist ja nicht (nur) das Textmuster (type), das hat sie mit der Herausbildung von Gattungen bereits geschaffen. Es ist vielmehr […] das Textexemplar (token) selbst: z. B. die Novelle ‚Immensee‘ von Storm, das Kunstmärchen ,Vom hässlichen jungen Entlein‘ von Christian Andersen, der Choral ,O dass ich tausend Zungen hätte‘ und die christlichen Losungs- und Segenssprüche.“ (Fix 2009 / 2013: 198f.)

Die Abweichungstexte kommen in der eigentlichen Gliederung nicht vor, sondern werden erst am Schluss erwähnt. Sie stehen quer zu den drei Hauptgruppen und können auf allen dreien operieren. In diese Gruppe gehören auch die Beispiele [1] und [2] vom Anfang dieses Beitrags, die ich als Sprachspiele bezeichnet habe, um ihren besonderen Stellenwert hervorzuheben: Es handelt sich um ein eigenes Sinngebiet bzw. eine ‚Subsinnwelt‘.

Es scheint mir nun sinnvoll, die Vorstellungen von Fix zusammenzubringen mit Luckmanns Rede von der kommunikativen Urproduktion, zumal Fix sich bei den strikt fixierten Textsorten (Gruppe 1) auf die Rezeption als Form der Tradierung und auf Lesarten als Varianten beschränkt. Für nicht ganz überzeugend halte ich es, rituelle und literarische Texte zusammenzugreifen und sie als Zitiertexte zu bezeichnen. Für beide Gruppen ist das Zitieren nämlich eine untypische oder jedenfalls sekundäre Form der Weiterbearbeitung. Charakteristisch ist das Zitieren vielmehr für Wissenschaftstexte,3 also die Gattungen, die die Aufgabe bearbeiten, Sonderwissen weiterzugeben. Sie sind – nach unserem Wissenschaftsverständnis – auf die auszugsweise Wiedergabe angelegt, an die sich dann Zustimmung, Kritik, Korrektur, Weiterentwicklung o. Ä. anschließt. Zitieren kann man natürlich auch alle anderen Arten von Texten. Für rituelle Texte, Choräle und von den literarischen mindestens für Dramen ist aber das Aufführen die charakteristischste Weiterbearbeitung. Insofern handelt es sich also auch um Texte, die zur Reproduktion gedacht sind, und zwar in eben jener kommunikativen Urproduktion, die den Sinn der Texte wieder neu lebendig macht: Ein Glaubensbekenntnis zu zitieren (Geistesbeschäftigung bzw. Sinngebiet: Wissensvermittlung), ist etwas ganz anderes, als es zu sprechen, um die Illokution für den Sprecher zu aktualisieren (Sinngebiet: Religionsausübung).

Auch der Ausdruck Mustertexte für die dritte Gruppe scheint mir insofern problematisch, als man unter Mustertexten gewöhnlich solche versteht, die als Muster bzw. Vorlagen für neue Texte fungieren (z. B. Musterbriefe oder -verträge). Wiederum würde man dies dem Sinngebiet Wissensvermittlung zuordnen, genauer: dem Vertrautmachen mit Konventionen mittels exemplarischer Realisierungen. Solche ‚Rezepte‘ samt Proben finden wir für Gebrauchs- wie auch für Kunstformen oder sonst anspruchsvollere Texte, sie sind keineswegs mit der Regelpoetik ausgestorben. Es gibt Kurse und Lehrbücher nicht nur für wissenschaftliches, sondern auch für literarisches Schreiben (vgl. z. B. text-manufaktur.de oder schreibszene.ch), für Verkaufsgespräche, Verhöre, Predigten, interkulturelle Begegnungen usw. Nur bei solchen Lehr- und Übungsformen scheint es mir überhaupt sinnvoll zu sein, von der Tradierung von Gattungen zu sprechen. Normalerweise werden Gattungen dagegen nur implizit tradiert, und zwar indem entsprechende Texte tradiert werden. Das kann man ganz analog zum elementaren Fremdsprachenerwerb sehen: Grammatische Regeln kann man zwar explizit formulieren, lehren und lernen, der rezeptive und produktive Gebrauch von Sprache ist aber bekanntlich erheblich bedeutsamer und vor allem wirksamer. Wenn es um ein hohes Niveau der Sprachbeherrschung geht, sagen wir die legendäre Stufe C2 des Referenzrahmens, die sich auch in der Muttersprache nicht von selbst einstellt, lässt sich eigentlich kaum vorstellen, wie man sich die entsprechenden Kompetenzen bzw. Wissensbestände anders aneignen könnte als durch die Rezeption entsprechender Texte. Dabei sollte man die Aufmerksamkeit auch auf die Form richten (vgl. in diesem Sinne das Lehrbuch von Graefen / Moll 2011 und Adamzik 2018b: 291f.).

Die klassifikatorische Herangehensweise, die Texte nur als Produkte in den Blick nimmt, stößt hier grundsätzlich an ihre Grenzen: Sie kann nicht erfassen, dass man mit Texten auch anders umgehen kann, als es der Produzent beabsichtigt hat (vgl. dazu auch Adamzik 2016: Kap. 5.4.). So kann sich jeder selbst Texte zum Vorbild nehmen und sie nachahmen. Dazu gibt es eine interessante Passage bei Luckmann, in der er die Gegensätze zwischen oralen Gesellschaften und den heutigen Verhältnissen unterstreicht:

„Sowohl strukturell als funktional als auch hinsichtlich der Trägerschaft, des Milieus etc., herrschen im allgemeinen bei mündlichen Genres in ‚mündlichen‘ Kulturen ziemlich klare Verhältnisse. Bei schriftlichen Genres in Schriftkulturen ist die Sache wegen ihrer Verfügbarkeit in Texten zwar einerseits einfacher, wegen des Nebeneinanders mündlicher und schriftlicher Genres aber zugleich auch unübersichtlicher. Bei mündlichen Gattungen haben wir es meist mit kommunikativen Formationen zu tun, die in literarischen Genres gar nicht oder nur in radikal verwandelten Entsprechungen auftreten. Sie werden aber von Menschen verwendet, die in einer massenhaft verschrifteten Kultur leben. So kommt es zu merkwürdigen Brechungen und Transformationen. Diese werden in modernen Gesellschaften durch die elektronischen Massenmedien noch vervielfacht. Nicht nur reden Leute nach der Schrift, manche führen Gespräche nach der Literatur, erzählen Witze nach Witzsammelbänden, führen Verkaufsgespräche nach Textbüchern, umwerben ihre Liebste nach filmischen Vorlagen, antworten in Interviews wie sie unzählige andere (Sportler, Schauspieler, Politiker, ‚repräsentative‘ Alltagsmenschen) in Fernseh-Interviews antworten gehört und gesehen haben.“ (Luckmann 2002: 173f.; Hervorhebungen im Orig.)

Texte, die einem Muster folgen (Fix‘ Gruppe 3), gehören der alltäglichen Lebenswelt an, in der ständig konkrete Einzelprobleme zu bearbeiten sind. Hier ist es besonders sinnvoll, von Routinisierung zu sprechen, die das Individuum entlastet, während rituelle Texte wie Glaubensbekenntnisse möglichst nicht routinehaft realisiert werden sollten – das nähme ihnen ihren spezifischen Sinn. Auch rituelle Texte sind allerdings vor Variation nicht geschützt. Das ist uns nicht zuletzt aus der christlichen Tradition vertraut und wird gerade im Lutherjahr anlässlich einer neuen Übersetzung viel diskutiert. Thomas Cramer berichtet in diesem Zusammenhang von einer regelmäßig misslingenden kommunikativen Urproduktion. Er geht aus von einem subjektiven

„Erlebnis, dass [sic] sich indessen, wie ein naturwissenschaftliches Experiment zu jeder beliebigen Zeit wiederholen lässt, indem man einem protestantischen Gottesdienst beiwohnt. Gegen dessen Ende fordert der Pfarrer die Gemeinde auf, gemeinsam das Vaterunser zu beten. Die Gemeinde erhebt sich und wartet darauf, ob der Vorbeter, wie angekündigt, das Vaterunser oder, wie meist, ein Unservater betet. Das gemeinsame Gebet setzt so wie ein schlecht dirigiertes Orchester mit einer kleinen Stolperkadenz ein. Das wäre abzufangen, stellten nicht die folgenden Worte völlig unterschiedliche Lesarten dar: ,im Himmel‘, ,in dem Himmel‘, oder, wie ich es als Konfirmand gelernt habe: ,der du bist im Himmel‘, – und so geht es Satz für Satz, bis endlich die Variante ,erlöse uns von dem Übel,‘ [sic] bzw. ,Erlöse uns von dem Bösen‘ dem kakophonischen Gemurmel ein Ende macht, denn merkwürdigerweise bleibt die doxologische Formel unangetastet.“ (Cramer 2013: 123)

Ähnliches kann man auch beobachten, wenn die (deutsche) Nationalhymne gesungen wird, während Mitglieder von Fußball-Fanclubs ihre Schlachtenlieder bestens beherrschen und vollster Überzeugung lautstark artikulieren. Der Vergleich dieser beiden Konstellationen, in denen die identitätsstiftende Kraft von Gruppentexten (vgl. Adamzik 2018a) ganz unterschiedlich gut funktioniert, verdeutlicht m. E. besonders gut den Nutzen des Rückgangs auf die Mündlichkeit als kommunikative Urproduktion. Man muss Gottesdiensten beiwohnen und an Interaktionen unter Jugendlichen teilnehmen, um über das Funktionieren der jeweiligen Varietäten Aufschluss zu gewinnen. Da wir aber in einer massenhaft verschrifteten und außerdem noch durch elektronische Medien geprägten Kultur leben, ist es ganz abwegig, mündliche Gattungen und schriftliche Textsorten einander entgegenzusetzen, statt sie aufeinander zu beziehen. So gesehen ist die Betonung der grundsätzlichen Flüchtigkeit mündlicher Interaktion (etwa im Sinne von Fiehler u. a. 2004) eigentlich kontraproduktiv und führt auch auf die Frage, wieso man denn eigentlich so viel Aufwand in die Untersuchung von Prozessen investieren sollte, die erklärtermaßen nur für den Moment gedacht sind und keinen darüber hinaus weisenden Sinn implizieren. Nach Luckmanns Ansatz sind die unzähligen Einzelinteraktionen ebenso wie fixierte Texte dagegen als Elemente eines Kreislaufs zu verstehen, ohne die kollektiver Sinn eben nicht ‚erzeugt, vermittelt und reproduziert‘ (s. o.) werden kann.

Wir müssen nun noch auf die Sprachgebärde kommen. Fix interpretiert diese als eine die Form betreffende Kategorie:

„Unter Sprachgebärde versteht Jolles den formulierenden, sprachlich gestaltenden Zugriff auf die Welt, die spezifische Gestalt/Gestaltetheit der Textoberfläche, […], die er für den spezifischen Fall der Einfachen Formen, für Typen mündlichen, aber sich in festen Bahnen bewegenden Erzählens und auch für schriftliche Texte beschreibt. Die Sprachgebärde, die Textlokution, meint alles das, was an einem Text sprachlich-formulativ nicht fehlen darf, damit der Text als bestimmte Einfache Form, z. B. als Märchen, erkannt wird. Das reicht von den sprachlichen Bildern bis hin zu allen lexikalisch-morphologisch-syntaktischen Mitteln, die am Ausdruck des Gestus beteiligt sind.“ (Fix 2009 / 2013: 193; Hervorhebungen im Orig.)

Bei Luckmann, der diesen Begriff nicht ausdrücklich kommentiert, ist die Sprachgebärde auf jeden Fall der Binnenstruktur von Gattungen zuzuweisen; diese besteht aus

„Gesamtmustern recht verschiedenartiger Elemente: aus Worten und Phrasen, Gesamtregistern, Formeln und formelhaften Blöcken, rhetorischen Figuren und Tropen, Stilmitteln wie Metrik, Reimschemata, Listen, Oppositionen, Lautmelodien, Handbewegungen, Körperhaltungen, Mienen.“ (Luckmann 2002: 167)

Diese beiden Bestimmungen sind einander recht ähnlich. Bei der Erwähnung von Worten und Phrasen bzw. lexikalischen Mitteln, Tropen und Bildern kann man sich allerdings fragen, ob damit die Stilschicht/der Typ gemeint ist oder aber konkrete Einheiten, anders gesagt: Geht es nur um die Mittel, an denen man z. B. erkennt, dass es sich um ein Märchen handelt, oder auch um die, die erkennen lassen, dass es Dornröschen ist? Wir kommen also wieder auf die am Ende von 3.2 erwähnten Makro- und Superstrukturen zurück.

Greift man auf Jolles‘ Erläuterung dieses Begriffs zurück, so wird klar, dass es jedenfalls auch um (Makro-)Propositionen geht. Genauer gesagt, soll Sprachgebärde offensichtlich den Ausdruck Motiv ersetzen. Das ergibt sich aus einer im historischen Abstand (zumindest für Sprachwissenschaftler) schwer nachvollziehbaren Kritik an „der sogenannten Motivforschung“ (Jolles 1930 / 1999: 268). Im Anschluss an Nietzsches Definition des musikalischen Motivs als ‚einzelner Gebärde des musikalischen Affekts‘ (vgl . ebd.: 45) wird einzelne Gebärde der Sprache oder kurz: Sprachgebärde als geeigneter Ersatzbegriff für Motiv bestimmt. So dunkel diese expliziten Hinweise bleiben, so dankbar ist man doch für die damit gegebene Orientierung. Sie bestätigt sich endgültig in der Beispieldiskussion, in der es um den Heiligen Georg geht:

„In unserem Beispiel sind die sprachlichen Einzelgebärden: Rad mit scharfen Klingen, himmlische Stimme, eine Erscheinung im weißen Kleide, die hilfreich die Hand ausstreckt, Götter, die angeredet werden, sich dem Zeichen des Kreuzes unterwerfen, Götterbilder, die zerspringen und so weiter.“ (Jolles 1930 / 1999: 46)

Das Bild vom Heiligen Georg entwickelt sich weiter und es kommen als Sprachgebärden/Motive später vor allem noch Drachentöter und Befreier der Jungfrau hinzu. Inwiefern nun nicht nur der Inhalt, sondern auch die sprachliche Fassung (die allerdings in diversen Sprachen notwendigerweise verschieden ist) relevant für die Identifizierung einer Sprachgebärde ist, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls lässt sich mit Jolles die irritierende Praxis überwinden, viel von der Überlieferung von Mustern, aber kaum von der von Inhalten zu sprechen. Nur wenn beides zusammenkommt, kann die Parallelisierung von Texten mit Wörtern greifen, wenn man also Gattungen auf einer Abstraktionsebene ansiedelt, die etwa der von Wortarten vergleichbar ist, während virtuelle Texte Lexemen entsprechen.

Die Gattung Märchen wird überliefert, indem man einzelne Märchen erzählt, neue erfindet oder überlieferte Märchen neu erzählt, bebildert, aufführt, verfilmt usw. Dabei geht es zunächst um Inhalte. Wenn man das Märchen vom Rotkäppchen aktualisiert, dann muss darin eine Gestalt vorkommen, die man als Rotkäppchen (oder als Wiedergängerin von ihr) identifizieren kann, ferner der Wolf. Varianten könnten sein: eine gelbe oder grüne Kappe, rote Haare, rote Socken, Mensch namens Wolf(gang) usw. Für Rotkäppchen existieren tatsächlich besonders viele „Abweichungstexte“, die das Märchen in diverse Varietäten transponieren und dabei teilweise dem Sprachgestus des Märchens vollständig zuwiderhandeln (vgl. Ritz 2013). Dann haben wir tatsächlich gar keine (echten) Märchen mehr vor uns, d. h. die Geistesbeschäftigung ist eine andere, z. B. das Spiel mit Tradiertem, mit dem man sich davon ironisch distanziert und es doch gleichzeitig ‚sich anverwandelt‘. Man könnte diese Versionen genauer untersuchen, um festzustellen, welche Varianten vorkommen, was nötig, aber auch ausreichend ist, um den virtuellen Text wiederzuerkennen und ihn so im kollektiven Gedächtnis zu befestigen.

Das Gleiche kann man nicht nur mit anderen Reproduziertexten, sondern auch Texten anderer Gruppen durchführen. Dabei ist immer zu beachten, dass Fragmente bzw. einzelne (Makro-)Propositionen, d. h. Bausteine aus der Gesamtstruktur, ausreichen, um Texte in Erinnerung zu halten. Aus dem Kunstmärchen von Andersen ist ein Motiv in das kollektive Gedächtnis eingegangen, das in allen möglichen Texten wiederaufgenommen werden kann, nämlich das hässliche Entlein, das zum schönen Schwan wird; es eignet sich hervorragend für die moralische Gattungsfamilie.

Damit können wir zur Gegenüberstellung des Ansatzes von Fix und Luckmann kommen. Fix ist näher bei den abstrakteren Ebenen: In aller wünschenswerten Deutlichkeit kennzeichnet sie sowohl Dornröschen als auch Vom hässlichen jungen Entlein als tokens einer Gattung, eines types. Die potenziell variante Realisierung des Märchens Dornröschen (z. B. von Perrault oder Grimm, aber auch diverse Vorleseakte der Fassung von Grimm) steht nicht im Fokus – in diesem Fall werden die einzelnen Märchen, Fix‘ ,Textexemplare‘, verstanden als type (dazu, dass types und tokens auf verschiedenen Ebenen angesiedelt werden können, vgl. Adamzik 2015: Kap. 2.1).

Luckmann äußert sich nach meinem Kenntnisstand zwar theoretisch nicht sehr klar zu der Frage, auf welcher Abstraktionsebene kommunikative Gattungen anzusiedeln sind. Es müssen aber sicherlich mehrere Niveaus unterschieden werden, die Bearbeitungen sind eben vielschichtig (s. o.). Ob sich diese Niveaus klar gegeneinander abgrenzen lassen, sei dahingestellt: Ich möchte nur einige Beispiele nennen:

Wenn man Klatsch als Gattung definiert, ist in erster Linie die Außenstruktur angesprochen. Inhaltlich können damit eigentlich nur allgemeiner bekannte, insbesondere moralische Topoi gemeint sein. Ein ‚Klatsch-Exemplar‘ im Sinne von Fix besteht dann aus (einer Serie von) Interaktionen, deren Inhalte (insbesondere die gemeinsam bekannten und besprochenen Personen und ihr bedenkliches Verhalten) identifikationsstiftend für ein relativ kleines Kollektiv sind.

Was die nach Luckmann so wichtigen rekonstruktiven Gattungen angeht, so konstituiert die gemeinsame Kenntnis etwa der Gattung biografische Erzählung wohl kaum ein relevantes Kollektiv. Eine Sonderform für das Minimalkollektiv, nämlich ein Paar (Wie haben wir uns kennengelernt?), ist allerdings insofern kulturspezifisch, als sie in vergleichbarer Form nicht vorkommen dürfte in Gesellschaften, in denen Eltern oder Verwandte Ehen vereinbaren. Stark identifikationsstiftend für die Paare ist aber auch bei uns nur die jeweilige Geschichte oder die ‚Sprachgebärde‘: der verpasste Zug, die verlorene Handtasche, der Autounfall usw. Das gemeinsame Erinnern an die Erstbegegnung oder auch an andere geteilte Erlebnisse (Weißt du noch …?) kann rituellen Charakter annehmen und an Jahrestagen zelebriert werden o. Ä. Außerdem werden diese und andere zentrale Episoden aus der Familiengeschichte wie die Geburt der Kinder, der Tod von nahen Angehörigen, Feiern usw. über die Generationen weitergegeben und bevorzugt beim gemeinsamen Betrachten von Fotoalben (demnächst vielleicht eher Videos) erzählt. Dazu gehören auch familienspezifische Wörter und Wendungen (Onkel Fritz sagte immer …), einschließlich der originellen Kreationen sprachlernender Kinder. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass Derartiges auch eine weitere Verbreitung erfährt. Es gibt sogar einen Verlag für Kindermund (kindermund.de).

Um auf die Erstbegegnung von Paaren zurückzukommen, so geht es auf einem mittleren Abstraktionsniveau etwa darum, ob es sich um einen Fall von Liebe auf den ersten Blick handelt oder gerade nicht, ob die Beziehung eigentlich als ,ausgemacht‘ galt, dann aber doch zu einer unerfüllten Jugendliebe wird (wie in Immensee) oder anders herum eine eigentlich undenkbare Beziehung doch noch zustande kommt (wie in einer anderen Novelle von Storm, Pole Poppenspäler). Schriftsteller verarbeiten Erlebtes oder auch Gehörtes/Gelesenes (wie Goethe im Erlkönig, Flaubert in Madame Bovary) in literarischen Texten, Interpreten spüren dann den diversen Bezügen nach, bestimmte Figuren werden zu Typen, die Haltungen, Leistungen oder sonst etwas repräsentieren (Robin Hood, Eulenspiegel, Obelix, Homer Simpson, Einstein, Cassius Clay, Marilyn Monroe, …) – kurz gesagt: Wenn Personen oder Ereignisse eine Bedeutung für eine Gemeinschaft haben, gehen sie in Texte ein, und wenn Texte für eine Gemeinschaft Bedeutung haben, werden diese in verschiedenster Weise bearbeitet, so dass Bestandteile des gesellschaftlichen Wissensvorrats auf vielerlei Art in Kollektiven zirkulieren. Sie gehen nur dann in deren Gedächtnis ein, wenn sie, um auf Luckmanns Ausdruck zurückzukommen, in kommunikativen Urproduktionen immer wieder aktualisiert werden bzw., um auch Dürscheids Redeweise aufzunehmen, wenn sie Bestandteil der dialogischen Prozesse bleiben, die allein Kollektive konstituieren können. Was Berühmtheiten aus verschiedenen Welten angeht, so geschieht dies nicht zuletzt auf Maskenfesten, in denen man in deren Gestalt schlüpft.

Zu dieser Sichtweise passt natürlich die Auffassung nicht, dass es sich bei Texten (oder gar Gattungen) um statische Gebilde handelt, die fixiert wären. Selbstverständlich gibt es solche Fixierungen, genauer gesagt: virtuelle Texte (und ihre Bestandteile) werden immer wieder neu fixiert, materialisiert, und es ist auch sinnvoll, diese verschiedenen Fixierungen zu studieren, aber der Sprachgebrauch besteht nicht in den Produkten, sondern den Prozessen ihrer Herstellung, Ver- und Weiterbearbeitung.

Zum Abschluss soll noch auf die Gattung der Texte eingegangen werden, die der Vermittlung von Allgemein- und Sonderwissen dienen, speziell auf wissenschaftliche Texte, also den Prototyp von ‚Zitiertexten‘ im engeren Sinn. Im Prinzip unterscheiden sie sich hinsichtlich der Überlieferung nicht von anderen Texten (mit Überlieferungswert). Eine Besonderheit besteht allerdings darin, dass die kritische Prüfung und Weiterentwicklung ihrer Inhalte (in unserer Gesellschaft) ausdrücklich vorgesehen sind, sie also immer nur bis auf Weiteres Geltung haben. Darüber, was zitierenswerte Texte sind, ‚entscheiden‘ Kollektive, sie bringen sie nämlich erst als solche hervor. Das geschieht wohl meist über die Unzahl unscheinbarer Akte, deren Ergebnis schließlich als Wirken einer unsichtbaren Hand erscheint, es kann aber auch formalisierte Verfahren umfassen.

Im elementaren Sinne ist es für die Umwandlung eines virtuellen Textes, sei es in ein anerkanntes Kunstwerk, sei es in einen wissenschaftlichen Klassiker, für die Kanonisierung also,4 notwendig, dass er veröffentlicht und immer wieder neu materialisiert wird. Ich beziehe mich auf die hier besprochenen Autoren und damit Verwandtes: Jolles (1930) und Berger / Luckmann (1966) sind kontinuierlich (übersetzt und) wieder neu aufgelegt worden, die Aufsatzsammlung von Luckmann (2002), in der auch ältere Texte erstmals (auf Deutsch) publiziert sind, ist dagegen derzeit nicht mehr im Handel. Manche publizierten Werke geraten in Vergessenheit, werden aber später wiederentdeckt. Dazu gehört z. B. die einzige Monografie von Alfred Schütz, die schon zu seinen Lebzeiten (nämlich 1932) erschienen ist und die heute als Klassiker gilt. Dasselbe lässt sich für Ludwik Fleck (1935) feststellen, dessen (höchst lesenswertes) Werk hier schon deshalb erwähnt werden muss, weil er selbst darin den Gedanken ausführt, dass auch (natur-)wissenschaftliche Tatsachen das Produkt von Denkkollektiven darstellen (vgl. dazu weiter Adamzik 2018b: Kap. 5.2.).

Die wiederholte Materialisierung des virtuellen Texts (im vollständigen und unangetasteten Wortlaut) und selbst die breite individuelle Rezeption dieses Textes sind aber nicht einmal notwendig, um ihn dem kollektiven Gedächtnis bzw. dem Gedächtnis bestimmter Kollektive einzuverleiben. Das hat besonders Kuhn für die Naturwissenschaften hervorgehoben, in denen Lehrbücher (statt die Originalwerke der Heroen dieser Wissenschaft) eine herausragende Rolle spielen (vgl. Kuhn 1976: 177). Für die Kanonisierung sind viel entscheidender als die Lektüre des Textes durch alle Mitglieder des Kollektivs andere Formen der Weiterbearbeitung, eben das Zitieren, Besprechen, Erwähnen, Zusammenfassen sowie alle Formen, in denen nur einzelne Bausteine aufgegriffen und wieder neu in den kommunikativen Haushalt eingespeist werden, seien es nun (Makro-)Propositionen, Begriffe (wie z. B. Geistesbeschäftigung, Denkstil, Subsinnwelt, Sprachgebärde, kommunikative Urproduktion usw.) oder charakteristische Formulierungen. Besonders wirksam ist es, wenn man das, was früher Sonderwissen war, zu Allgemeinwissen deklariert, indem man es auf (schulische) Lehrpläne setzt und entsprechend in Lehrmaterial aufbereitet. Das betrifft sowohl wissenschaftliche als auch literarische Texte und beide werden dabei, sofern sie einen bestimmten Umfang überschreiten, nicht nur massiv gekürzt, sie können auch bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden (für Beispiele vgl. Adamzik 2018b: Kap. 5.2. und 5.5.). Man darf hoffen, dass das dann in kommunikativer Urproduktion, nämlich im Unterrichtsgespräch, wieder korrigiert wird.

VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik

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