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3 Die Notwendigkeit von Abstraktionen

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Bislang wurde der Gegensatz zwischen sprachwissenschaftlichen Ansätzen betont, die sich auf die Untersuchung der Langue oder aber der Parole konzentrieren. Dabei kann leicht der Eindruck entstehen, beide stünden in geradezu unversöhnlichem Gegensatz zueinander. Davon kann insofern keine Rede sein, als es sicherlich zu den Aufgaben der Sprachwissenschaft gehört nachvollziehbar zu machen, welche Leistungen Interaktanten bei der Entschlüsselung sprachlicher Botschaften erbringen (müssen). Wenn wir uns auf die Rezeptionsseite beziehen, so sind konkret gegeben zunächst nur Sinneswahrnehmungen; das betrifft die Ebene der Parole. Die Verarbeitung besteht darin, sie diversen Kategorien zuzuweisen – diese entsprechen im Prinzip der Langue-Ebene. Die Frage ist allerdings, mit welchen Ebenen und Kategorien wir genau rechnen.

Zunächst geht es darum zu erkennen, ob es sich überhaupt um Sprache handelt. Das kommt sehr gut im Original der Eingangsbeispiele zum Ausdruck, wo die Protagonisten visuelle Wahrnehmungen unterschiedlich deuten und (in der mittleren Strophe) nur das Kind das Hörbare als sprachliche Äußerung auffasst:

 [3] Erlkönig

  […]

  Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –

  Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?

  Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? –

  Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. –

  […]

  Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,

  Was Erlenkönig mir leise verspricht? –

  Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;

  In dürren Blättern säuselt der Wind. –

  […]

  Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort

  Erlkönigs Töchter am düstern Ort? –

  Mein Sohn, mein Sohn ich seh es genau:

  Es scheinen die alten Weiden so grau. –

  […]

Wenn etwas als sprachliche Botschaft kategorisiert ist, muss weiter ‚entschieden‘ werden, zu welcher Sprache oder Varietät die Einheiten gehören, zumal es ja vorkommt, dass in einer Äußerung verschiedene davon gemischt sind. Eine möglichst differenzierte Erfassung der menschlichen Lautprodukte (also der materiellen Seite), wie sie das Internationale Phonetische Alphabet (IPA) erlaubt, ist dabei bekanntlich nicht einmal besonders nützlich – so genau will und muss man im Allgemeinen gar nicht wissen, wie sich eine Äußerung angehört hat, man muss nur erkennen, welches Element gemeint war. Deswegen sind gebräuchliche Schriftsysteme sehr viel undifferenzierter als das IPA. Die Einführung der abstrakten Kategorie Phonem, die Varianten, die Allophone, umfasst, stellte für die Systemlinguistik den entscheidenden Durchbruch dar. Ebenso effizient ist dieses Verfahren auf der morphologischen Ebene, wo auch Einheiten, die materiell nicht das Mindeste miteinander zu tun haben (wie die Suppletivformen sein, bin, war), als Repräsentanten derselben abstrakten Kategorie fungieren.

Obwohl nun, wie Abschnitt 2 gezeigt hat, systemlinguistisches Denken in der Textlinguistik durchaus verbreitet ist, spielt die konsequente Übertragung strukturalistischer Analyseverfahren auf Texte dort fast keine Rolle, genauer gesagt wurde damit nur in der Anfangsphase experimentiert. Das schlägt sich in Ausdrücken wie Textem und Allotext nieder, die sich aber nicht etabliert haben und nur sehr selten vorkommen. Stattdessen traten auf der Textebene bald sehr viel abstraktere Einheiten in den Vordergrund, vor allem Textsorten (oder auch ‑klassen, ‑typen etc.). Den frühen Versuchen soll in Kapitel 3.2 etwas genauer nachgegangen werden. Zunächst geht es jedoch darum, den unterschiedlichen Blickwinkel auf Texte gegenüber tieferen Rängen zu verdeutlichen.

VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik

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