Читать книгу Kultur- und Literaturwissenschaften - Группа авторов - Страница 49
2.3.1 Lingua Franca
ОглавлениеEs ist einer der am weitesten verbreiteten Mythen, dass Sprache eine Eins-zu-eins-Abbildung der Sachverhalte darstelle und nicht zwischen die Sachen und das Denken zu treten habe, quasi transparent wie Glas sein müsse. Wenn man sich die mangelnde Sensibilisierung bezüglich Sprachenbewusstheit in der weiten Öffentlichkeit der Gesellschaften und in den gebildeten Kreisen der Wissenschaftsgemeinschaften ansieht, dann kann man das Ausmaß eines großen Dilemmas erahnen. Savory (1967) gibt dieser reduktionistischen Auffassung in einem Motto Ausdruck, das seinem Buch The Language of Science vorangestellt ist, indem er behauptet: “There can be no doubt that science is in many ways the natural enemy of language”. Wenn diese Position auch besonders typisch für die Naturwissenschaften sein mag, so ist sie doch nicht die einzige. Die folgende von Heisenberg (1965 [1959]) formulierte Aussage differenziert wesentlich genauer:
[D]ie existierenden wissenschaftlichen Begriffe passen jeweils nur zu einem sehr begrenzten Teil der Wirklichkeit, und der andere Teil, der noch nicht verstanden ist, bleibt unendlich. (Heisenberg 1965 [1959]: 169f)
Worin drückt sich das mangelnde Sprachbewusstsein der Öffentlichkeit im Allgemeinen und der Wissenschaft im Besonderen aus und welche Auswirkungen hat es? Es ist zum Beispiel erkennbar in der äußerst sparsamen Bereitschaft von Wirtschaftsunternehmen, in funktional und kulturell adäquate Übersetzungen zu investieren. Es zeigt sich aber auch in anglisierten Studiengängen in nicht-englischsprachigen Ländern und in anglisierten Publikationsorganen, in denen eine Veröffentlichung auf Englisch gar nicht plausibel erscheint (zum Beispiel in der Germanistik). Was sind die Folgen dieses linguistischen Imperialismus?
Sie werden häufig zwar sehr schmerzhaft erlebt, aber nur selten auf die kommunikativen Ursachen zurückgeführt. Um die Reichweite zu ermessen, könnte man durchaus an die Bereiche der Politik und Gesellschaft denken. Politische und gesellschaftliche Konflikte entstehen zum Beispiel durch kommunikative Konflikte, und verhängnisvolle Entscheidungen für die Menschheit können aus mangelnder kultureller Sensibilität resultieren. Stellvertretend sei hier nur an die Entscheidung des Europäischen Patentamtes in München vom Dezember 1999 erinnert, mit der ein Verfahren der Universität Edinburgh zur genetischen Veränderung von Stammzellen von Säugetieren geschützt wird. Dieses Verfahren schließt potenziell verheerende menschliche Genexperimente wie das Klonen von Menschen mit ein, und zwar unbeabsichtigter Weise. Man übersah, dass der englische Begriff animal im Gegensatz zum Deutschen ‚Tier‘ oder ‚tierisch‘ nicht zwischen ‚human‘ beziehungsweise ‚non-human‘ unterscheidet. Nur wenn man glaubt, dass es die besagte Eins-zu-eins-Abbildung der Wirklichkeit gibt, kann man nämlich annehmen, dass die entsprechende Übertragung in eine andere Sprache ein einfacher mechanischer Vorgang per Wörterbuch sein kann. Dann würde es auch keine Rolle spielen, in welcher Sprache man veröffentlicht.
Die Problematik soll im Folgenden zunächst an einem alltagssprachlichen Text illustriert werden, einem Text, der nicht nur kulturelle Feinheiten thematisiert, die meist weder expliziert noch bewusst wahrgenommen werden, sondern einem Text, der auch die Problematik der sprachlichen Codierung und Variation auf mehreren Ebenen artikuliert und illustriert. Es handelt sich hier gattungsmäßig um eine (Kanadiern sehr vertraute) Bierwerbung im Fernsehen. Sie nutzt die in Kanada ständig präsente Abneigung und Zurückhaltung gegenüber dem großen Nachbarn im Süden als Mittel der Identitätskonstitution der anvisierten Kundschaft. Die kurze Präsentation fasst exemplarisch und in äußerst subtiler Protestform den Nationalcharakter englischsprachiger Kanadier zusammen, wie er sich im Kontrast zu den Bewohnern der USA definiert.