Читать книгу Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie - Группа авторов - Страница 12
3.1 Unterricht per Materialpaket
ОглавлениеAlle vier Lehrkräfte erzählen davon, dass und wie sie die Schüler*innen im Frühling 2020 mit Materialpaketen versorgten; zwei Lehrkräfte deponierten ihre Materialpakete in den Schulen und ließen sie dort auch wieder von den Eltern hinterlegen; zwei Lehrkräfte brachten die Materialpakete von Tür zu Tür. Eine Lehrkraft der Grundschule nutzte die Übergabe der Pakete zusätzlich, um Gespräche über die Lernprozesse der Kinder zu führen, was sehr zeitaufwändig war. Der Erfolg des Unterrichts mit Hilfe von Materialpaketen wird von den Lehrkräften sehr unterschiedlich bewertet. Eine Lehrkraft an der Sekundarschule war damit sehr unzufrieden: „UND (-) ich hab gewusst? so will ich NIE wieder unterrichten? […] mit koPIERpapier paketen;“ (Lehrkraft C (1:42:50:3–42:56:1)). Diese dezidiert aus einer subjektiven Perspektive formulierte Beurteilung kontrastiert mit der Perspektive der Grundschullehrkräfte, die den Unterricht mit Lernpaketen weniger negativ sehen. Rückblickend bewertet die eine Lehrkraft diesen Unterricht als „nicht wenig effekTI:V? also es war nicht so SCHLECHT;“ (Lehrkraft A (0:18:19:9–0:18:22:4). Der folgende Ausschnitt zeigt, dass die andere Grundschullehrkraft ebenfalls sehr zufrieden war. Wie sie über den Unterricht mit Lernpaketen spricht und wie sie diese Unterrichtsorganisation auch legitimiert, wird im Folgenden genauer analysiert. In ihre Vorbereitungsklasse gehen zurzeit 13 Kinder. In der Organisation des Unterrichts orientierte sie sich am Vorgehen ihrer Kolleg*innen und ließ die Materialpakete in der Regel an der Schule abholen und wieder hinterlegen. In einzelnen Fällen übergab sie die Materialpakete auch an der Tür. Die Tür-und-Angel-Situation nutzte sie nicht für lernprozessbezogene Gespräche. Im folgenden Ausschnitt erzählt sie auf die Frage der Interviewerin, ob denn ein Kind während des ersten Lockdowns „untergegangen“ sei, eine Anekdote, die im Prinzip den Schwachpunkt ihrer Unterrichtsorganisation illustriert, der sich im Nachhinein ihres Erachtens aber als unproblematisch erwies:
Abb. 1: Interview mit Lehrkraft B, Grundschule (0:11:16:0–0:12:11:8)
Die Frage der Interviewerin, ob denn ein Kind während des Lockdowns „untergegangen“ sei, verneint die Lehrkraft nachdrücklich: „NE:.“ (Zeile 1) Die Bewertung dieses Sachverhalts bricht sie ab und verleiht dann ihrem Erstaunen Ausdruck darüber, wie „TOLL“ (Zeile 5) der Unterricht mit Lernpaketen geklappt habe. Als Bestätigung und gleichzeitige Legitimation dieser Aussage erzählt sie nun, wie routiniert der Unterricht per Lernpaket funktionierte (Zeilen 8–9); die Pointe der Geschichte besteht aber gerade nicht im Nachweis der Routine und deren Erfolg, sondern in der Darstellung der Ausnahme, die sie erlebte. Die Einschränkung, dass zwar die allermeisten, aber doch nicht ganz alle die Lernpakete abholten, bearbeiteten und wieder zurückbrachten, fungiert hier als Einleitung in die ausführliche Erzählung, in deren Zentrum das Kind, von dem „irgendwie nie“ (Zeile 12) etwas kam, steht. Die Lehrkraft erzählt, auf das Stilmittel der zitierten Gedankenrede zurückgreifend und damit das footing wechselnd (vgl. Goffman 1981), wie sie selbst auf dieses Ausbleiben reagierte. Dieses erzählte Ich wird zuerst als pflichtbewusste Lehrkraft dargestellt, die sich Gedanken darüber macht, wieso die Lernpakete des Kindes ausbleiben. Im Fortgang der Geschichte zeigt sich jedoch, dass das erzählte Ich den Gedanken keine Taten folgen lässt, die während des Lockdowns etablierte Routine, nämlich die Lernpakete einfach in den Briefkasten zu werfen, nicht durchbricht und nicht anruft. Die Darstellung der Untätigkeit der Lehrkraft mag narrativ geschickt sein, denn damit steigert sie bei der Zuhörerin die Spannung auf die Auflösung des Problems. Sie enttäuscht aber so gleichzeitig die Erwartungen, welche die Zuhörerin an eine pflichtbewusste Lehrkraft stellt: Das erzählende Ich stellt das erzählte Ich in einem äußerst negativen Licht dar. Das face (vgl. Goffman 1981) des erzählten Ichs wird im Fortgang der Geschichte jedoch durch das Kind gerettet. Narrativ wird das Kind hier zur Heldin, denn es bringt wider Erwarten „für ALLe wochen (-).h !ALL!es“ (Zeile 19) zurück: Der Unterricht per Lernpaket hat doch funktioniert, die Sorgen der Lehrkraft, dass das Kind nicht arbeite, waren unbegründet, das Ausbleiben des Nachfragens nicht weiter tragisch. Das Lachen, welches die Auflösung der Erzählung begleitet, unterstreicht dies. Es kommentiert nicht nur das Handeln des Kindes und unterstreicht damit den inszenierten Erwartungskontrast. Es ist auch ein Lachen der Erleichterung, da selbst bei diesem Kind, der Ausnahme, der Unterricht mit Lernpaketen trotz der Untätigkeit der Lehrkraft nicht komplett missglückte. Das Kind rettet hier Lernsetting und Ansehen der Lehrkraft gleichermaßen. Aus dieser Erfahrung schöpft die Lehrkraft, wie die letzte Zeile (28) zeigt, die Hoffnung, dass der Unterricht unter Pandemiebedingungen auch mit den neuen Schüler*innen wieder gut klappen wird.
In und durch diese „small story“ (vgl. Bamberg/Georgakopoulou 2008) wird nicht nur der Einsatz von Materialpaketen trotz Schwierigkeiten legitimiert. Diese Geschichte illustriert auch eine der Einstellungen, welche die Lehrkräfte im Umgang mit der Komplexität der Situation in ihren Erzählungen sichtbar machen. Die Situation ist herausfordernd; die Lehrkräfte müssen neue Routinen entwickeln, deren Gelingensbedingungen sie nicht kennen. Die Lehrerin hier zeigt, dass der Zweifel, den sie hatte, unbegründet war, dass ihre Lernarrangements funktionieren und ihre Schüler*innen die Fähigkeit mitbringen, mit der herausfordernden Situation umzugehen, auch wenn die Lösungen, die sie entwickeln, nicht immer dem entsprechen, was die Lehrkraft erwartet. Die Lehrkraft hier traut ihren Schüler*innen zu, auch in dieser schwierigen Situation erfolgreich handeln zu können.