Читать книгу Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie - Группа авторов - Страница 9
1 Einleitung
ОглавлениеIn Baden-Württemberg wurden Vorbereitungsklassen (VKL) in der Annahme eingerichtet, dass Kenntnisse der Schulsprache das Fundament einer gelingenden Integration wären (vgl. Ministerium KJS 2017a). Die Vorstellung, dass durch die Einrichtung von Vorbereitungsklassen „gelingende Integration“ zu bewerkstelligen wäre, ist, wie auch die jüngsten PISA-Studien zeigen, zu einfach; dass die Vorbereitungsklassen selbst komplexe Arenen sind, in welchen nicht bloß die Schulsprache vermittelt und die Lernenden in die Kulturen der Schulen sozialisiert werden, zeigt die bildungs- und sprachwissenschaftliche sowie migrationspädagogische Forschung, die sich mit diesem Bereich des Bildungssystems befasst. Bundesweite (vgl. Massumi/von Dewitz 2015) und länderspezifische Bestandsaufnahmen (vgl. Decker-Ernst 2017) zeigen, wie unterschiedlich die Modelle sind, die in der Bundesrepublik entwickelt wurden, um Kinder und Jugendliche, deren Kenntnisse in der Schulsprache als zu gering betrachtet werden, zu fördern. Aspekte der Segregation, insbesondere bei parallel organisierten Beschulungsmodellen, wurden unter anderem von Karakayalı/Nieden (2018) oder ganz aktuell von Füllekruss/Dirim (2020) in den Blick genommen. Fragen des Spracherwerbs oder der Organisation von Übergängen in den Regelunterricht (vgl. Budde/Prüsmann 2020) sind tendenziell mit Schwerpunkt auf die Sekundarstufe und im Hinblick auf die Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen thematisiert worden. Dabei wird auch aus fachdidaktischer Perspektive zunehmend nach der Erweiterung der auf Lehrkräfte und Schüler*innen bezogenen mikroperspektivischen Ebene und nach der migrationsgesellschaftlichen Einbettung des Geschehens gefragt (vgl. Budde/Prüsmann 2020: 7).
Die sprachenpolitische Perspektive nimmt nicht nur in den Blick, wie sprachenpolitische Vorgaben auf staatlicher Ebene entwickelt und umgesetzt werden. Aktuelle Ansätze berücksichtigen immer auch die Perspektiven unterschiedlicher Akteur*innen auf verschiedenen Ebenen (vgl. Tollefson 2015: 144f.). In der kritischen Language Policy-Forschung (siehe etwa Tollefson 2009) wird dabei auch die Frage danach gestellt, ob bestimmte sprachenpolitische Praktiken für bestimmte Gruppen, zum Beispiel neu zugewanderte Schüler*innen, benachteiligend sein könnten. So weist etwa Shohamy (2009) darauf hin, dass die Entscheidungen darüber, welche Sprachen unterrichtet, wie diese Sprachen unterrichtet, aber etwa auch, wie diese Sprachen getestet werden, keine neutralen Akte sind, sondern durch Ideologien, auch Sprachideologien, geprägt sind. Language Education Policies, so Shohamy (vgl. 2009: 50), entstehen aus einer Vielzahl von Wahrnehmungen über Sprachen und deren Sprecher*innen. Alle beteiligten Akteur*innen, von den Bildungspolitiker*innen bis hin zu den Lehrkräften, sind immer schon durch gesellschaftlich vorherrschende Wissensbestände über natio-ethno-kulturell-linguale (Nicht-)Zugehörigkeit(en) geprägt und positionieren sich aktiv oder passiv dazu (vgl. Füllekruss/Dirim 2020: 79). Lehrer*innen befinden sich aus dieser Perspektive im Zentrum komplexer sprachpraktischer und sprachenpolitischer Prozesse (vgl. Menken/Garcia 2017: 211); und sie sind, wie die Forschung zeigt, ebenfalls zu einem beträchtlichen Maß daran beteiligt, Integration und Inklusion in Bildungsinstitutionen zu ermöglichen oder zu verhindern (vgl. Fettes/Karamouzian 2018).
Die Bandbreite der Praktiken und die spezifischen Mechanismen an Schulen, aus denen die tatsächlich realisierte Sprachenpolitik in den Unterrichtspraktiken resultieren, ist bis jetzt noch unbekannt (Menken/Garcia 2017: 220), und die überaus heterogene Gruppe von Schüler*innen, die als „neu zugewandert“ kategorisiert werden (vgl. Massumi/von Dewitz 2015: 13), befindet sich im Brennpunkt sprachenpolitischer Auswirkungen und multilingualer Spracherwerbsprozesse. Die Sichtweise von Language Policy als Zusammenspiel der Aspekte Sprachmanagement, Sprachpraktiken und Sprachideologien (vgl. Spolsky 2017) erlaubt es, Language Education als Sprachmanagement zu sehen: Management in dem Sinne, dass jemand, der Autorität hat oder zumindest beansprucht, mit der Absicht handelt, die Sprachpraktiken eines Individuums zu beeinflussen oder zu verändern, zum Beispiel seine Sprachkenntnisse zu erweitern (vgl. Spolsky 2017: 5).
Hier setzt unser Beitrag an, welcher den Fokus auf die Lehrkräfte richtet. Während der COVID-19-Pandemie 2020/21 waren Lehrkräfte damit konfrontiert, ihre Unterrichtsorganisation passend zu den jeweiligen landespolitischen Vorgaben auf die besonderen Bedürfnisse der neu zugewanderten Schüler*innen abzustimmen. Wie Lehrkräfte in Vorbereitungsklassen mit der komplexen Gemengelage sprachenpolitischer Vorgaben umgehen, wie sie sich diese aneignen und umsetzen, wurde bislang im deutschsprachigen Raum kaum untersucht; wie sich die durch die COVID-19-Pandemie bedingten Veränderungen auf ihren Schulalltag in der Vorbereitungsklasse auswirken, wurde bislang nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im öffentlichen Diskurs kaum thematisiert.
Im Rahmen unserer qualitativ-rekonstruktiven Studie zu Language Education Policies im Kontext der Bildung mehrsprachiger neu zugewanderter Schüler*innen in Baden-Württemberg wurden mit Lehrkräften in Vorbereitungsklassen an Grundschulen und weiterführenden Schulen episodische Interviews geführt. Diese wurden nach GAT (vgl. Selting et al. 2009) transkribiert, um eine mikrosprachliche Feinanalyse (vgl. Kruse 2015: 475) im Sinne des integrativen Basisverfahrens (vgl. Kruse 2015) zu ermöglichen. Weitere, insbesondere narrative Analyseverfahren (vgl. Bamberg/Georgakopoulou 2008; Goodwin 2016), wurden als methodische Analyseheuristik für die Feinanalyse integriert, und die Interpretation auf der Folie der kritischen Language Policy-Forschung (z.B. Wiley/García 2016) reflektiert. Dabei wird aus der „Panoramaperspektive“ in die „Nahperspektive“ gewechselt, um „die aus der Ferne wahrnehmbaren Konturen verlässlicher zu erkennen und punktuell genauer zu erkunden“ (Meng 2001: 15).
Die Analyse von vier episodischen Interviews, die im Dezember 2020 und Januar 2021 entstanden und jeweils ca. 90 Minuten dauerten, bietet einen Einblick, wie die Lehrkräfte mit Vorgaben, Herausforderungen und gestalterischen Spielräumen während der Pandemie umgehen. Der Erhebungszeitpunkt erlaubt einen Rückblick auf die erste Schulschließung im Frühjahr 2020 sowie auf die Phase der teilweisen Schulöffnungen im Sommer und Herbst bis hin zu Aktivitäten, um sich auf die drohende erneute Schulschließung im Januar 2021 vorzubereiten. Es wird sichtbar, wie sich die Lehrer*innen selbst positionieren, welche Rollen sie sich im Prozess der Ausgestaltung des Unterrichts zuschreiben, welche Praktiken und Strategien sie entwickeln, wie sie diese legitimieren und welche (sprach-)ideologischen Positionen sie dabei rekonstruieren. Es wird sichtbar, wie sie damit die konkrete Ausgestaltung der Bildungsvorgabe beeinflussen, „neu zugewanderten“ Kindern die Schulsprache in einem Maß zu vermitteln, dass sie an der jeweiligen Schule in den Regelunterricht integriert werden können.