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Das literarische Verhältnis der kanonischen Evangelien zueinander

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Angesichts der Tatsache, dass die vier Evangelien erzählerische, thematische und in einigen Fällen auch sprachliche Ähnlichkeiten aufweisen, ist es wahrscheinlich, dass sie voneinander abhängig sind. Das genaue Verhältnis der vier Evangelien untereinander wird von der Fachwelt indes kontrovers diskutiert. Die ersten drei Evangelien, die die gleiche Geschichte in ungefähr der gleichen Reihenfolge erzählen, sind als die „synoptischen“ (gr. für „zusammen-schauen“) Evangelien bekannt. Versuche, das literarische Verhältnis dieser synoptischen Evangelien untereinander zu erklären, beschäftigen sich mit dem in der Fachsprache so genannten „synoptischen Problem“: Wer benutzte welchen Text als Vorlage?

Das Markusevangelium wird gewöhnlich als das zuerst entstandene Evangelium betrachtet und gilt als Quelle für Matthäus, Lukas und vielleicht auch Johannes. Als kürzestes der vier Evangelien enthält das Markusevangelium keine Geburtsgeschichte und ursprünglich auch keine Auferstehungsberichte; es konzentriert sich auf Jesus als den leidenden Gottesknecht, der als Lösegeld für die Menschheit stirbt (Mk 10,45; vgl. Mt 20,28). Einige frühe Kirchenväter sowie einige moderne Bibelwissenschaftler sehen in Markus einen Erben der paulinischen Kritik an der Befolgung der Tora (z.B. Mk 7,19).

Matthäus, der vermutlich Markus als Quelle benutzt hat, setzt einen anderen Schwerpunkt: Das Matthäusevangelium betont die Rolle Jesu als Lehrer und seine Kontroversen mit den Pharisäern über die angemessene Interpretation der Tora. Zu den Inhalten des Markusevangeliums fügt Matthäus eine Geburtstagsgeschichte hinzu. Darin enthalten ist die Erzählung von Josefs Traum, ein Zitat aus der griechischen Übersetzung des Jesajabuches, mit dem er die jungfräuliche Empfängnis Jesu erläutert (Mt 1,18–25, vgl. Jes 7,14), dazu den Besuch der Weisen sowie den Kindermord (Mt 2). Markus‘ Geschichte vom leeren Grab ergänzt er durch die Erscheinung Jesu gegenüber einigen Jüngerinnen (Mt 28,1–11) sowie durch den Missionsbefehl (Mt 28,16–20) an die verbleibenden elf Jünger. Man kann Matthäus auch so verstehen, dass er den angeblichen Antinomismus des Markus korrigiert, indem er die dauernde Gültigkeit der Tora erklärt (Mt 5,17–19) und die Sendung des Paulus negiert (z.B. macht Matthäus Petrus und die anderen Jünger zu Aposteln für die Völker [Mt 28,19], während Paulus diese Rolle für sich beansprucht [Gal 1,16; 2,2]).

Lukas wird ebenfalls generell für abhängig von Markus gehalten. Das Lukasevangelium fügt dem Markusevangelium eine Geburtsgeschichte und Auferstehungsberichte hinzu, die sich von denen im Matthäusevangelium recht deutlich unterscheiden. Das dritte Evangelium enthält Details zur Empfängnis und Geburt Johannes‘ des Täufers, die Ankündigung des Engels Gabriel an Maria, dass sie die Mutter des Messias werden würde (daraus erwuchs das „Ave Maria“ bzw. „Gegrüßet seist du, Maria“ von Lk 1,28), die Volkszählung in der Provinz, die Geburt Jesu in einer Krippe und den Besuch der Hirten. Bei den Auferstehungserzählungen ergänzt Lukas die wohlbekannte Geschichte von der Erscheinung Jesu vor den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24,13–33) sowie die Erzählung von Jesu Himmelfahrt (Lk 24,50–51). Die bekannten/berühmten Gleichnisse vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30–38) und vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) kommen ebenfalls nur bei Lukas vor.

Das Matthäus- und das Lukasevangelium enthalten auch gemeinsames Material, das im Markusevangelium nicht zu finden ist, wie die Seligpreisungen (Mt 5,3–12 // Lk 6,20–23) und das Vaterunser (Mt 6,9–13 // Lk 11,1–4). Gelegentlich erzählen Matthäus und Lukas die gleichen Geschichten wie Markus, aber mit Details, die Markus nicht hat, wie z.B. die längere Version der Geschichte von der Versuchung Jesu durch Satan (vgl. Mt 4,1–11 und Lk 4,1–13 mit dem begrenzteren Mk 1,12–13). Um die Herkunft des Materials zu erklären, das Matthäus und Lukas gegen Markus gemeinsam haben, gehen viele Fachleute davon aus, dass Lukas und Matthäus zu einer schriftlichen Quelle Zugang hatten, die hauptsächlich aus Worten Jesu bestand. Diese (hypothetische) Quelle ist als Q bekannt (ein vom Wort „Quelle“ abgeleitetes Kürzel). Matthäus und Lukas hatten vermutlich darüber hinaus ihre jeweils eigenen Quellen, die mit „SMt“ für das matthäische und „SLk“ für das lukanische Sondergut bezeichnet werden. Die jeweils unterschiedlichen Geburts- und Auferstehungsgeschichten könnten aus diesen Quellen stammen. Diese Standardlösung des synoptischen Problems wird gewöhnlich als die „Zwei-Quellen-Theorie“ bezeichnet. Als Diagramm sieht sie wie folgt aus:


Diese Theorie wurde unabhängig voneinander durch Christian Gottlob Wilke (1838) und Christian Hermann Weise (1838) entwickelt. Die Diskussion um die literarische Abhängigkeit der Synoptiker geht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Sie ist verbunden mit dem Namen Johann Jakob Griesbach (1789). Schon 1782 hat Johann Benjamin Koppe für die Priorität des Markus argumentiert, wie auch Gottlob Christian Storr 1794. 1835 hat der Philologe Karl Lachmann dieser Sicht zum Durchbruch verholfen. Breit akzeptiert wurde die Zwei-Quellen-Theorie dann nach Arbeiten von Heinrich Julius Holtzmann (1832-1919) und Bernhard Weiß (1827-1918).

Andere Gelehrte bezweifeln die Existenz von Q; manche gehen davon aus, dass Lukas den Text des Matthäus benutzt habe und Markus als spätestes Evangelium die beiden gekürzt und zusammengefasst habe. Diese Theorie, die nach Johann Jakob Griesbach (1745–1812) als Griesbach-Hypothese bekannt wurde, sieht im Schema folgendermaßen aus:


Eine neuere Schulmeinung (1955), die als Farrer- (oder Farrer-Goulder-) Hypothese bekannt ist, vertritt die Markuspriorität, den Gebrauch des Markus- evangeliums durch Matthäus und dann die Benutzung sowohl des Matthäus- als auch des Markusevangeliums durch Lukas.


Andere wiederum sind der Ansicht, Matthäus habe sowohl Markus als auch Lukas benutzt. Obwohl alle diese Rekonstruktionen auf der Basis guter Argumente behaupten, dass Markus, Matthäus und Lukas irgendwie untereinander literarisch abhängig sind, muss jede weitere Behauptung der Priorität eines Textes gegenüber den anderen spekulativ bleiben.

Es ist ebenfalls schwierig, eine Unterscheidung zu treffen zwischen den Materialien, die die Evangelisten aus früheren Quellen übernommen haben, und denen, die sie selbst hinzugefügt haben. Die „Redaktionskritik bzw. Redaktionsgeschichte“ konzentriert sich auf die Rekonstruktion der Tätigkeit der Evangelisten als Herausgeber oder Redaktoren. Ließ Matthäus z.B. Markus‘ Bemerkung, dass Jesus alle Speisen für rein erklärt habe (Mk 7,19), bewusst aus oder fügte Markus sie zu Matthäus‘ Geschichte (Mt 15,1–20) hinzu? Wenn Matthäus Jesus mit den Worten zitiert: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen“ (Mt 5,17), gibt der Evangelist dann ein echtes Wort Jesu wieder oder extrapoliert er Details aus überlieferter Tradition? Stammt die Betonung der „Gerechtigkeit“ (gr. dikaiosynē) bei Matthäus (3,15; 5,6.10.20; 6,1.33; 21,32) aus Material, das er vorfand, oder spiegelt sie die eigene Theologie dieses Evangelisten wider? Erfand Lukas die Geburtsgeschichten von Johannes und Jesus, um die Überlegenheit Jesu gegenüber Johannes und damit auch die Überlegenheit der Jesusbewegung gegenüber den Anhängern des Täufers aufzuzeigen, oder übernahm er diese Traditionen? Die Evangelisten sind kreative Autoren und nicht nur Sammler überlieferten Materials; was sie niederschreiben, kann durchaus, wenn schon keine wörtliche (was ohnehin unmöglich ist, da Jesus Aramäisch sprach und die Evangelien auf Griechisch verfasst sind), so doch eine sinngemäße Wiedergabe dessen sein, was Jesus sagte.

Johannes bietet viele Passagen, die in den synoptischen Evangelien fehlen, wie die Erzählung von der Verwandlung von Wasser in Wein auf der Hochzeit zu Kana (Joh 2), die detaillierten Begegnungen mit dem pharisäischen Gelehrten Nikodemus (Kap. 3) und der Samaritanerin (Kap. 4), die Auferweckung des Lazarus (Kap. 11) sowie eigenständige Schlüsselbegriffe wie „Licht“, Wahrheit“ und „Herrlichkeit“. Während die Synoptiker Jesus vorwiegend als Verkündiger der Ankunft des Reiches Gottes darstellen, der in Gleichnissen spricht, enthält das Johannesevangelium keine solchen Gleichnisse, sondern nur einen kurzen gleichnisartigen Vergleich (Joh 12,24), zwei Erwähnungen des Reiches Gottes (Joh 3,3.5) sowie eine knappe Bezugnahme auf „mein Reich“ (Joh 18,36). Jesus verkündigt vorwiegend sich selbst mit den „Ich bin“-Worten (das Brot des Lebens [Joh 6,35], der wahre Weinstock [Joh 15,1], der Weg, die Wahrheit und das Leben [Joh 14,6]), in denen sich Gottes Selbstaussage gegenüber Mose im brennenden Busch (Ex 3,14) widerspiegelt. Dennoch enthält das Johannesevangelium auch größere Übereinstimmungen mit den Synoptikern, wie die Berichte über Johannes den Täufer, die Speisung der 5.000 (Mt 14,21; Mk 6,44; Lk 9,14; Joh 6,10) und ein wichtiges Letztes Mahl. Auch in der Passionsgeschichte gibt es sowohl Überschneidungen als auch Unterschiede, wie verschiedene Datumsangaben (s. „Zeitrechnung, Kalender und Feste“) und verschiedene Ereignisse während des Letzten Mahls (bei den Synoptikern setzt Jesus die Eucharistie ein, während er bei Johannes den Jüngern die Füße wäscht). Es bleibt daher eine vieldiskutierte Frage, ob bzw. in wie weit Johannes unabhängig von allen oder einzelnen Synoptikern ist.

Unser Verständnis der literarischen Beziehungen der Evangelien untereinander beeinflusst auch unser Verständnis der Historizität der Geschichten und der konkreten Unterscheidung von Tradition (was Jesus tat und sagte) von der Redaktion (was ein bestimmter Evangelist Jesus zuschreibt). Die frühen Vertreter der Markuspriorität (d.h. der Annahme, dass das Markusevangelium das erste schriftliche Evangelium gewesen sei) und der Quelle Q dachten, dass diese Quellen eine größere historische Plausibilität besäßen, weil sie älter waren als das Matthäus- und das Lukasevangelium. Markus und Q (sofern Q als „Buch“ existierte) haben ihr eigenes Programm, und ein frühes Entstehungsdatum ist keine Garantie für Genauigkeit. Späteres Material kann sogar mehr Tatsachen beinhalten, besonders wenn es von vielen verschiedenen Quellen oder Traditionen Gebrauch macht.

Es ist auch unklar, wie die Evangelisten ihre Werke selbst im Verhältnis zu den ihnen vorliegenden Quellen verstanden. Lukas erkennt an, dass „es nun schon viele unternommen haben, Bericht zu geben von den Geschichten, die sich unter uns erfüllt haben,“ (Lk 1,1) und dass er „alles von Anfang an … in guter Ordnung aufzuschreiben“ gedenke, „nachdem [er] alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe“ (1,3). Wollte Lukas tatsächlich andere Berichte wie das Matthäus- und das Markusevangelium ersetzen? Und generell gesprochen: Wurden Evangelien verfasst, um frühere Quellen zu ersetzen, sie zu korrigieren oder sie zu ergänzen?

Darüber hinaus ist es unbekannt, an welche Gemeinden sich die einzelnen Evangelien richteten, ob sie tatsächlich besondere Gruppen ansprechen wollten oder nicht doch für alle Anhängerinnen und Anhänger Jesu gedacht waren. Zumeist geht man davon aus, dass Markus für eine vorwiegend nichtjüdische Gemeinde in Rom geschrieben habe, obwohl einige Fachleute das Markusevangelium als Ergebnis der Situation in Obergaliläa sehen, wo Juden und Nichtjuden gemeinsam eine Gemeinde bildeten. Lukas sieht man gemeinhin als Nichtjuden, der für ein vorwiegend nichtjüdisches Publikum schreibt, aber sogar hier betrachten einige Gelehrte Lukas als Juden oder Gottesfürchtigen, also einen nichtjüdischen Sympathisanten der jüdischen Gemeinde. Von Matthäus, dem gebildeten Zöllner (s. Mt 10,3), wird allgemein angenommen, dass er für ein überwiegend jüdisches Publikum schreibt, weil das Evangelium die (Relevanz der) Tora betont, weil Jesus intensiv mit den Pharisäern diskutiert und weil das Evangelium eine besondere Affinität zur späteren rabbinischen Literatur zeigt. Diese verschiedenen Interpretationen der Entstehungsumstände der Evangelien basieren wesentlich auf einem Zirkelschluss: Auf der Basis der Erzählung arbeiten wir das Programm des Autors und die Identität seiner Leserschaft heraus. Dann interpretieren wir den Text auf der Basis genau dessen, was wir aus internen Beobachtungen erschlossen haben.

Das literarische Verhältnis zwischen den Evangelien, ihr jeweiliges gesellschaftliches Umfeld und die Unterscheidung zwischen Inhalten, die die Evangelisten aus Quellen übernommen haben (d.h. aus der Tradition), und solchen, die sie aus ihrer eigenen Vorstellung hinzugefügt haben (d.h. Redaktion), sind grundlegende Themen der neutestamentlichen Wissenschaft. Diese Probleme, die nicht mit Sicherheit gelöst werden können, sind auch bei der Interpretation der Evangelien in ihrem Verhältnis zu Juden und dem Judentum wichtig: Wie wir die Kompositionsgeschichte eines jeden Evangeliums verstehen, wird notwendigerweise auch beeinflussen, wie wir seine Inhalte auffassen – einschließlich des Verhältnisses zu Juden, die Jesus nicht als Messias betrachteten.

Ebenso ist es schwierig, das Verhältnis der Evangelisten und ihrer frühen Leserschaft zum nicht-messianischen Judentum zu eruieren. Zitate aus der Septuaginta sind weder ein Hinweis auf einen jüdischen Verfasser noch auf ein jüdisches Publikum, da dieser Text auch bei den nichtjüdischen christlichen Gemeinden für heilig gehalten wurde, wie die Paulusbriefe zeigen. Das Matthäus- und das Johannesevangelium werden allgemein als Kompositionen für eine Minderheit gesehen, die von der größeren jüdischen Gesellschaft abgelehnt wurde. Dieser hypothetische Kontext wird dann herangezogen, um zu erklären, warum Mt 27,25 der jüdischen Gemeinde eine kollektive Schuld für Jesu Tod zuschreibt, weil „alles Volk“ gerufen habe: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ In Joh 8,44 sagt Jesus zu „den“ Juden (gr. Ioudaioi): „Ihr habt den Teufel zum Vater“. Literarische Polemik spiegelt jedoch nicht unbedingt tatsächliche gesellschaftliche Verhältnisse wider. Frühere Behauptungen, dass die Evangelien eine Reaktion auf eine angebliche Versammlung von Rabbinen im Jahr 90 u.Z. in Jamnia (Javne) seien, die ihrerseits beschlossen hatten, dass die Anhängerinnen und Anhänger Jesu Häretiker seien, die man aus den Synagogen ausschließen müsse, werden durch jüdische Quellen widerlegt (s. „Birkat ha-Minim“).

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