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Wie man ein Evangelium lesen sollte
ОглавлениеJedes Evangelium erzählt seine eigene Geschichte und sollte daher auch individuell gelesen werden; erst im nächsten Schritt sollten die verschiedenen Berichte miteinander verglichen werden (die Kommentare geben häufig die Parallelstellen an). Solche Vergleiche arbeiten die verschiedenen Ansätze der einzelnen Evangelisten heraus und zeigen zugleich auf, wie dieselbe Geschichte verschiedene Botschaften transportieren kann, wenn sie auf unterschiedliche Weise erzählt wird. Einige werden bei ihrer Lektüre jeden einzelnen Abschnitt des jeweiligen Evangeliums auskosten wollen, Erzähleinheit um Erzähleinheit (der griechische Ausdruck für solche Einheiten ist perikopē, „um etwas herum schneiden“, „ausschneiden“); andere werden den ganzen Text in einem Durchgang lesen wollen. Manche werden erst den Text lesen und dann auf die Kommentare und die Essays, auf die querverwiesen wird, zurückkommen wollen; andere werden eine intensive und umfassende Lektüre bevorzugen, bei der sie jede Anmerkung und Erläuterung genau prüfen.
Einige Leserinnen und Leser sind möglicherweise mehr an Charakteren und Themen als an den Texten der Evangelien in ihrer rekonstruierten Abfolge interessiert. Sie könnten sich etwa auf die Beschreibungen der Apostel (auch als „die Zwölf“ bekannt), Marias, der Mutter Jesu, der zahlreichen Nebenfiguren (z.B. Nikodemus in Joh 3, die Samaritanerin in Joh 4, Maria und Martha in Lk 10 und Joh 11–12, Josef von Arimathäa) und der politischen Akteure (Herodes d.Gr., Herodes Antipas, Pontius Pilatus, Kaiphas und Annas) konzentrieren.
Angesichts der Konzentration dieses Bandes auf die jüdischen Kontexte und Inhalte des Neuen Testaments möchten andere Leserinnen und Leser sich vielleicht auch erst den Beschreibungen der jüdischen Feste (Sabbat, Pesach, Schawuot, Chanukka), Lebensregeln (z.B. Speisegebote, Synagogenbesuch und Toralesung, Reinheitsgebote, Pilgerfeste) und Gruppen (Pharisäer, Sadduzäer, Anhänger des Täufers Johannes) zuwenden.
Alle Leserinnen und Leser tun gut daran, sich bei ihrer Lektüre zu vergegenwärtigen, wie der erzählerische Kontext der Evangelien ihr eigenes Verständnis Jesu von Nazareth beeinflusst. Jesus polemisierte vermutlich gegen andere Juden: Dies taten im Laufe der Jahrhunderte aber auch Mose und Elia, Jesaja und Jeremia, Hillel und Schammai usw. In dem Augenblick jedoch, in dem die Worte Jesu Teil der Evangelien wurden und diese wiederum die Heilige Schrift einer bald mehrheitlich nichtjüdischen Kirche, wurden und werden ursprünglich innerjüdische Diskussionen allzu häufig aus ihrem historischen Kontext herausgelöst und als externe Verurteilungen des zeitgenössischen bzw. des ganzen Judentums gelesen. Ob bereits die Evangelien an und für sich anti-jüdisch waren, bleibt Gegenstand lebendiger Diskussionen; was wir aber mit Sicherheit sagen können, ist, dass sie von Christen bald anti-jüdisch interpretiert wurden. Wir verbinden mit diesem Buch die Hoffnung, dass es zu einer größeren Sensibilität aller Leserinnen und Leser beitragen möge, wie diese Texte im Laufe der Geschichte gewirkt haben, im positiven wie negativen Sinn. Ebenso hoffen wir, dass alle Leserinnen und Leser ungeachtet ihres religiösen Hintergrundes bei der Lektüre der Evangelien auch die jüdische Geschichte entdecken, die in ihnen enthalten ist, und die jüdischen Wurzeln der Bewegung erkennen, die später zur christlichen Kirche wurde.