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EINE 4000 JAHRE ALTE »GRENZE« IN DER SYRISCHEN STEPPE

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Bernard Geyer

Im Südosten Aleppos zwischen dem Fruchtbaren Halbmond, früh von sesshaften Volksstämmen bevölkert, und der arabischen Wüste, Einflussgebiet von Nomaden, dehnt sich eine weite Steppenzone, wo sich seit etwa 10.000 Jahren wegen Klimaveränderungen oder historischer Wechselfälle eine ständige und zeitweilige Besiedlung, Sesshaftigkeit und Nomadentum, abgewechselt haben. In diesem anfälligen Umfeld, das die syrische Steppe kennzeichnet, wo die Niederschläge schwach (zwischen 100– 400 mm/Jahr) und sehr unregelmäßig sind, zeugen zahlreiche archäologische Überreste von Zeitabschnitten mit ziemlich dichter Bevölkerung, wie beispielsweise am Ende der Frühen Bronzezeit (2400– 2000 v. Chr.).

EINE SEHR LANGE MAUER

Genau hier, zwischen diesen beiden Welten, die man so oft gegenüberstellt, die sich aber grundsätzlich ergänzen, wurden von Archäologen und Geografen im Rahmen des Projektes »Marges arides de Syrie du Nord« (»Die trockenen Randgebiete Nordsyriens«) bei einer Geländebegehung die manchmal flüchtigen, aber dennoch sehr realen Spuren einer »sehr langen Mauer« wiedergefunden, die die Steppe durchquert und die völlig unbekannt war. Die erste Ortung, 1998 vorgenommen, erlaubte das Vorhandensein von Mauerteilabschnitten auf etwa 12 km Länge festzustellen, die, wie sich herausstellte, ein und derselben Anlage einer außergewöhnlichen Länge angehörten. Am Ende der Geländebegehung im Frühjahr 2006 wurde dieser Mauer mehr als 220 km nachgegangen. Sie beschreibt einen unregelmäßigen, gegen Osten gerichteten Kreisbogen mit einem Radius vom etwa 80 km (Abb. 1). Gegen Nordwesten scheint sie bei einer Festung (Abb. 2) zu enden, die durch zwei massive konzentrische Umfassungsmauern verteidigt und über einem kleinen Lavastrom gebaut wurde, der inmitten eines Trockengebiets den Djebel ‘Ubaysan verlängert. Das Vorhandensein dieser abgelegenen Festung, Ragm al-Sawan, die dank Keramik in die Frühe Bronzezeit-IV (2400–2000 v. Chr.) und in die Mittlere Bronzezeit (2000–1600 v. Chr.) datiert werden kann, lässt sich wohl nur wegen dieser Mauer rechtfertigen, die etwa 100 m von der Siedlungsmauer entfernt endet. Gegen Süden und Südwesten hingegen erstreckt sich die Mauer unabsehbar, schlängelt sich entlang den Glacis und Hügeln entlang, überschreitet die Wadis, bevor sie die letzten nördlichen Hügel der Palmyrakette, den Djebel al-Bal às, und schließlich die Senke von al-Dau überquert. Nun gegen Westen gerichtet und das Dorf Hafer einschließend kreuzt sie die heutige Straße Homs-Damaskus und erklimmt die Hänge des Antilibanons. Hier endet sie auf dem Bergkamm dieses Gebirgszugs, der heute Syrien und Libanon trennt, an einem kleinen Pass (Abb. 3), einer bemerkenswerten Stelle, von der man den weiten Raum der Bekaa-Ebene und das Libanon-Gebirge entdeckt.


Abb. 1: Karte mit der Lokalisierung der Mauer.

Nur 0,8–1,1 m (ausnahmsweise 1,3 m) breit, aus Trockenmauerwerk mit lediglich Erde als Bindemittel errichtet, besteht diese Mauer im Allgemeinen aus einer inneren und äußeren Verkleidung unbehauener Steine, hochkant oder flach aufgestellt. Zusammengestürzt, nur auf einer oder zwei Schichten erhalten und kein besonderes Fundament aufweisend, ist sie mit Rohmaterial errichtet, das die Erbauer an Ort und Stelle als anstehendes Gestein gefunden haben – jedoch ohne sichtbaren Willen hier ein Bauwerk zu realisieren, das durch seine Bauqualität und seine Fertigung besonders bemerkenswert gewesen wäre. So besteht sie im Norden, in der Nähe des Basaltplateaus von Djebel ‘Ubaysan, aus unbehauenen Basaltblöcken (Abb. 4). Etwas südlicher, da wo die Mauer die gipshaltige Fläche von ‘Ain al-Zarqa und al-Schahatiyya überquert, benutzte man natürlich Gips. Dieses brüchige und verhältnismäßig lösliche Gestein hat den Witterungsunbilden und der Erosion schlecht widerstanden. Daher ist in diesem Abschnitt die Mauer am schlechtesten erhalten. Sobald sie die weiten und langen, von der Palmyrakette herabsteigenden Glacis erreicht, die von einer widerstandsfähigen und dicken Kalkschicht bedeckt sind, kommt ihr diese die Zeit überdauernde Materie zugute. Dort ist sie meist außen und innen mit schönen aufrechtstehenden Platten verkleidet (Abb. 5). Dies gilt auch beim Durchqueren der Palmyrakette, wo die Steinplatten durch ebenso widerstandsfähige Kalksteine ersetzt sind. Die Ortung der Mauer war trotz ihrer bescheidenen Maße und der Reliefunebenheit sehr einfach.

VERTEIDIGUNGSANLAGE ODER GRENZFESTLEGUNG?

Freilich haben die Nomaden oder Halbnomaden, die die Steppe durchquerten, nach Aufgabe der Mauer hier einen idealen »Steinbruch« mit Blöcken für ihre verschiedenen Bedürfnisse gefunden: Steinkreise als Zeugen uralter Zuchtpraktiken, Zeltmäuerchen, Nomadengräber, Gehöfteinzäunungen und Pferche. Das erklärt, warum die Mauer oft schlecht erhalten ist. Trotzdem, und trotz ihrer eingeschränkten Breite, der fehlenden Strebemauern und der ziemlich geringen Zahl an ihrem Fuß herabgefallener Steine, sogar in den Abschnitten, wo sie nicht geplündert wurde, sollte man ihr kaum eine Höhe von mehr als 1 m bis höchstens 1,5 m zubilligen. Selbst wenn der obere Teil aus Lehm bestanden hätte, wie das – heutzutage wie in der Vergangenheit – in der Architektur der Gegend häufig der Fall ist, wäre die Höhe zwangsläufig durch die geringe Breite des Unterbaus beschränkt.


Abb.2: Ragm al-Sawan, von Süden aus gesehen.

Unter diesen Umständen kann die Mauer trotz ihrer außergewöhnlichen Länge keine Verteidigungsanlage im üblichen Wortsinn darstellen. Übrigens haben wir beim augenblicklichen Stand unserer Forschung keine besondere Einrichtung wie Turm oder Tor in ihrem Verlauf feststellen können. Es war also nicht ihre Aufgabe, von Osten anrückende feindliche Armeen aufzuhalten: Sie war kein Limes. Dagegen kann es sich um eine Grenzfestlegung handeln und um die Trennlinie eines Territoriums, das von einer genügend mächtigen politischen Einheit abhing, um sich mit dieser Linie zu begnügen. Denn sie ist zwar im Gelände markiert, aber wird durch kein Militärobjekt verteidigt. Die Rolle von Ragm al-Sawan, dem einzig befestigten Platz, bleibt zu ergründen. Übergänge dürften eingerichtet worden sein, um einen Austausch von West nach Ost zwischen Sesshaften zu erlauben, deren landwirtschaftlicher Aufschwung durch die Mauer geschützt war, und Nomadenstämmen, deren Wandergebiete sich wohl jenseits dieser erstreckt haben dürften.

Die Mauer wurde häufig durch spätere Umbauten zerstört. Dank dieser Zerstörungen verfügen wir über einige Datierungselemente. Oft haben Nomaden während der Ajjubiden-Zeit mit den Mauersteinen Kreise angelegt, um Tiere einzupferchen. Nahe beim römisch-byzantinischen Rasm Kandusch wurde die Mauer durch einen spätrömischen Friedhof zerstört und liefert auf diese Weise einen Terminus ante quem: Die Mauer ist zwangsläufig vor dieser Epoche errichtet worden. Diese Tatsachen legen die Annahme nahe, dass das Bauwerk auf sehr alte Zeiten zurückgeht. Ferner haben wir außer der Festung von Ragm al-Sawan zwei Kreise ermittelt, die in die Bronzezeit gehören und die auf der Mauer, sie unterbrechend, angebracht sind. Obwohl der Zeitzusammenhang zwischen Mauer und Kreisen nicht besonders einfach zu bestimmen ist, kann eine frühbronzezeitliche Datierung vorgeschlagen werden. Schließlich weiß man aus den schriftlichen Überlieferungen (s. S. 27 ff.), dass der sumerische König Schu-Suen am Ende des 3. Jts. v. Chr. eine Mauer zwischen Euphrat und Tigris im heutigen Irak errichten ließ. Nach bisheriger Meinung war diese Mauer dazu bestimmt, die amurritischen, wahrscheinlich ursprünglich aus der Gegend des Djebel Bischri kommenden Stämme aufzuhalten. In Kenntnis der »syrischen Mauer« und der hier aufgestellten Hypothesen schlägt W. Sallaberger für die »irakische Mauer« eine andere Funktion vor, nahe der hier vorgeschlagenen. Weitere während der Geländebegehung entdeckte Elemente sprechen für die Annahme einer sehr alten Mauer, die jedenfalls der spätrömischen Epoche vorherging. So konnten wir die Tatsache klarstellen, dass, von der byzantinischen Epoche abgesehen, diese Gegend in der Frühen Bronzezeit-IV am dichtesten besiedelt war (Abb. 6). Gerade zu diesem Zeitpunkt blühten die Städte Ebla (das heutige Tell Mardikh) und Hama. Die Gegend erlebte eine nie dagewesene Entwicklung ihrer Erschließung und Bevölkerung. Die zahlreichen, oft bedeutenden und befestigten Siedlungen nahmen den Großteil der anbaufähigen, vor allem jedoch der weidfähigen Fläche ein und gingen damit weit über die Grenzen der modernen Wiederbesiedlung hinaus. Seit dieser Epoche ist das Potenzial der landwirtschaftlichen Erschließung richtungsweisend für die Wahl von Ortsgründungen und in ihrer Folge für den Willen zur Beherrschung dieses trotz seiner Randlage reichen Gebietes. Die Tatsache, dass die natürliche Umwelt sowohl den Regenfeldbau, in erster Linie von Gerste, als auch die Tierzucht besonders von Schafen und Ziegen begünstigt, und dass beide stark verzahnt sind und im durch die Mauer begrenzten Areal bestehen, stützt die ausschlaggebende Wichtigkeit des Agropastoralismus in der regionalen Wirtschaft seit dieser frühen Epoche. Man kann außerdem unterstreichen, dass die Lage in der Mittleren Bronzezeit wesentlich verschieden war. Die Siedlungszahl ging unbestreitbar zurück – besonders im Osten der Region, wo die attraktiven Gebiete beinahe aufgegeben wurden und so der Mauer jegliche Existenzberechtigung entzogen wurde. In der Späten Bronzezeit waren die Siedlungen noch seltener. Zwar gab es in der Eisenzeit und in der hellenistischen Zeit eine gewisse Neubesiedlung, aber nur in den reichen Gebieten im Westen, während sie im Osten zeitlich begrenzt blieb. Die regionale Landwirtschaft spielte also gerade in der Frühen Bronzezeit-IV erstmals eine bedeutende wirtschaftliche Rolle. Für diesen Zeitabschnitt und für diese indes trockene Steppenregion kann man von einer ersten »vollen Welt« sprechen. Vor allem diese wirtschaftliche Rolle, die Bedeutung der Besiedlung und die daraus folgende Landerschließung hatten wahrscheinlich zur Folge, dass es notwendig wurde, diese neuen Siedlungen durch die Errichtung einer »sehr langen Mauer« zu beschirmen. Diese ist die älteste erhaltene, die uns bis zum heutigen Tag bekannt ist. Erinnern wir uns daran, dass das goldene Zeitalter der Stadt- und Palastkultur der Bronzezeit entspricht, dem Erbe der dörflichen Gesellschaften am Ende des Neolithikums und des Chalkolithikums. So entwickelte sich damals eine vielschichtig hierarchisierte, in Königreiche, wenn nicht in Reiche gegliederte Gesellschaft, die der königlichen Herrschaft unterstand. Das Machtzentrum lag in den Palästen. Die Nutzung des vom Königreich abhängigen Gebiets wurde genau in diesen mythischen Orten mit ihrer monumentalen Architektur vorangetrieben. Indessen weiß man wenig über die wahrscheinlich unbeständigen Grenzen dieser Gebiete – trotz der Texte, die in den Hauptstädten entdeckt wurden und die uns daran erinnern, dass Geschichte im Vorderen Orient Ende des 4. Jts. v. Chr. beginnt.


Abb. 3 (oben): Das Ende der Mauer im Antilibanon.


Abb. 4 (unten): Die Mauer aus unbehauenen Basaltblöcken nahe des Djebel‘Ubaysan.


Abb. 5 (rechts): Die Mauer aus unbehauenen Kalksteinplatten auf den Glacis der Palmyraketten.


Abb. 6: Siedlungen der Frühen Bronzezeit-IV um das Nordende der Mauer in den »Trockenen Randgebieten Nordsyriens«.

WAS WAR DIE ROLLE DIESER MAUER UND VON WELCHER REGIONALEN MACHT HING SIE AB?

Zunächst muss daran erinnert werden, dass die Mauer von Nord nach Süd wie ein unregelmäßiger weiter Kreisbogen die halbtrockenen und trockenen Gebiete umfasst, wo zahlreiche dauerhaft bewohnte Orte aus der Frühen Bronzezeit-IV festgestellt werden konnten. Die Mauer umschließt für eine durchgehende oder lokale Valorisierung geeignete Gebiete, besonders für einen extensiven Gersteanbau. Jenseits von ihr finden sich, einige Oasen ausgenommen, nur für die Weide geeignete Gebiete. Die dieser Zeit zugeschriebenen Orte waren alle nur zeitweilig bewohnt und daher mit einer halbnomadischen oder nomadischen Besiedlung verbunden. Die »Grenze« trennte also wahrscheinlich zwei Welten: die der Ackerbauern von der der nicht sesshaften Viehzüchter. Von daher ist die einleuchtendste Hypothese die einer Mauer, die das Gebiet einer Stadt oder eines Königreiches absteckte und so eine ständige oder jahreszeitlich bedingte Grenze kennzeichnete, welche die Nomadenstämme während ihrer Wanderzüge mit ihren Herden einhalten mussten. Derartige Praktiken sind noch im 20. Jh. n. Chr. bezeugt, da die Mandatsmacht – Syrien stand von 1920 bis 1944 unter französischem Mandat – eine Demarkationslinie zwischen der bebauten Zone – der Ma’âmura – und der Wanderzone der Beduinen – der Bâdiya – zog. Auf diese Weise sicherte sie den Schutz des den Sesshaften gehörenden Besitzes und ihrer Anbauflächen. Dieselbe Mandatsmacht – die Gebietsanteile der einen und der anderen einmal festgelegt – bestimmte den Zeitpunkt und die Passierrichtlinien zwischen der Bâdiya und der Ma’âmura und verhinderte dadurch beispielsweise das Eindringen der Herden in die bebaute Zone vor den Ernten. Gewiss benötigte die Mandatsmacht keine Mauer zur Einhaltung dieser Vorschriften. Sie verfügte über ein besseres Kontrollmittel: das Flugzeug. Man versteht jedoch leicht, dass in der Bronzezeit eine Festlegung dieser Grenze als notwendig erachtet werden konnte. Es handelt sich hier um nicht weniger als ein Unterfangen allergrößten Ausmaßes sowohl was die Arbeit, die es erforderte, als auch was die Größe des auf diese Weise geschützten Gebietes betrifft, das sich von Nord nach Süd auf 160 km erstreckte. Nur eine starke, zentralisierte und wirtschaftlich robuste Macht konnte sich in ein solches Unterfangen stürzen und dieser Regelung Gehör verschaffen.

Indes ist es beim augenblicklichen Forschungsstand schwierig und heikel, eine genaue Verbindung zwischen dieser Mauer und der einen oder anderen Stadt in Betracht zu ziehen, die während der frühen Bronzezeit die Gegend beherrscht haben. Als »Kandidaten« kommen Hama, Homs, Mischrife-Qatna und Tell Mardikh/Ebla in Frage. Berücksichtigt man die Topografie, so ist Hama am wahrscheinlichsten (vgl. Abb. 1). Dort befindet sich einer der größten Tells in Zentralsyrien und liegt ungefähr in der Mitte des von der Mauer vorgezeichneten Kreisbogens. Homs und Mischrife-Qatna, auch sie zwei sehr bedeutende Städte, sind nach Süden verlagert. Was Ebla betrifft, so liegt es außerhalb des von der Mauer umgrenzten Gebiets und dürfte daher nicht in Betracht zu ziehen sein.

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