Читать книгу Mauern als Grenzen - Группа авторов - Страница 8
ZU MAUERN – ZUMAUERN
ОглавлениеAstrid Nunn
EINE SCHWIERIGE BEGEGNUNG
Die Begegnung mit dem Anderen, mit anderen Menschen war zu allen Zeiten und überall auf der Welt nach Emmanuel Lévinas’ Wendung »ein fundamentales Ereignis«. Seit jeher ist dieses Zusammentreffen zwiespältig: Menschen brauchen sich untereinander, aber sie stören sich auch und konkurrieren miteinander. Mit welcher Einstellung sollen wir Fremden gegenübertreten? Mittlerweile gibt es Schulen der Philosophie und der Ethnologie, die sich mit dem friedlichen oder dem gewalttätigen kulturellen Prozess der Begegnung auseinandersetzen. Grundsätzlich können Menschengruppen Krieg beginnen, in einen Dialog eintreten oder sich hinter einer Mauer verschanzen.
Die Entscheidungsträger, denen wir in diesem Buch begegnen, entschlossen sich für eine Trennung. Solche Entschlüsse wurden schon in der Antike getroffen. Warum werden seit mindestens fünf Jahrtausenden Mauern oder unpassierbare Grenzzäune gebaut? Gerade in Deutschland haben wir allen Grund, Mauern mit politischen und wirtschaftlichen Grenzen gleichzusetzen.
GRENZEN UNABHÄNGIGER STAATEN
Heute beruhen Grenzen auf dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts eines jeden Staates, das nach dem 28. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson (1913–1921), »Wilsonsches Prinzip« genannt wird. Wilson betonte nach dem Ende des Ersten Weltkrieges immer wieder den völkerrechtlichen Anspruch eines Staates auf eigene Grenzen. Diesem Anspruch unterliegt das Konzept der »state nation«, das vom 16. Jh. an entwickelt wurde. Demnach besteht ein Staat aus einem relativ präzise festgelegten Territorium.
Die Territorialisierung der Staaten erlebte einen entscheidenden Antrieb mit der Kolonialisierung während des 19. Jhs. Über 70 % aller heutigen Staatsgrenzen wurden zwischen 1885 und 1910 festgelegt. Bei dieser Festlegung spielten die damaligen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich die Hauptrolle.
Diese Grenzziehungen waren in der Hauptsache machtpolitischer und geostrategischer Natur. Auf dem Papier entworfen, offenbarten sie häufig mehr Machtanspruch als wirkliche Macht. In den Kolonien verliefen Tausende von Kilometern Grenze durch die Wüsten, die von Nomaden jedoch unbeachtet blieben.
NATÜRLICHE UND GESELLSCHAFTLICHE GRENZEN
In früheren Zeiten erfolgte das Kontrollieren von Grenzen nur ungenau und auch die Vorstellung von Staatsgrenzen war nicht klar umrissen. Zunächst gehörte das Territorium eines Dorfes einem Gott, später mit der Hierarchisierung der Gesellschaft einem Stamm oder einer Familie. Die erste Abgrenzung fand zwischen den Familien statt, dann zwischen den Dörfern, den Städten, den Regionen und schließlich den Staaten.
Abb. 1: Die Mauer, die Jerusalem in Ost und West teilt. Davor die römischkatholische Dormitio-Abtei (ganz links im Bild) und ein griechisch-orthodoxes Kloster; im Hintergrund: das Moab-Gebirge. Aufnahme 2008.
Die Menschen der Antike oder auch die Nomaden von heute stellen sich entfernte Grenzen jedoch nicht linear vor. Meist waren sie (und sind es häufig noch) natürliche Barrieren wie Flüsse und Gebirge, Wälder, Oasen oder Wüsten, in der Antike auch Wolken und Sterne, die bisweilen konkrete Anhaltspunkte in einem größeren Gebiet boten. Grenzen bestanden auch als Sprachgebiete, die mit einer Ethnie oder einem Stamm übereinstimmen konnten.
In der Folge wurde ein Staat nicht als Territorialstaat empfunden, sondern als Macht- und Einflussgebiet. Konkret waren Grenzen eher die Gebiete, in denen ein Machtbereich aufhörte und ein anderer begann. Zusätzlich lagen mythische Grenzen unbewohnt, unantastbar und, von historischen Gegebenheiten unbeeinflusst, am Ende der (bekannten) Welt. Sie untermauerten die königliche Macht, stützten aber auch ein kollektives Kulturverständnis.
Das Erscheinen größerer, von einem Herrscher regierten Einheiten, in denen es eine Verwaltung, eine Steuererhebung oder Soldaten gab, ließ zwangsläufig die Idee der Grenze aufkommen1. In Mesopotamien kämpften schon im 3., wahrscheinlich sogar schon im 4. Jt. v. Chr. sumerische Herrscher um die Erweiterung ihres Stadtstaates. Die Grenzen legten die Kontrahenten in Verträgen fest. An Ort und Stelle wurden manchmal Stelen oder Steine errichtet, die vor allem einen symbolischen Charakter hatten. In Griechenland hießen solche Steine »Horoi«: Grenzsteine für das Staatsgebiet, für Tempel, Grundstücke, öffentliche Plätze und privaten Grund.
In einem Brief, der aus dem Archiv der ostsyrischen Stadt Mari stammt und in das 18. Jh. v. Chr. datiert, wird die Reise eines Amtsträgers von Mari nach Qatna beschrieben, das zu einem anderen Königreich gehört. Sieben Träger begleiten ihn bis Qatna, seine Eskorte jedoch kehrte an der Grenze zwischen den Königreichen um und kehrt nach Mari zurück. In der ersten Hälfte des 2. Jts. v. Chr. mussten Boten und Diplomaten in Syrien eine Tafel mit sich führen, auf der ihre Namen standen, außerdem für wen sie reisten, der Ausgangspunkt ihrer Reise, die Zusammensetzung ihrer Eskorte und ihr Reiseziel. Die Tafel trug das Siegel des zuständigen Königs2.
SCHUTZ VOR EINDRINGLINGEN
Im Altertum wurden Mauern zunächst gebaut, um Menschen und Tiere davon abzuhalten, in ein fremdes Territorium einzudringen oder um sesshafte Bauern von Nomaden zu trennen (s. S. 27 ff. und S. 39 ff.). Die ersten Mauern stehen im Zusammenhang mit Kampfhandlungen zwischen zwei Parteien mit entgegengesetzten Interessen. Diese berühren territorialen Besitz, wirtschaftliche Belange, die Nutzung bewirtschaftbarer und somit Reichtum bringender Gebiete, ethnische Integrität, aber weniger (sofern wir dies heute beurteilen können) Machtansprüche oder politische Konstellationen. Um die vollständige Abschottung zweier Gebiete oder um eine politische Grenzziehung allein ging es in der Antike nie.
Zu den abzuwehrenden Störenfrieden zählten semitische Nomaden in Mesopotamien und Nordsyrien am Ende des 3. Jts. v. Chr., germanische und keltische Barbaren, gegen die sich die Römer mit dem Limes in Deutschland (S. 93 ff.) und dem Hadrianswall in England (S. 109 ff.) schützten, oder die Hunnen, die die Sasaniden mit Grenzwällen in Nordiran (S. 127 ff.) und der chinesische Kaiser Qin Shihuangdi mit einer möglicherweise 5000 km langen Mauer (S. 145 ff.) ab 214 v. Chr. abwehrten.
Sind Grenzen festgelegt oder Mauern gebaut, so stecken sie zwangsläufig auch ein Territorium ab. Sie materialisieren und verfestigen eine politische, kulturelle oder gar eine imaginäre Trennlinie, die ohne Mauer möglicherweise virtuell geblieben wäre. Ein geschlossenes Territorium fördert ein Zusammengehörigkeitsgefühl – oder schafft es womöglich überhaupt erst. So sind vielleicht die nordsyrische Mauer (S. 39 ff.) und die kappadokische Mauer (S. 47 ff.) solche Grenzen gewesen: Eigentlich sollten sie Eindringlinge abhalten, doch markierten sie zugleich auch eine politische Grenze, wonach sich ein bestimmtes Territorium – ein syrisches Reich Ende des 3. Jts. und das Assyrische Reich im 8. Jh. v. Chr. – bis zu einer festgelegten Grenze erstreckte. Der römische Limes umschloss Menschen, die dem römischen Lebensstil mehr oder weniger zustimmten und auf eine Romanisierung eingingen.
DER ALTE ORIENT
Die ältesten noch heute aus schriftlichen und archäologischen Quellen bekannten Mauern lagen im alten Vorderen Orient. Ende des 3. Jts. v. Chr. bauten die sumerischen Könige Sulgi und Schu-Suen einen etwa 280 km langen Riegel zwischen dem Diyala-Gebiet östlich des Tigris und der Gegend um Babylon westlich des Euphrat (S. 27 ff.). Zur selben Zeit entstand in Syrien eine mindestens 220 km lange Steinmauer, die vom Südosten Aleppos bis zum Antilibanon an die syrisch-libanesische Grenze führte. Beide Mauern dienten wohl dazu, sesshafte Bauern vor nomadischem Zugriff zu schützen. Die geringe Breite der syrischen Mauer zeigt, dass sie nicht nur als Schutz vor Menschen, sondern auch vor den großen Tierherden der Nomaden gedacht war. Zugleich sonderten beide Mauern möglicherweise das Territorium einer politischen Einheit ab, die nur solchermaßen begrenzt von den Nomaden respektiert wurde (S. 39 ff.).
Eine weitere altorientalische Mauer ist die sogenannte kappadokische Mauer. Sie wurde vor einigen Jahren im Rahmen der Ausgrabung in der osttürkischen hethitischen Ruine Kuşaklı entdeckt. Unweit der Ruine verläuft eine durchschnittlich 1,20 m breite Mauer, die sich bei Google Earth auf mindestens 100 km verfolgen lässt, ohne dass Anfang und Ende bereits bekannt wären. In rund 2000 m Höhe verfolgt sie stets die Scheitellinie des Gebirgszuges Kulmaç Dağları, die zugleich die Wasserscheide zwischen den Gewässern bildet, die auf der einen Seite zum Mittelmeer und zum Persischen Golf hin fließen, auf der anderen Seite zum Schwarzen Meer. Diese Mauer ist als reine Befestigung nicht breit genug, vielmehr muss sie auch als Markierung einer politischen Grenze gedeutet werden. Vielleicht sollte sie die assyrische Grenze im späten 8. Jh. v. Chr. absichern (S. 47 ff.).
Ab S. 57 wird eine Mauer besprochen, die beim griechischen Historiker und Truppenführer Xenophon erwähnt wird und daher schon lange bekannt ist. Die »medische Mauer«, eigentlich zwei Mauern – Xenophon kannte nur die nördliche –, die der babylonische König Nebukadnezar II. (604–562 v. Chr.) wie seine sumerischen Vorgänger zwischen Euphrat und Tigris anlegen ließ. Erst in den letzten Jahren haben archäologische Untersuchungen präzisere Fakten zu ihrer Lage und Bauweise erbracht.
Abb. 2: Die älteste »Weltkarte«: In der oberen Mitte des Kreises liegt Babylon. Sie stammt wahrscheinlich aus Sippar, 80 km nordwestlich von Babylon. Die einzelnen geografischen Lagen sind akkadisch beschriftet (Keilschrift). 7.–6. Jh. v. Chr. Höhe: 12,2 cm. London, British Museum.
DIE RÖMISCHE WELT UND IHRE LIMES
Wenige Jahrhunderte nach dem Ende der altorientalischen Reiche und des darauf folgenden alexandrinischen Reiches erweiterte die römische Macht das von ihr kontrollierte Territorium in alle Himmelsrichtungen. Seine größte Ausdehnung erfuhr es im 3. Jh. n. Chr. Bereits mit der Machtübernahme des Augustus (27 v. Chr.) begann man jedoch an den Grenzen militärische Maßnahmen zu treffen. Bis zum 4. Jh. entstanden die etwa 7000 km des von uns heute so genannten »Limes« oder »Limes Romanus«3.
Das lateinische Wort limes heißt »Weg«, »Pfad zwischen zwei Feldern«, »Rand« oder »Grenze«. Vom 4. Jh. n. Chr. an ist ein Limes auch ein militärischer Verwaltungsbezirk, der nicht unbedingt an der Grenze liegen muss. Der Limes war auch gleichsam eine psychologische Grenze zwischen Römisch und Nicht-Römisch in einem Gebiet, wo der römische Einfluss endete. Innerhalb des Limes lebte eine Bevölkerung, von der erwartet wurde, dass sie imstande war, den römischen Lebensstil anzunehmen. Jedoch endete anders als die Verwaltung und der römische »way of life« die politische Macht des römischen Imperiums nicht an einer eindeutig festgelegten Linie. Eine Grenze im heutigen Sinne einer Staatsgrenze gab es nicht. Der Limes bedeutete für die Bevölkerung Schutz vor Übergriffen und Einfällen, denn Reichtum und Glanz übten auf die Barbaren eine nie nachlassende Anziehungskraft aus. Dies gilt ebenso für die Sasaniden oder die Chinesen, die sich vor den Hunnen und anderen Nomaden schützen mussten. Außerdem diente diese Grenze als wirtschaftliche Kontrolle.
Ab und zu wurde das Wort »Limes« schon in der Antike für eine befestigte Grenze gebraucht, aber der heutige Begriff entstand in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die im Lateinischen nie vorhandene Ausdrücke wie Limes Romanus, Limes Germanicus, Limes Britannicus oder Limes Moesiae schuf. Auch die Bezeichnungen Limes Saxoniae oder Limes Sorabicus, die in den mittelalterlichen Quellen auftauchen, werden noch im Sinne von Grenze und nicht von Grenzbefestigung gebraucht.
»Unser« römischer Limes bestand je nach Gegend, Naturraum und Zeit aus Palisaden, Erdwällen, Mauern, Wachttürmen, Kastellen, Legionslagern und Straßen. Grosso modo waren von seinen 7000 Kilometern etwa 1000 durchgehend miteinander verbunden und mit Mauern, Türmen oder Wällen befestigt. Die restlichen 6000 km Limes verliefen mit Unterbrechungen, davon waren 3000 km durch Legionslager und 3000 km durch Kastelle bewacht.
Zwischen etwa 100 und 260 n. Chr. entstand am Rhein-Donau-Abschnitt von Remagen nach Regensburg ein gebauter Limes, um die römischen Provinzen Obergermanien und Rätien vom freien Germanien zu trennen (S. 93 ff.). Der anfänglich nur überwachte Postenweg durch den Wald wurde Schritt für Schritt ausgebaut. Zunächst verwehrte eine Holzpalisade den Übertritt zwischen Rhein und Donau, später ein Wall-Graben-System und schließlich eine mit 900 Wachttürmen und über 60 Militärlagern gut gesicherte Steinmauer. Der römische Kaiser Hadrian (117–138 n. Chr.) bewirkte auch den Bau eines weiteren »Limes«, des sogenannten »Hadrianswalls« (»vallum Hadriani«) in Nordengland (S. 109 ff.). Sicherlich wollte er die Provinz schützen; mit dem Mauerbau konnte er jedoch gleichzeitig in symbolischer Weise einen Schlussstrich unter die Eroberungspolitik seines Vorgängers ziehen und damit der Oberschicht zeigen, dass das Reich nicht kontinuierlich ausgedehnt werden sollte. Der Hadrianswall zwischen dem Fluss Tyne im Osten und der Solway-Bucht im Westen ist viel kürzer als der deutsche Limes, dafür aber umso aufwendiger errichtet. Dennoch ließ der römische Kaiser Antoninus Pius (138–161 n. Chr.) von 142–144 n. Chr. 160 km nördlich einen zweiten »Limes«, den »vallum Antonini« bauen. Dieser trennte das heutige Schottland an der Stelle, wo beide Küsten nur 63 km auseinanderliegen. Die Mauer bestand aus einem Steinfundament und Grassoden. Den Römern gelang die vollständige Eroberung der Pikten nördlich des Hadrianswalls jedoch nicht. Da der Antoninuswall ständigen Angriffen ausgesetzt war, wurde er nach neuesten Erkenntnissen schon 158 n. Chr. endgültig aufgegeben.
Das versumpfte Donauufer wurde ab etwa 50 n. Chr. mit Wachttürmen, Kastellen und Legionslagern bewacht. Abschnittsweise entstand der »Donaulimes« in Norien, heute Österreich und Slowakei, in Pannonien, heute Ungarn und Serbien, in Moesien an der bulgarisch-rumänischen Grenze und in Dakien, heute Rumänien. Nach einer wechselvollen Geschichte verstärkte rund 300 Jahre später Valentinian I. (364–375 n. Chr.) diese Mauern, die bis etwa 450 die Einfälle unterschiedlicher »Barbaren« abwehrten.
An der östlichen Peripherie ihres Reiches mussten sich die Römer im 1. und 2. Jh. n. Chr. zunächst gegen Parther, dann ab dem 3. Jh. gegen die Sasaniden wehren. Am Schwarzen Meer, im heutigen türkischen Trabzon, begann der »pontische Limes«. Er führte geradewegs nach Süden zum Euphrat, dann den Euphrat entlang nach Samsat und ging in den »syrischen Limes« über. Ab Zeugma, nahe dem heutigen östlich von Gaziantep liegenden Ort Birecik, verläuft dieser Limes auf der Linie mit 200 mm Jahresniederschlag, was zur Folge hatte, dass viele Orte bis zur frühabbasidischen Zeit um 900 kontinuierlich besiedelt blieben.
Der in den heutigen arabischen Ländern verlaufende Limes ist sehr viel weniger erforscht als der europäische. 90 km des syrischen Abschnitts zwischen Suriya, westlich von Raqqa, und Palmyra wurden von 1990 bis 1996 untersucht4. Kastelle und Lager säumten den Euphrat bis kurz vor dem heutigen Raqqa und weiterhin landeinwärts über Resafa und Palmyra geradewegs bis ins heutige Jordanien. Vom südsyrischen Bosra aus verlief der »Limes Arabicus« – übrigens sowie »Limes Palestinae« oder »Limes Tripolitanus« eine römische Bezeichnung – über Amman zum Roten Meer nach Aqaba. Der »Limes Palestinae« verlief von Ost nach West, etwa zwischen Petra in Jordanien nach Gaza.
Abb. 3: Nachbau eines römischen Limes-Wachturms in der Nähe von Rheinbrohl, Rheinland-Pfalz.
Wenn wir das Mittelmeer weiter umrunden, gelangen wir nach Nordafrika. Auch hier organisierten die Römer ihr Wehrsystem im Rhythmus ihrer Eroberungen. Zahlreiche Kastelle und Legionslager kontrollierten östlich und westlich des Nils bis nach Nubien und zwischen Nil und Rotem Meer auch den Handel mit Metallen. Von der Kleinen Syrte in der westlybischen Tripolitana über Südtunesien ins heutige Algerien verlief der »Limes Tripolitanus«. Ein weiterer Abschnitt lag an der Atlantikküste in der Provinz Mauretania im nördlichen Marokko. Die Mauern waren stärker als der Aufruhr verschiedener Völker, sie konnten aber nur kurz den Attacken der Vandalen zwischen 429 und 443 n. Chr. im westlichen Teil Nordafrikas standhalten.
Der arabische und der nordafrikanische »Limes« verliefen anders als in Europa nicht an Flussläufen, sondern durch eine bisweilen gebirgige Wüste, wo die Überwachung wichtiger war als eine geschlossene Grenzlinie, die dazu zwang, über eine 20 bis 30 km breite Zone gestaffelt Mauern, Gräben, Türme und Kastelle aufzubauen.
Obgleich sich die Verteidigung des Oströmischen Reiches in vielerlei Hinsicht von der des römischen Imperiums unterschied, soll hier noch die »Thrakische Mauer« erwähnt werden, die der byzantinische Kaiser Anastasius I. (491–518) spätestens 469 etwa 65 km westlich von Konstantinopel bauen ließ. 56 km lang, mit Türmen, Gräben und Kastellen versehen, verband sie die Küste des Schwarzen Meeres mit dem Marmara-Meer. Im 7. Jh. wurde sie verlassen und verfiel.
DER KAUKASUS UND ZENTRALASIEN – ACHÄMENIDEN UND SASANIDEN
Die unterschiedlichen Limes in der westlichen römischen Welt sind in Europa schon lange bekannt und vermitteln den Eindruck, dass die Römer eine besondere Wehrarchitektur erfunden hätten, die die Sasaniden (224–651 n. Chr.) später kopierten. Die zahlreichen Mauerfunde in Kaukasien, Iran, Afghanistan und Zentralasien haben neue Überlegungen aufkeimen lassen, wonach – umgekehrt – die Römer ihrerseits das allgemeine Konzept von Grenzmauern aus dem Orient übernommen haben5. Obgleich die heute archäologisch bezeugten Mauern meist sasanidisch sind, also etwas jünger als die europäischen Limes-Mauern, gehen sie wohl häufig auf wesentlich ältere Mauern zurück.
Die sasanidischen Herrscher kämpften gegen Rom, jedoch bedeuteten für sie die Hunnen im Norden und Osten eine ungleich höhere Gefahr. Trotz der schier unpassierbaren Gebirgsriegel des Kaukasus westlich des Kaspischen Meeres, des Elburs-Gebirges in Nordiran und des Hindukuschs in Nordostafghanistan blieben doch einige natürliche Schwachpunkte bestehen. Einen von ihnen bildete das Südufer des Kaspischen Meeres. Die am westlichen Ufer liegende Lücke – heute Dagestan in Russland – schlossen die Sasaniden mit der Festung von Darband und einer 40 km langen Festungsmauer, die sich von der Zitadelle aus in westlicher Richtung über Berge und Täler hinzog6. Vom südöstlichen Ufer aus landeinwärts entstand zwischen 402 und 537 die sogenannte Tammishe-Mauer. Etwas nördlicher schloss die große, etwa 200 km lange Gorgan-Mauer die eurasische Steppe ab. Aufgrund einer unrichtigen Datierung wurde und wird diese Mauer fälschlicherweise auch »Alexanderwall« genannt. Ab S. 127 wird über die jüngsten noch laufenden Grabungen einer britisch-iranischen archäologischen Mannschaft berichtet. Weiter östlich, in der Provinz Balkh nahe Mazar-i Scharif, schützte eine in Kam Pirak am besten sichtbare und insgesamt 60 km lange Lehmmauer Nordafghanistan. Diese Mauer wird aufgrund dort gefundener Keramik in die Achämenidenzeit gesetzt (559–330 v. Chr.)7. Etwa 150 km weiter nördlich, in der südlichen und nordöstlichen Umgebung des usbekischen Ortes Derbent, bilden mindestens sieben Mauerabschnitte eine Linie von 50 km. Aus der Datierung mehrerer Mauerabschnitte in das 2. und 1. Jh. v. Chr. wird geschlossen, dass sie zunächst das Gräko-Baktrische Reich und später die Nordgrenze des Kuschan-Reiches schützten8.
Die größten und reichsten Oasenstädte Balkh (Afghanistan), Merv (Turkmenistan) sowie Buchara und Samarkand (Usbekistan) waren von langen Mauern zum Schutz vor Nomaden umgeben. Strabo berichtet, in der Oase von Merv sei von dem seleukidischen König Antiochos I. Soter (281–261 v. Chr.) die Polis Antiocheia Margiana neu gegründet und mit einer 1500 Stadien (= ca. 277 km) langen Mauer umgeben worden. Eine zunächst für dieses Bauwerk gehaltene Lehmziegelmauer von etwa 40–50 km nördlich von Merv stammt nach heutigen Erkenntnissen aus der Sasanidenzeit und datiert in das 5.–6. Jh. n. Chr. Heute hält man die Überreste einer anderen Lehmziegelmauer für das hellenistische Bauwerk9. Die letzten Zerstörungen an dieser Mauer fanden 1989– 1991 statt. Die Einwohner berichteten, sie sei so fest, dass sie sogar mit einem Bulldozer nur unter größtem Aufwand niederzureißen gewesen sei. Die noch sichtbare Oasenumfassung von Bukhara entstand um 830 n. Chr., geht aber sicher auf einen Vorbau zurück. Sie schließt ein Gebiet von 1300 km2 ein.
Möglicherweise sasanidisch ist eine massive Mauer, die in el-Mutabbaq 27 km südlich von Samarra (Irak) gut erhalten blieb. Ihre Türme und Gräben konnten über eine Länge von 10 km verfolgt werden10.
DIE GROSSEN MAUERN CHINAS
Wie viele sasanidische Mauern, so wurde auch die »Mauer der Superlative« großenteils gegen die Hunnen ausgebaut. Mit ihren je nach Zeit 5000–12.000 km ist die »Große Mauer« in China (Abb. 4) das größte Denkmal der Welt und wurde jüngst in einer Internet-Umfrage zu einem der Sieben modernen Weltwunder erkoren. Eigentlich handelt es sich dabei um zahlreiche Einzelmauern, die in einem Zeitraum von 2300 Jahren entstanden – von 700 v. Chr. bis etwa 1600 n. Chr. Während der Ming-Dynastie vom 14.–17. Jh. n. Chr. wurde sie von über einer Million Soldaten bewacht. Aber gerade diese Dynastie verlor die Kontrolle über die mongolischen und mandschurischen Nomaden. Etwa 1650 büßte die Mauer ihren Zweck ein (s. S. 145 ff.).
DIE GERMANISCHE WELT
In der germanischen Welt waren es die Slawen, deren Einwanderung man durch Wälle erschwerte. Eine kaum bekannte Vorphase zum sogenannten »Danewerk« entstand um 680 n. Chr., ähnliche Befestigungen soll es in Südjütland schon im 1.–3. Jh. n. Chr. gegeben haben. Nach neuesten Erkenntnissen, die man über Jahresringanalysen gewonnen hat, wurde das heute bekannte, etwa 30 km lange Danewerk schon vor 730 angelegt. Zu diesem Zeitpunkt befestigte es die Südgrenze des dänischen Königreichs gegen die Sachsen und die slawischen Abodriten. Es verlief vom damals dänischen Holligstedt nach Haithabu, unweit des heutigen Schleswig. Ursprünglich gab es einen Graben, der auf beiden Seiten von einem Wall gesäumt wurde. In einer zweiten Phase bekam der Wall eine Holzpalisade. Am Ende mehrerer weiterer Bauphasen, bis etwa 1170, wurde der Wall durch eine Feldsteinmauer befestigt. Von da an ließ der dänische König Waldemar I. eine 4–5 m hohe Ziegelsteinmauer errichten, mit einem dahinterliegenden Erdwall von 18 m Breite und 4 m Höhe. Das Danewerk verlor seine Bedeutung, als das Gebiet auf beiden Seiten im Jahre 1201 Reichsteil Dänemarks wurde. Eine Renaissance erlebte es im Schleswigschen Krieg 1864, als es von Dänen zur Verteidigungsanlage ausgebaut wurde11.
Abb. 4: Abschnitt der Großen Mauer in China in Höhe des Passes von Mutianyu im Süden des Kreises Huarou (vgl. S. 155).
In der chronologischen Reihenfolge der norddeutschen Grenzen folgt der »Limes Saxoniae«, den wahrscheinlich Karl der Große 810–811 zwischen Sachsen und Abodriten vereinbarte. Diese Grenze – mehr eine sich durch dichten Wald und Sümpfe dahinziehende Linie als ein befestigter Wall – verlief von Kiel über Lübeck in die Gegend östlich von Hamburg und endete an der Elbe. In den Jahren 1066 und 1072 zerstörten die Abodriten Hamburg, wurden aber 1138/1139 von den Sachsen besiegt. Danach verlor dieser »Limes« seine Bedeutung. Der letzte germanische Limes ist der »Limes Sorabicus« – benannt nach den Sorben, gegen die sich das Fränkische Reich schützen wollte. Er wurde um etwa 850 angelegt, verlor seine Bedeutung jedoch bereits Ende des 9. Jhs. wieder. Dieser Limes wird in mittelalterlichen Quellen erwähnt; da es aber keine Überreste gibt, sind sein Verlauf und sein Ausbau noch umstritten. Er verlief wahrscheinlich entlang der unteren Saale, vielleicht ab Naumburg oder Weißenfels, bis zu ihrer Mündung in die Elbe12.
SÜDAMERIKA
Seit den 1930er Jahren rückten die vorspanischen Denkmäler ins Bewusstsein der Peruaner. Zu den rätselhaftesten gehört die »Große Mauer von Santa«, die sich über mehr als 50 km über Hügel, Ebenen und Berge am Nordufer des Rio Santa hinzieht. Auch sie wurde zunächst für eine Verteidigungsmauer gehalten. Untersuchungen ergaben jedoch, dass diese zwischen 600 und 900 n. Chr. zu datierende Mauer nicht am Rande, sondern mitten in einem dicht besiedelten Gebiet lag. Außerdem verliefen Straßen durch bis zu 2 km breite Lücken, so dass diese Mauer vermutlich als durchlässige Grenze zwischen verschiedenen Ethnien diente13.
DAS FEHLEN VON MAUERN – IDEELLE MAUERN
Neben wirklich vorhandenen Mauern und Grenzen gibt es auch solche, die sich die Menschen ausdenken und die lediglich in der Fantasie existieren. Solche Grenzen bestanden beispielsweise am Ende der Welt, das sich bis zur Neuzeit niemand vorstellen konnte (vgl. Abb. 2). So entstanden schon sehr früh Karten, die »mental maps« genannt werden. Sie umfassten Territorien, die man real und imaginär besaß und waren mit Vorstellungen über Lebewesen oder Dinge verbunden, die sich jenseits der Grenzen befinden sollten. Diese Bilder waren oft negativ geprägt, halfen aber auf diese Weise, eine eigene positive Identität zu befestigen.
Den alten Griechen kam nur in Ausnahmefällen der Gedanke, sich durch Grenzmauern vor einer äußeren Bedrohung zu schützen. Ein Grund dafür ist, dass die Grenzen »den Anderen« gegenüber vor allem in ihren Köpfen bestanden. Denn ihrer Meinung nach galt: »Wo Männer sind, gibt es eine sichere Wehr« (s. S. 71 ff.). Moralische Stärke (sicherlich oft mit militärischer gepaart) reichte, um Menschen abzuschrecken. Das berühmteste Beispiel in Griechenland dafür ist Sparta, das ohne Mauern auskam, obwohl (oder weil?) es ständig Krieg führte.
Auch im alten Orient gab es »mentale« Grenzen und eine psychologische Landesverteidigung. Ein assyrischer Text aus dem Ende des 2. Jts. v. Chr. ist vom Standpunkt politischen Rechts und nicht dem militärischer Stärke geschrieben. Der Gegner sollte überzeugt werden, dass das Übertreten eines Grenzabkommens Strafen Assurs nach sich zöge. Neben dem Hauptgott spielte die unausgesprochene Stärke der assyrischen Männer sicher auch eine abschreckende Rolle. Im Übrigen gab es im alten Ägypten, etwa im Nil-Delta, nie eine Mauer gegen Eindringlinge. Binnengrenzen zwischen Tempeln oder Königsbesitz waren auf Papyri vermerkt und mit Steinen oder Stelen markiert. Außengrenzen wurden immer wieder verhandelt. Nach Norden reichten sie so weit, wie die Truppen oder die Entsandten des Pharaos gekommen waren.
Jerichos Mauer stürzte beim siebenten Blasen des Widderhorns in sich zusammen (Josua 6). Um diesen berühmten Ort des Alten Testaments hat es wirklich eine Stadtmauer gegeben. Als aber Jeremia zur »festen, ehernen Mauer für dieses Volk gemacht wird« (Jeremia 1,18 und 15,20, Ezechiel 13,5), verwandelt sich die Mauer in eine Schutz und Sicherheit symbolisierende Metapher. Falsches Handeln wird sie zum Einsturz bringen, und die Abtrünnigen werden in ihren Trümmern umkommen (Ezechiel 13,10–15). Ein modernes Beispiel zeigt, wie eine solche Metapher mit Leben erfüllt sein kann: Der Dankpsalm Davids »Mit meinem Gott kann ich eine Mauer überspringen« (Ps 18,30) durfte in der DDR nicht erscheinen, da er zur Republikflucht auffordere. Nach diesen alten mentalen Mauern zieht sich zwischen Israel und Palästina erstmals in ihrer Geschichte eine echte, 700 km lange Trennlinie aus elektrischen Zäunen und einem Betonwall (vgl. Abb. 1).
MAUERN DES 20. UND 21. JAHRHUNDERTS
Auch in der modernen Welt wurden und werden viele Mauern und Abgrenzungen gebaut. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden die rein militärischen Anlagen der Maginot-Linie und des »Westwalls«. Um nach dem Angriff des Deutschen Reiches auf Frankreich 1914 gegen einen möglichen weiteren Angriff gewappnet zu sein, unterstützte die französische Regierung den Bau einer Wehrlinie an Frankreichs Grenzen. Der Lothringer André Maginot (1877–1932), der von 1922 bis 1924 und von 1929 bis zu seinem Tod Kriegsminister war, erdachte sich ein System, das nach ihm den Namen Maginot-Linie bekam. Diese mit 5800 unterirdischen Forts versehene Wehranlage wurde zwischen 1928 und 1936 an den französischen Grenzen zu Belgien, Luxemburg, Deutschland und Italien auf 700 km Länge gebaut. Aus Kostengründen – und weil es ein Abkommen zwischen den belgischen und französischen Regierungen gab – war sie nach Belgien hin nicht durchgehend befestigt. Gerade dort marschierte 1939 die Wehrmacht nach Frankreich ein.
Der 630 km lange »Westwall« sollte Deutschlands Grenzen gegenüber den westlichen Nachbarn, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Frankreich schützen. Er begann bei Kleve an der niederländischen Grenze und reichte bis Weil am Rhein nahe Basel. Zwischen 1936 und 1940 veranlasste Hitlers Regierung den Bau von 18.000 Bunkern, Stollen und Panzersperren. Diese von den Alliierten sogenannte »Siegfried-Linie« fungierte von 1938 an unter dem Namen »Limes-Programm«. Die letzte und gewaltigste Befestigungsanlage des Zweiten Weltkrieges war jedoch der »Atlantik-Wall«, den die Deutschen von 1940 bis 1944 bauten. Er sollte mit einer Länge von über 2700 km und über 10.000 Bunkern für Personen, Panzer und U-Boote die Meeresfront der besetzten Gebiete vom Nordkap bis an die französisch-spanische Grenze vor einer Invasion schützen14.
Obwohl keine dieser Sperren langfristig ihren Zweck erfüllte, blieb die Vorstellung solcher Abwehrgrenzen sehr präsent. Die deutsch-deutsche Mauer ist in gewisser Weise die Folge davon (S. 171 ff.). Aber während fast alle Mauern errichtet wurden, um Menschen nicht in ein Gebiet hineinzulassen, erscheint die deutsch-deutsche Mauer als Ausnahme, da sie auch Menschen daran hindern sollte, aus politischen und wirtschaftlichen Gründen das eigene Land zu verlassen. Auch bei den zeitgenössischen Mauern können wir diese Unterscheidung vornehmen. Die Demarkationslinie zwischen den zwei koreanischen Staaten soll die nordkoreanische Bevölkerung dazu zwingen, im eigenen Land zu bleiben.
Auch zur Zeit werden zahlreiche Trennmauern und Zäune gebaut (S. 193 ff.). Aktuell bilden die politisch motivierte Betonmauer zwischen Israel und Palästina sowie der wirtschaftlich motivierte Zaun zwischen den USA und Mexiko ein andauerndes Streitthema. Andere sind aber in ihrer Wirkung genauso radikal, etwa die durch Zypern verlaufende »Green Line« oder die im Bau befindliche, aus Stacheldraht bestehende und kameraüberwachte Trennung zwischen Saudi-Arabien und Irak.
FAKTEN IM VERGLEICH: BAUMATERIAL, LÄNGE, HÖHE
Obwohl alle diese Mauern viele Kilometer lang sind, unterscheiden sie sich beträchtlich voneinander. Die mit mehreren 1000 km längsten Mauern – der römische Limes und die chinesischen Mauern – bildeten kein durchgehendes Mauersystem. Trotzdem findet man bei diesen Mauern die längsten ununterbrochenen Abschnitte. Aus dieser historischen Perspektive betrachtet, sind die ältesten altorientalischen Mauern des dritten Jahrtausends (S. 27 ff. und S. 39 ff.), aber auch die Gorgan-Mauer (S. 127 ff.) spektakuläre Bauwerke. Die Mauerhöhe ist zwar nirgendwo erhalten; um effizient zu sein, müssen diese Mauer aber mehrere Meter hoch gewesen sein. Auch hier hebt sich die ming-zeitliche Mauer in China hervor – mit einer geschätzten Höhe von 16 Metern.
Die einfachsten Baumaterialien sind Erde und Rasensoden, die sich unbearbeitet zu Erdwällen häufen lassen. Diese fanden in »grünen« Gegenden wie Norddeutschland, England oder Thrakien Verwendung. Zu Lehmziegeln bearbeitete Erde war das Grundmaterial im alten Orient. So bestanden die Mauern der Könige Schu-Suen und Nebukadnezar II. sowie zahlreiche zentralasiatische Mauern aus Lehmziegeln, die kappadokische Mauer hingegen, Teile des römischen Limes und einige chinesische Mauern aus Stein. Lehm und Stein wurden in Syrien, Griechenland, China oder Peru kombiniert. Holz gehörte in bewaldeten Gegenden häufig zu den für die Wehrarchitektur gewählten Baumaterialien. Daraus wurden Palisaden oder Aufsätze über einem Sockel hergestellt. Die neuzeitlichen Mauern bestehen aus Beton und Metall und die aktuellsten »Zaun-Mauern« aus Metall und Hightech-Elektronik.
Abb. 5: Die »Pestmauer« in der Provence, bei Fontaine de Vaucluse.
Die berühmteste Abgrenzung im heutigen Vorderen Orient ist die Sperranlage zwischen Israel und Palästina. Sie kombiniert einen Metallzaun mit Stacheldraht, Graben, Sandstreifen und asphaltiertem Patrouillenweg. Kleine Teile bestehen aus einer bis zu 8 m hohen Betonmauer. Doch ist sie nicht die einzige Trennung in der Region. Seit November 2006 sieht ein 12 Milliarden Dollar schweres Projekt eine 900 km lange Trennung zwischen Saudi-Arabien und Irak vor. Diese Barriere aus doppelter Stacheldrahtreihe wird mittels Kameras und Bewegungsmeldern überwacht werden. Bagdad hat dem Bau zugestimmt, um den Waffen- und Menschenschmuggel sowie größere Menschenströme einzudämmen, sollte der Irak als politische Einheit zusammenbrechen. Auch zwischen Irak und Kuweit verläuft eine Trennlinie. Der elektrische Zaun befindet sich in der 15 km breiten und 190 km langen demilitarisierten Zone zwischen beiden Ländern. Der Zaun selbst ist 217 km lang und kostete 28 Milliarden Dollar.
ZUM SCHLUSS: VOM NUTZEN DER MAUERN
Mauern gab es in der Antike und im Mittelalter und dann, in völlig anderer Technik, erst wieder in moderner Zeit. Nach jedem Mauerbau trat zunächst die beabsichtigte Wirkung tatsächlich ein. Die Kontrahenten wurden erfolgreich getrennt, realiter oder in ihren Köpfen. Aber wie lange? Liest man die Geschichte der einzelnen Mauern, so überwiegt der Eindruck der Kurzlebigkeit. Die Mauer Schu-Suens konnte das Amurriter-Problem nicht lösen. Drei Jahrzehnte nach dem Mauerbau riss der semitische General Ischbi-Erra von Mari die Macht in Isin an sich. Er hatte sich um gute Kontakte mit den Amurritern bemüht und brauchte ihnen gegenüber keine Trennung mehr. Auch einigen Limesabschnitten war nur eine kurze Dauer beschert: der Antoninuswall diente ganze 20 Jahre. In der 2300-jährigen Geschichte Chinas gerieten die Mauern in friedlichen Phasen florierender Wirtschaft in ihrer eigentlichen Funktion in Vergessenheit. Auch die Machthaber wussten, dass diplomatische Bemühungen, Tributzahlungen oder Strafexpeditionen gegenüber Reiternomaden wünschenswerter waren als ein Mauerbau und dass es andererseits, trotz Mauer, zwischen den Chinesen und ihren »barbarischen« Nachbarn Beziehungen aller Art gab.
Die Mauer, die wahrscheinlich am allerwenigsten nützte, war die sogenannte Pestmauer in der Provence15. Im Mai 1720 legte die Grand Saint Antoine mit einer Ladung wertvoller Stoffe in Marseille an. In diesen Stoffen wimmelte es von Flöhen, die die Pest einschleppten, die zu diesem Zeitpunkt in Syrien wütete. Obwohl die Besitzer der wertvollen Fracht die Krankheit bemerkt hatten, gelang es ihnen, die zuständigen Behörden zu bestechen und die Quarantäne zu umgehen. Als Folge verlor Marseille bis Oktober 1720 ein Drittel seiner 120.000 Einwohner. Als die Pest in Marseille zwar nachgelassen, sich aber dafür bereits auf die Provence ausgebreitet hatte, beschlossen der angrenzende Pontifikalstaat um Avignon mit dem Comtat Venaissin am 14. Februar 1721 auf Anfrage des über die restliche Provence regierenden französischen Königs, eine Mauer zu bauen. Sie sollte die aus dem Süden und Osten kommende Pest aufhalten und Avignon verschonen. In fünf Monaten entstand eine knapp 30 km lange Mauer. Sie verband Monieux im Plateau de Vaucluse, etwa 50 km nordöstlich von Avignon, mit dem etwa 25 km östlich von Avignon liegenden Ort Cabrières. Diese durch den provenzalischen Architekten Antoine d’Allemand in Trockenbau errichtete Mauer wurde 1,95 m hoch und 0,65 m breit. Sie war mit 40 Wachtposten, 50 Unterkünften für Soldaten und einigen umfriedeten Arealen versehen. Südlich von Cabrières – über die heutige Hauptstraße D22/N100 hinweg – bis zum Fluss Durance gab es dann einen 15 km langen sowie 1,95 m breiten und tiefen Graben mit einem Erdwall. Aber bereits im August 1721 wurde der erste Fall von Pest in Avignon gemeldet. Noch ein Jahr lang wurde die Mauer bewacht, 1723 schließlich völlig aufgegeben und als Steinbruch ausgebeutet. Seit 1986 wird sie abschnittsweise restauriert. Dies war die letzte Pest in Europa, jedoch nicht die letzte Mauer …
HEUTE
Heute erleben wir in Europa in gewisser Weise eine Rückkehr in die Antike. Starre Grenzvorstellungen schwinden im europäischen Raum. Sie gehören zwar noch zum kollektiven Gedächtnis des jeweiligen Landes, aber wir verstehen die europäischen Länder mehr und mehr als politische, geografische oder auch ethnische oder wirtschaftliche Einheit von Regionen. Inzwischen sind für den Einzelnen Barrieren sprachlicher oder kultureller, nicht aber politischer Art ein Hindernis. Mauern und Zäune sind in Europa dennoch nicht ganz verschwunden. Aber sie liegen, wie die Trennung in Zypern, nicht mehr im Zeichen der Zeit. Letztlich hatte Friedrich Rückert doch Recht, als er schrieb:
»Grenzpfähle steckest du, um ein Gebiet zu messen; Doch, daß du sie nur steckst, das sollst du nicht vergessen.«16