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DIE AMURRITER-MAUER IN MESOPOTAMIEN – DER ÄLTESTE HISTORISCHE GRENZWALL GEGEN NOMADEN
ОглавлениеWalther Sallaberger
Die fruchtbare und reiche Ebene des Zweistromlandes weckte schon immer die Begehrlichkeiten ihrer Nachbarn, die der Bewohner der Bergketten im Osten ebenso wie die der Nomaden, die in der Steppe um das fruchtbare Ackerland ihre Schafherden weideten (Abb. 1). Diese Konflikte lassen sich anhand schriftlicher Quellen bis ins dritte Jahrtausend v. Chr. zurückverfolgen. In diesem Kontext erfolgte als eine königliche Großtat der erste Mauerbau der Geschichte, doch die Umwälzungen in Mesopotamien konnten damit nicht verhindert werden.
Im dritten Jahrtausend. v. Chr. blühte in Mesopotamien, dem Land an Euphrat und Tigris, eine hoch entwickelte Stadtkultur. Die großen Städte reihten sich in der weiten und flachen Ebene, die sich südlich des heutigen Bagdads bis zu den Sümpfen am Golf erstreckt, entlang der beiden Flüsse und deren Nebenarmen. Zwischen den Orten lagen weite Getreidefelder und Dattelhaine, die die Bewohner des Landes in gemeinschaftlicher Arbeit bewirtschafteten (Abb. 2). Die fruchtbare und steinlose lehmige Erde brachte hohe Erträge, wenn die Felder durch Ableitungen von den Flüssen bewässert wurden – man baute vor allem Gerste an, die unter der heißen Sonne prächtig gedieh.
Die Städte waren von Mauern umgeben, eng drängten sich innen die Häuser. Das geistige und örtliche Zentrum bildete das große Heiligtum des Hauptgottes der Stadt – weitere Tempel dominierten das Stadtbild. Die Bewohner waren den Tempeln zugeteilt, hier wurden ihre Arbeitsdienste verwaltet. Die Felder waren zu bebauen, dabei mussten auch die Bedürfnisse des Stadtfürsten gedeckt werden, der im Palast mit seinem Hofstaat regierte und der als oberster Richter und Kriegsherr die politischen Geschicke seiner Stadt und ihres Umlandes steuerte.
Im späten vierten Jahrtausend v. Chr. war in Mesopotamien schon die Keilschrift erfunden worden. Die Zeichen wurden mit einem Rohrgriffel in die glatte Oberfläche von Tontafeln gedrückt. Die Entwicklung dieser Schrift ist den Sumerern zu verdanken, die den Süden des Tieflands an Euphrat und Tigris bewohnten. Im Norden der Tiefebene schloss sich das Siedlungsgebiet der semitischen Akkader an, am Ende des dritten Jahrtausends v. Chr. waren viele Orte zweisprachig.
Die kleinen Stadtstaaten, die sich immer als Teil einer gemeinsamen Kultur verstanden hatten, waren im 21. Jahrhundert v. Chr. in einem Reich aufgegangen, das eine Dynastie aus der südlichen, am Golf gelegenen Stadt Ur geschaffen hatte. Wenngleich die Stadtstaaten nach föderalistischem Prinzip ihre innere Ordnung selbst gestalten konnten, so war die Außenpolitik doch königliche Domäne. Alle Orte stellten Kontingente für das Heer, das Feldzüge, insbesondere in den im Osten gelegenen Gebirgsländern, dem Zagrosgebirge, führte. Hier war reiche Beute an Tieren (Abb. 3), Gefangenen und Schätzen zu erwarten. Doch der Eindruck von erfolgreichen Beutezügen, den uns die schriftlichen Quellen vermitteln wollen, bedeutet wohl nur die halbe Wahrheit; denn umgekehrt waren sehr wohl auch Einfälle aus den Bergländern im fruchtbaren Tiefland zu befürchten.
Abb. 1: Karte des südlichen Mesopotamien.
DIE DIE DITNUM FERNHÄLT – EINE MAUER ENTSTEHT
In diesem Rahmen der frühen Hochkulturen an Euphrat und Tigris ist der Bau der ersten historischen Mauer zu sehen. Dafür bieten zwei Jahresdaten der Könige von Ur ein unbestechliches Zeugnis: Im frühen Mesopotamien zählte man die Jahre nicht einfach nach Dynastien oder Herrschern, sondern man gab jedem Jahr einen Namen nach einem herausragenden Ereignis, etwa der Thronbesteigung des Königs, dem Bau eines Tempels oder kriegerischen Erfolgen. Da die Abfolge der Daten und der Herrscher aus Listen bekannt ist, lassen sich die Ereignisse relativ genau über einen langen Zeitraum zeitlich einordnen; dennoch könnten die hier genannten absoluten Daten durchaus auch zwei oder drei Jahrzehnte später anzusetzen sein.
Abb. 2: Die antike Stadt Kisch liegt etwa 15 km östlich von Babylon und besteht aus mehreren Hügeln. Auf dem Bild sieht man inmitten von Feldern und Palmenhainen den Hügel Inghara. Früher lag Kisch an einem Arm des Euphrat, heute gibt es nur künstliche Bewässerung. Im Hintergrund sieht man ebenfalls Palmenhaine. So kann man sich die Landschaft in etwa vorstellen, in der die sesshaften Bauern im 3. Jt. v. Chr. lebten.
Sulgi, der zweite König der Dynastie aus Ur (2092– 2045 v. Chr.), die wir nach der Abfolge der Sumerischen Königsliste die »Dritte Dynastie« von Ur nennen, benannte sein 37. Jahr, 2056 v. Chr., nach folgendem Ereignis:
»Jahr: König Sulgi hat die Mauer des Landes gebaut.« oder kurz: »Jahr: die Mauer des Landes wurde gebaut.«
Dieses Datum erhielten all die zahllosen Dokumente von Recht und Verwaltung, die in diesem Jahr im ganzen Reich geschrieben wurden: auch das 38. Jahr wurde noch als »Folgejahr« nach diesem Ereignis benannt. In dieser knappen Form gelang es den Herrschern Mesopotamiens, ihre hervorragenden Taten im ganzen Land bekannt zu machen. Der Bau einer »Mauer des Landes« galt damit als herausragende königliche Tat, die allen anderen Ereignissen des Jahres vorgezogen wurde.
Nach den beiden Mauerbau-Jahren folgte die Errichtung eines königlichen Verwaltungszentrums nahe der religiösen Hauptstadt Nippur. Hatte der König erst die Grenzen gesichert, bevor er es wagte, die Güter außerhalb der politischen Hauptstadt zu stationieren? Denn die königliche Verwaltung betraf vor allem die direkt der Krone unterstehenden riesigen Herden an Rindern und Schafen, die zumeist aus Kriegsbeute, Tributen und Abgaben ergänzt wurden.
Abb. 3: Schafe, Widder und eine Kuh auf der sog. Mosaikstandarte von Ur. Frühsumerisch, 2500–2350 v.Chr. Seite A, Lapislazuli, Kalkstein und Muscheln auf Holz. London, The British Museum.
Auf Sulgi und dessen Sohn Amar-Suena (2044–2036 v. Chr.) folgte des letzteren Sohn Schu-Suen (2035–2027 v. Chr.) auf den Thron von Ur. Schu-Suens viertes Jahr, 2032 v. Chr., wurde wieder nach einem Mauerbau benannt, der Name galt dann auch für das Folgejahr:
»Jahr: Schu-Suen, der König von Ur, hat die Amurriter-Mauer (namens) ›Die die Ditnum fernhält‹ erbaut.«
Durch die zusätzlichen Angaben ist hier manches klarer, als es ein Vierteljahrhundert zuvor bei Sulgi gewesen war. Denn die Mauer hatte einen sprechenden akkadischen Namen erhalten – so wie in Mesopotamien auch Tempel, Tore und Stadtmauern Namen trugen. Die Ditnum waren ein Stamm von Amurritern, die im dritten Jahrtausend besonders häufig mit den Bewohnern des Tieflands in Kontakt kamen.
Unsere Bezeichnung »Amurriter« ist abgeleitet vom akkadischen Amurru – auf sumerisch nannte man sie Mardu. Sie wurden im späten dritten Jahrtausend zu einem prägenden Faktor der mesopotamischen Geschichte. Was zu dieser Zeit genau unter »Amurritern« zu verstehen ist, hat in der Forschung zu erheblichen Diskussionen geführt und ist entscheidend für das Verständnis der Mauer. Alle Zeugnisse verweisen auf den Westen als ihr ursprüngliches Kerngebiet, doch waren sie nun, im 21. Jahrhundert v. Chr., im gesamten Vorderen Orient – von Syrien westlich des Euphrats bis nach Mesopotamien – präsent. Im 23.–22. Jahrhundert v. Chr. erfolgte ein dramatischer Einbruch der Stadtkultur in Obermesopotamien, dem Gebiet des »Fruchtbaren Halbmonds« im Norden der heutigen Arabischen Republik Syrien und im Südosten der Türkei. Offensichtlich waren die Einwohner gezwungen, die Lebensweise der Kleinviehnomaden zu übernehmen, die mit ihren Schafen zu den jeweils günstigsten Weideplätzen zogen. Dabei eigneten sie sich wohl auch die Sprache der im Westen lebenden Amurriter an, welche sich deutlich vom ebenfalls semitischen Akkadisch der Bewohner Mesopotamiens unterschied.
Im Tiefland Mesopotamien konnte man sich mit den dort umherziehenden Nomaden arrangieren, da die Steppengebiete neben den Ackerflächen der Viehzucht dienten, so dass sich die Lebensweisen ergänzten und ein fruchtbarer Güteraustausch zwischen Nomaden und Ackerbauern entstehen konnte. Die friedliche Nachbarschaft bewahrte der König zudem mit Geschenken an die Amurriter, vor allem deren Scheichs, anlässlich großer Feste, Hochzeiten oder Trauerfällen. Umgekehrt traten Amurriter in die Dienste der Könige von Ur und im Heer bot sich ihnen die Möglichkeit für einen gesellschaftlichen Aufstieg in den Strukturen der Stadtkultur.
Doch während sich im Inneren Arrangements für ein Zusammenleben fanden, bestand auf das Tiefland gleichzeitig ein Druck von außen. Gerade ein Jahr vor seinem Mauerbau, 2033 v. Chr., war König Schu-Suen mit seinem Heer nach Norden den Tigris hinaufgezogen, denn im dortigen Königtum Schimanum hatte man den verbündeten Herrscher mit seiner Gemahlin, einer Prinzessin aus Ur, vertrieben. Dem König von Ur stellten sich auf seinem später erfolgreichen Rachefeldzug Amurriter entgegen, darunter der im Mauernamen verewigte Stamm der Ditnum.
In den Urkunden der königlichen Verwaltung finden sich weitere Hinweise auf Razzien im »Amurriter-Land«, denn das dabei erbeutete Vieh wurde genau erfasst. Die acht bekannten Kampagnen gegen Amurriter zwischen 2053 und 2040 v. Chr. zeichnen sich unter allen Feldzügen dadurch aus, dass hier Fettschwanzschafe erbeutet wurden. Fettschwanzschafe waren charakteristische Tiere für die Nomadenkultur, denn der namengebende Fettschwanz erfüllt dieselbe Funktion wie die oder der Höcker von Trampeltier oder Dromedar, nämlich Fett und Wasser für die Wanderungen durch die Trockengebiete zu speichern.
Die Kriegszüge im »Amurriter-Land«, das in einem weiten Bogen die mesopotamische Tiefebene vom Nordwesten bis in den Nordosten, bis in das Hamrin-Gebirge und das Diyala-Gebiet umgab, sind zeitgenössische Hinweise auf stetige Konflikte. Diese müssen eine solche Bedrohung dargestellt haben, dass sich die Könige Sulgi und Schu-Suen von Ur auf das einmalige Experiment einer »Mauer des Landes«, der »Amurriter-Mauer«, eingelassen haben. In der langen Reihe von Jahresnamen aus dem frühen Mesopotamien, die praktisch ununterbrochen von etwa 2100 bis 1595 v. Chr. reicht und zu der noch eine Reihe früherer Jahre sowie Jahresnamen von parallel regierenden Dynastien kommen, findet sich kein einziger Hinweis auf einen vergleichbaren Mauerbau. Es war also unbestreitbar eine außergewöhnliche Tat der beiden Könige. Ob diese die im Anschluss beschriebene Mauer in Syrien kannten, die Bernard Geyer 1998 entdeckte? Das ist durchaus wahrscheinlich, bedenkt man die diplomatischen Beziehungen dieser Zeit, welche sich mithilfe der Urkunden über die Bewirtungen ausländischer Gesandter am Hof der Könige von Ur rekonstruieren lassen. Demnach war Ebla in Syrien neben Mari am Euphrat damals das dominierende Reich im Westen und trotz der enormen Distanz von über tausend Kilometern herrschte über Jahrzehnte ein regelmäßiger Kontakt. Die historische Situation in Syrien könnte also dafür sprechen, dass die im nächsten Abschnitt beschriebene syrische Mauer von Ebla aus errichtet worden war, auch wenn die Stadt Hama näher liegt. Welche Seite, das syrische Ebla oder das sumerische Ur, dann angeregt haben mag, eine Mauer als Grenzwall gegen die Nomaden zu bauen, das bleibt unbekannt.
Die archäologisch noch bezeugte syrische Mauer ist aus Steinblöcken errichtet. Für die Amurriter-Mauer in Mesopotamien, die wir nur aus schriftlichen Quellen kennen, ist dies aber nicht anzunehmen, denn in der babylonischen Schwemmebene hätte man Steine mühsam importieren müssen. Hingegen war es durchaus üblich, Felder und Gärten mit Lehmmauern zu umgrenzen. Solche Lehmmauern waren in ihren Ausmaßen relativ bescheiden, etwa 0,25–0,5 m breit und 1–1,5 m hoch, so dass ein Arbeiter pro Tag zwei bis drei Laufmeter errichten konnte. Aber schon bei den Feldern waren die Längen beachtlich: Eine Urkunde beschreibt etwa die Umzäunung eines Feldes mit 5670 m Lehmmauer und 5620 m Rohrzaun. Wie es bei allen Lehmbauten heute noch im Orient üblich ist, mussten auch die Feldmauern regelmäßig ausgebessert werden; dann konnten sie sogar den Winterregen Stand halten. Diese Fertigkeit im Bauen langer Mauern, die die Felder wohl vor durchziehenden Schafherden schützen sollten, konnten die Könige einsetzen, um eine Grenze gegen die Amurriter zu errichten. Die neu gefundene Mauer in Syrien zeigt aber, dass wir uns hier nicht unbedingt die Dimensionen einer Stadtmauer mit mehreren Metern Dicke und Höhe vorzustellen brauchen, die nur mit Sturmleitern zu erobern war, sondern dass durchaus bescheidenere Maße den Zweck erfüllen konnten, eine Grenze zu ziehen. Entscheidend dürfte dabei auch gewesen sein, dass der Wall nicht nur im Krieg seine Funktion erfüllte, sondern die Nomaden bei ihren jahreszeitlichen Wanderungen zu den besten Weidegründen fernhielt, konnten doch die Schafherden die Mauern nicht überwinden (s. »Die syrische Mauer«, S.39 ff.).
Das ungewöhnliche Projekt einer durch das Land laufenden Mauer wird in einer Gruppe von keilschriftlichen, auf Sumerisch geschriebenen Briefen aus der Korrespondenz der Könige von Ur überliefert. Allerdings sind uns nicht die Originale erhalten, sondern nur Fassungen, die etwa zwei- bis dreihundert Jahre später in den Schulen Babyloniens verwendet wurden. Dabei wurden die ursprünglichen Texte verändert – Zeilen vertauscht, Passagen in andere Texte eingefügt, Namen verwechselt oder neu erfunden. Damit sind diese königlichen Briefe zu einer schwer benutzbaren historischen Quelle geworden. Dennoch lassen sich mit größter Vorsicht einige Daten zur Mauer gewinnen; denn die Bauherren der Mauer, die Könige Sulgi und Schu-Suen, der Bau und der Zweck der Mauer sowie einige beteiligte Protagonisten sind aus zeitgenössischen Quellen sicher belegt, wie wir oben gesehen haben.
So schreibt ein Beamter an König Sulgi:
»Über die Mauer hat Mein Herr mir geschrieben, die Arbeit daran hat er erledigt. Der Feind hat seine (ehemaligen) Wege in unser Land abgeändert. Den erhabenen Namen Meines Herrn wird man von unten bis oben, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang bis zu den Grenzen des Heimatlandes hinaustragen!« (RCU 6 Z. 5–8, s. weiterführende Literatur)
Der zerstörte Text nennt dann die Bosheit der Amurriter sowie den Namen der Mauer: »Front des Gebirges«, was auf ihre Lage vor den auslaufenden Hügelketten des Djebel Hamrin hinweist.
Abb. 4: Viehzucht und Ackerbau ergänzen sich in den kargen Landschaften Obermesopotaniens: hier eine Schafherde auf abgeernteten Getreidefeldern vor dem Ruinenhügel Tell Beydar in Nordsyrien.
Der verantwortliche General an dieser Mauer beklagt sich in einem Brief an König Sulgi, dass er die Truppen nicht gleichzeitig für den Krieg gegen die Amurriter wie zur Instandhaltung der Mauer aufbieten kann. Einleitend preist der General aber den König, dass der durch den Schutz der Mauer etwas für alle Menschen seines Reiches geschaffen habe:
»Hat Mein Herr Gold oder Lapislazuli für die Götter verarbeitet, war das dann nicht für sein Leben? Mein Herr hat für das Leben der Truppen und seines Heimatlandes die große Mauer ›Front des Gebirges‹ wegen der üblen Feinde für sein Volk und Heimatland errichtet. Er hat Truppen ausgehoben.« (RCU 11 Z. 4–9)
Er zählt detailliert die Schäden an manchen Mauerabschnitten auf:
»3000 m Länge wurden erhöht, sind in der Mitte zusammengebrochen« (Z. 16); »30 m Länge sind durchbrochen« (Z. 18), »auf 215 m Länge sind Front und Sockel abgetragen« (Z. 20), »auf 240 m Länge wurde oben kein runder Abschluss aufgesetzt.« (Z. 22)
Abb. 5: Palmenhain bei Babylon.
Doch die nahe Gefahr droht:
»Der Feind hat für die Schlacht seine Truppenstärke erreicht. Seine Truppen liegen im Inneren des Gebirges.« (Z. 24 f.)
Deshalb bittet der General um weitere Mannschaften, um den Bau trotz der Kämpfe durchführen zu können. Die Arbeitskräfte für solche königlichen Aufgaben hatten im Reich von Ur die Stadtfürsten zu stellen, die dabei auf die Verwaltung der Tempel zurückgriffen.
König Sulgi fordert in seinem Schreiben vom General, mit den verfügbaren Truppen seine Aufgaben zu erfüllen, Tag und Nacht und auch in der Mittagshitze zu arbeiten; der Stadtfürst von Zimudar würde zudem helfen. In einer anderen Fassung dieses Sulgi-Briefes wird deutlicher formuliert, dass die »Mauer des Landes« namens »Front des Gebirges« gegen die Amurriter gerichtet ist:
»Seit ich die große Mauer ›Front des Gebirges‹ gebaut habe, kommen die Amurriter nicht in (unser) Heimatland herab, trinken nicht Wasser am Ufer vom Abgal-Fluss, Tigris und Euphrat.« (RCU 9 Z. 3–5)
Das wichtigste Zeugnis für die Amurriter-Mauer bildet das Schreiben des für den Mauerbau verantwortlichen Scharrum-bani an König Schu-Suen:
»Die große Mauer (namens) ›Die die Ditnum fernhält‹ zu errichten, das hast du mir geschrieben. Du brachtest bei mir vor: ›Die Amurriter sind in das Land eingefallen!‹ Du hast mich beauftragt, die Mauer zu bauen, ihren Weg abzuschneiden, denn sie sollen nicht bei der Engstelle von Tigris und Euphrat die Felder überschwemmen. Als ich mich aufmachte, standen gerade die Truppen dafür vom Ufer des Abgal-Flusses bis zum Land von Zimudar bereit. Während ich diese Mauer von 26 ›Doppelstunden‹ (= 281 km) errichtete und die Senke zwischen den beiden Gebirgszügen erreichte, da richtete der Amurriter, der im Gebirge sich niedergelassen hatte, seine Aufmerksamkeit auf meine Unternehmung. Und Simurrum kam mit ihm als Verbündeter. Bei der Senke im Ebih-Gebirge kam er her, um sich mit Waffen zu schlagen.« (RCU 18 Z. 3–15)
Dieser Brief gibt die wichtigsten Hinweise zur Amurriter-Mauer: Die Mauer reichte über eine Länge von 281 km vom Abgal-Fluss bis in die Senke im Ebih-Gebirge, den heutigen Djebel Hamrin, wo eine Schlacht gegen die Amurriter erwartet wurde. Mit der Längenangabe von 281 km ist die Mauer ähnlich lang wie die Mauer gegen die Nomaden in Syrien, die Bernard Geyer auf 220 km Länge verfolgen konnte. Der im Brief genannte östliche Endpunkt der Mauer lässt sich identifizieren, es handelt sich um den Durchbruch des Diyala-Flusses durch den Djebel Hamrin östlich des heutigen Bagdads. Simurrum liegt weiter östlich in den südlichen Zagros-Ketten, wenig südlich von Sulaymaniyah am Sirwan, einem Zufluss zur Diyala. Dort, am Djebel Hamrin im Diyala-Gebiet, liegt auch Zimudar, die wichtige Provinz am Endpunkt der Mauer und Aufmarschbasis für Feldzüge in den Osten.
Der westliche Beginn der Mauer am Abgal-Fluss lässt sich allerdings noch nicht sicher bestimmen. Das Dilemma für den Forscher besteht darin, dass die Ströme Mesopotamiens und ihre Nebenarme im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende mehrmals ihren Lauf in der Tiefebene verändert haben. Der Abgal war ein westlicher Nebenfluss des Euphrats (Abb. 5), der in Nordbabylonien abzweigte. Aber ob diese Abzweigung auf der Höhe von Sippar lag oder weiter südlich zu suchen ist, bleibt unbekannt. Man möchte allerdings vermuten, dass die Mauer das gesamte Kernland des Reiches von Ur III, das im Norden Sippar noch einschloss, beschützte.
Abb. 6: Der Euphrat im Gebiet des antiken Babylon.
Der zuletzt zitierte Brief fordert schließlich eine Verstärkung der Truppen, da sowohl zu bauen wie zu kämpfen sei. König Schu-Suen hält sich wie sein Vorgänger Sulgi mit Zusagen zurück, doch um die Solidarität des Adressaten Scharrum-bani wie die seiner Amtskollegen zu gewinnen, wird die Vorgeschichte der Mauer angesprochen:
»Als Vater Sulgi die Mauer ›Front des Gebirges‹ gebaut hatte, wart ihr da nicht da?« (RCU 18 Z. 28 f., Text Michalowski)
Dies kann als Hinweis gewertet werden, dass die »Mauer des Landes« von 2056 v. Chr. und die »Amurriter-Mauer« von 2032 v. Chr. dasselbe Bauwerk meinen, was man auch aus den parallel formulierten Jahresdaten von Sulgi und Schu-Suen erschlossen hat.
Der Bau der Mauer von 2032 v. Chr. konnte jedoch den schon wenige Jahre später, 2024 v. Chr., einsetzenden Zerfall des Reiches von Ur nicht aufhalten. Ischbi-Erra, ein General des Königs von Ur, hatte sich in der Stadt Isin für unabhängig erklärt, während die Königsstadt Ur wie der gesamte sumerische Süden unter einer katastrophalen Hungersnot zu leiden hatte. Das geschwächte Land wurde schließlich eine Beute des östlichen Nachbarn Elam. Mit dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in Babylonien war die Mauer bedeutungslos geworden, weitere Amurriter konnten eindringen. Vielerorts übernahmen sie im frühen 2. Jahrtausend v. Chr. die politische Führung. Doch damit setzte auch ihre Anpassung an die Lebensweise und Kultur der Städte ein …