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Was der Fall ist
ОглавлениеAlbert Camus hat für seine berühmte Geschichte aus gutem Grund die Metapher vom „Fall“ gebraucht und mit Hilfe dieser Metaphorik denn auch eine ganze Fülle von assoziativen Möglichkeiten eröffnet: aus allen Wolken fallen, in Ungnade fallen, der Abfall, der Rückfall, der Überfall, der Unfall, der Zufall, der Sündenfall und dergleichen mehr. Die moderne Philosophie hat zu dieser Bilderwelt bezeichnenderweise noch eigene Beispiele hinzugefügt, etwa so grundlegende Sätze wie die von Ludwig Wittgenstein:
„Die Welt ist alles, was der Fall ist“
und „Die Welt zerfällt in Tatsachen“
(Tractatus logicophilosophicus,1).
Was aber ist heute „der Fall“? Was sind heute „Tatsachen, in die die Welt zerfällt“? Das folgende Wortfeld soll mit seinen Bildern, Schlüsselbegriffen und Namen einige Facetten von „Tatsachen“ vor Augen führen, mit denen wir es in unserer Welt zu tun haben und mit denen wir Tag für Tag konfrontiert sind:
Auschwitz, Hiroshima, 11. September, Hungersnöte, Alzheimer, Terroranschläge, Klimawandel, Steueroasen, Fremdenhass, Atombombe, Mafia, Artensterben, Lügen, Drogenkartelle, Gier, Flüchtlingsströme, Dürre, Völkermord, Kindersoldaten, Syrien, Rassismus, Armut, Bürgerkriege, Korruption, Regenwälder, Bankenkrise, Giftgas, Schleuserbanden, Päderasten, Fake News, Korruption, Antisemitismus, Folter, Kinderarbeit, Mittelmeer …
Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Die Liste von Begriffen und Schlüsselwörtern, die das Leben in unserer Welt beleuchten. Das Leben in einer Wirklichkeit und die Wirklichkeit eines Lebens, in der – wie unter dünner Decke – ein Abgrund aus Schrecken und Angst, Ohnmacht und Argwohn lauert. Um es noch mit anderen Bildern anschaulich zu machen – Bildern, die um die Welt gehen: Unzählige Menschen aus Afrika sind auf der Flucht vor den schlimmsten Zuständen in ihrem Land. Sie sind auf dem Weg in die vermeintlich sichere Festung Europa, gelangen nach vielen Entbehrungen und Glücksfällen endlich ans Mittelmeer. Da treffen sie auf unüberwindliche Grenzen, hängen an hohen Zäunen wie Fledermäuse, werden verscheucht wie lästiges Getier. Und niemand kann, niemand will ihnen helfen auf ihrem Weg. Die Welt ist aus den Fugen. Sie hat Risse, tausend Risse, durch die sehr viel Furchterregendes, Düsteres, Unheilvolles bis in unsere Wohnungen dringt. Ist es, „das Böse“, dahin zurückgekehrt? War es, dieses Böse, überhaupt jemals weg – für eine Weile weg, in Zeiten des Wiederaufbaus, in Zeiten relativen Friedens danach?