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„Bin ich’s, Rabbi?“. Lesarten des Bösen bei Johann Sebastian Bach

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Für Susanne Rode-Breymann

„Bachs Musik vergibt uns armen Teufeln,

sie verspricht uns neue Lust, sie weint für

uns mit allen Seelen. Wir setzen uns mit ihr,

zu ihr, mit Tränen nieder.“ (Hans Werner Henze)

Nach einer Legende hat ein Jüngling mit einem Antlitz von erlesener Schönheit und gleichsam jenseitiger Reinheit Modell gestanden, als Leonardo da Vinci die Gestalt Jesu in sein Abendmahl einfügte. Die Suche nach einem Vorbild aber, das die überlieferte Vorstellung vom Verräter Judas als dem Inbegriff des Bösen und Verworfenen glaubhaft vermitteln könnte, währte noch viele Jahre. Endlich hat es Leonardo in einem alten Mann gefunden, dem Geiz und Habgier, Gemeinheit und Hinterlist, aber auch Angst und Schmerz, Zerrissenheit und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben waren. Als das Bildnis vollendet war, machte sich der Alte wieder auf den Weg. Zuvor aber verriet er dem Maler, dass der ihn vor langer Zeit schon einmal porträtiert und in sein Bild vom letzten Abendmahl gesetzt hatte. Dort erkannte er, der Verlorene, sich jetzt im Antlitz des Erlösers wieder.

Diese Legende ist ebenso berührend wie aufrührend, denn sie umkreist die drei großen Fragen nach Gott, nach dem Menschen und nach dem Ursprung des Bösen. Dass diese Fragen keine Antwort erheischen, dass sie vielmehr da sind, um immer wieder neu gestellt zu werden, macht ihre Last, aber auch ihre Würde aus. Da ringen seit jeher verschiedene Gottesbilder und sich wandelnde Vorstellungen vom Menschen miteinander, da verstummt seit Augustinus das Unde malum nicht mehr, und da gibt es ein unabschließbares Nachdenken und packende Zwiesprachen der „Gottsucherbande“ (Bazon Brock) über die Zeiten hinweg: von der Frage Quis est Deus im Buch der 24 Philosophen aus dem 12. Jahrhundert bis zum „Joseph“-Roman von Thomas Mann: „Er war nicht das Gute, sondern das Ganze“ heißt es da von Gott, „[…] er hieß der Herr der Seuchen, so darum, weil er zugleich ihr Sender war und ihr Arzt“. Über das biblische Menschenbild schließlich gibt der Titel des Heidelberger Passionsspiels von Philipp Ulhart (1538) bündig Auskunft: „Von dem Bawm des Wissens Guts vnnd Böses, davon Adam den Tod hat gessen vnd noch heut alle Menschen den Tod essen […]“. Der Tod ist fortan das große Malheur, weil er zur Unzeit kommt; er ist das ultimative Böse, „der grimmige tilger aller leute, schedlicher echter aller werlte“, gegen den der Ackermann aus Böhmen des Johannes von Tepl aufbegehrt, dem später Elias Canetti sein ganzes Schaffen als „ein großes Anschreiben gegen den Tod“ entgegenstemmt und das György Ligeti in seiner Oper „Le Grand Macabre“ von 1978 ohne metaphysische Rückversicherung drastisch in Szene gesetzt hat. Als die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach am Karfreitag des Jahres 1727 in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführt wurde, hatte Judas Iskariot als einer der Protagonisten und als Katalysator dieses Welttheaters, dessen Sujet größer und erhabener nicht sein kann, schon eine lange und wechselvolle Karriere hinter sich. Sie nahm ihren Ausgang beim Judasbild der Evangelisten, für die er „einer der Zwölf“ (Markus), „der Verzweifelte“ (Matthäus), „der vom Satan Ergriffene“ (Lukas) oder „der Teufel“ (Johannes) war, für alle Evangelisten aber die Verkörperung des Bösen schlechthin. Seine Rezeptionsgeschichte reicht von der Ächtung bis zur Inszenierung der ewigen Verdammnis des bösen Verräters im mittelalterlichen Passionsspiel bis hin zu seiner Verortung im untersten Kreis der Hölle in Dantes „Divina Commedia“, von seiner Seligpreisung durch den Dominikanermönch Vinzenz Ferrer (1350–1419), der als erster aus dem Sündenbockritual und dem Verdammungsurteil über Judas ausschert, bis zur abwägenden Fürsprache Martin Luthers für einen, der zu einem Leben mit der prophezeiten Schuld bestimmt war: „Unsere große Sünde und schwere Missetat Jesum,/den wahren Gottessohn, ans Kreuz geschlagen hat./Drum wir dich, armer Judas, dazu der Juden Schar/Nicht feindlich dürfen schelten. Die Schuld ist unser gar.“ Bei Kurt Marti – einem der engagiertesten Anwälte des Judas neben Walter Jens und Helmut Gollwitzer – hat solche Fürsprache einen späten Nachhall gefunden:

Schöner Judas

schöner judas

da schwerblütig nun

und masslos

die sonne

ihren untergang feiert

berührst du mein herz

und ich denke dir nach

ach was war

dein EINER verrat

gegen die VIELEN

der christen, der kirchen

die dich verfluchen?

Ich denke dir nach

und deiner

tödlichen trauer

die uns beschämt (Kurt Marti)

Mit dem Wandel des Judasbildes geht ein Wandel von der lehrhaften zur mitleidsvollen Passion einher, wobei sich die compassio zunehmend nicht nur auf das Leiden Christi, sondern auch auf das Schicksal des „Verräters“ richtet. Zu fragen wäre also, ob sich – um mit Hans Werner Henze zu sprechen – unsere Tränen, mit denen wir die schwermütige Schönheit des Schlusschores der Matthäus-Passion beweinen, auch dem Ausgegrenzten und vermeintlich Verruchten gelten, ohne den es keine Heilstat und also keine Erlösung gegeben hätte. Diese Frage zu stellen, heißt, sich zu einem Diktum von Helmut Rilling zu bekennen, für den das Nachdenken über die Matthäus-Passion unverzichtbar zu ihrer Rezeption gehört: „Bachs Musik […] sagt etwas zu Themen, die auch heute noch aktuell sind, etwa in den Passionen zu Hass, Liebe und Furcht, zu Macht und Intrigen, zu enttäuschter Erwartung, Verrat, Reue, Verzweiflung, zu Leiden, Sterben – aber auch zu Hoffnung und Sehnsucht nach Erlösung. Wir heutigen Menschen erfahren Bachs Sprache als eine gewaltige Rede, die uns erreicht, bewegt, bereichert und zum Nachdenken zwingt. Nur deshalb hören wir seine Musik, nur deshalb führen wir sie auf.“

Wie in fast allen geistlichen Kantaten Bachs und im Weihnachtsoratorium, so gehört auch in seinen Passionen der Kampf zwischen Gut und Böse und der Appell, dem Bösen zu widerstehen, zum Gesamtkonzept. Dass auch sein eigenes Leben auf oft schmerzvolle Weise von diesem Kampf bestimmt war, ist der eigentliche Gegenstand von Mauricio Kagels Sankt Bach-Passion (1985). Im Fundus der barocken musikalischen Rhetorik konnte Bach Topoi und Symbole finden, die den Sinn der musikalischen Aussage geradezu sinnlich erfahrbar gemacht haben. Das betrifft zum Beispiel die Verwendung von #- und b-Vorzeichen, die die Einheit von Leiden und Erhöhung (Kreuz und Krone) beziehungsweise von Erniedrigung und Betrübnis bedeuten. Abwärts fallende Sekundschritte (in Zweierbindung) ahmen lautmalerisch die menschliche Regung des Seufzens nach, und dissonant klingende Intervalle evozieren schmerzhafte Empfindungen und das Bedürfnis, davon „erlöst“ zu werden. Zu den am stärksten dissonant klingenden Intervallen zählt der Tritonus (lat. = Dreiton), ein aus drei Ganztonschritten bestehendes Intervall, das sowohl als übermäßige Quarte wie auch als verminderte Quinte gedeutet werden kann. Solcher Ambivalenz und dem großen Spannungsreichtum des Tritonus ist die Etikettierung dieses instabilen Intervalls als diabolus in musica geschuldet. Die Rede vom diabolus in musica meint per definitionem ein Verbot, das im Mittelalter nahezu total galt. Um ihn musikalisch an die Wand malen zu können, wurde dem Teufel in der Folgezeit allerdings partiell Lizenz erteilt. Als Rahmenintervall gibt der Tritonus dem aus zwei kleinen Terzen bestehenden verminderten Dreiklang und dem aus drei kleinen Terzen bestehenden verminderten Septakkord jenes „teuflische“ Flair, das bei Bach immer wieder anklingt, wenn im Text von Tod und Teufel, Satan und Sünde die Rede ist. So etwa in der Kantate Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt (BWV 18) auf die Worte „Den Satan unter unsre Füße treten,/Erhör uns, lieber Herre Gott“ (Bass-Arie), in der Kantate Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz (BWV 136) auf die Worte „Ja, gar aus Teufels Rachen/frei, los und ledig machen“, oder in der Kantate Er rufet seinen Schafen mit Namen (BWV 175) auf die Worte des Schlusschorals „Jesus hat euch zugeschworen,/dass er Teufel, Tod erlegt“. (Bass-Arie)

Bach hat das Böse (Sünde, Lüge, Unheil, Krankheit und Tod) in mancherlei Facetten sinnlich erfahrbar gemacht, und stets fällt dem diabolus in musica dabei eine besondere Rolle zu: Die Musik wird zum Kampfplatz zwischen dem Guten und dem Bösen, das textlich mit Symbolen geballter Negativität aufgeladen ist (Drache, Schlange, Teufelsschlange). So brechen in der Kantate O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 20) die Schrecken des Jüngsten Gerichts herein; in kunstvoller Regelwidrigkeit deutet die Choralbearbeitung Durch Adams Fall ist ganz verderbt aus dem Orgelbüchlein (BWV 637) den Text des geistlichen Liedes aus, in dem Lazarus Spengler das Thema der Erbsünde aufgegriffen hat; die Kantate Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist (BWV 45) ist wie die Kantate Widerstehe doch der Sünde (BWV 54) ein eindringlicher Appell, Gottes Gebot zu befolgen und die von Gott gesetzte Grenze zum Bösen hin nicht zu überschreiten; die Kantate Ein feste Burg ist unser Gott (BWV 80) hat wie Luthers Lied den Krieg Satans gegen Gott und das „Wüten der ganzen Welt“ zum Inhalt und lässt den Sieg über das Böse Klang werden. Den Sieg über den ultimativen Bösen, den Tod, besingt die Kantate Christ lag in Todesbanden (BWV 4). Bei der bildstarken Übersetzung der vierten Strophe in Musik ist Bach offenbar von den wie in Holz gekerbten Worten Luthers inspiriert worden: „Es war ein wunderlicher Krieg./da Tod und Leben rungen;/das Leben behielt den Sieg,/es hat den Tod verschlungen./Die Schrift hat verkündet das,/wie ein Tod den andern fraß,/ein Spott aus dem Tod ist worden./Halleluja!“ Die Singstimmen werden von Bach dergestalt kanonisch geführt, dass sie sich gleichsam gegenseitig auffressen und damit das Böse selbst als dessen ärgsten Feind erscheinen lassen.

Anders als in seinen Kantaten ist die Frage nach dem Bösen in Bachs Passionen weniger auf abstrakte Bedrohungen und Gefährdungen als vielmehr auf den Gefährder selbst zu richten, als der Judas eine ebenso exponierte wie undankbare Rolle zu übernehmen hat. Er ist eine große Projektionsfläche, und er ist der Böse, in dem sich seit Jahrhunderten das Böse in allen nur denkbaren Ausprägungen angelagert hat. Das Schlimmste aber ist, dass er, der Erbärmliche, kein Erbarmen findet und an seiner heilsnotwendigen Sendung, die er „nicht durch Verrat, sondern aus Gehorsam“ (Walter Jens) erfüllt hat, zerbricht. Als Bach die Matthäus-Passion komponierte, hatte sich die Empathie für die tragischste Gestalt der Bibel, den „großen Unheiligen“ (Walter Nigg), schon einiges Gehör verschafft. So zeigt das Relief am Bronzeportal der Kathedrale von Benevento (1279) den toten Judas an einer Palme erhängt, umarmt von einem Engel, der ihn küsst. Und auf einem Kapitell an der ehemaligen Klosterkirche St. Madeleine zu Vézelay in Burgund nimmt Simon von Cyrene den Leichnam des erhängten Judas auf seine Schultern und trägt ihn wie der gute Hirte das verlorene Schaf.

Späte Aufzeichnung über Simon von Cyrene

Zum andern Mal hat er sich bekannt,

als sie schaudernd den Baum umstanden,

an dem sich Judas selber gerichtet.

Keiner wollte den Strick abschneiden.

Simon löste sein Winzermesser vom Gürtel

und einer der Jünger schrie:

„Berühr ihn nicht, er ist der Verräter!“

Simon lud sich den Toten auf

und trat aus dem Schatten. „Wo bist du gewesen,

als sie Jesus nach Golgatha schleppten?

Ich habe ihm sein Kreuz nachgetragen,

ich trage ihm auch den Judas nach“,

sagte er. Und sie wichen verstört.

Keiner wagte, ihm nachzufolgen. (Christine Busta)

Musik und Dichtung gaben sich reservierter, und so wird man auch in den Passionsvertonungen von Johann Sebastian Bach keinen lauten Einspruch gegen das größte Skandalon der Bibel vernehmen, als das Judas‘ Schicksal uns erscheinen mag. Wohl aber gibt es da Zeichen einer Anteilnahme, die „den Verräter“ mit einbezieht und die Frage, wer und was im Schlusschor der Matthäus-Passion zu beweinen sei, noch einmal stellt. Anders nämlich als in seinen Kantaten, die d a s Böse als Widerpart des Guten zum Inhalt haben, steht in Bachs Passionen d e r Böse, ein Mensch mit Geist und Leib und Seele, im Fokus der Musik. Hätte Bach die Matthäus-Passion von Heinrich Schütz gekannt, dann wäre ihm ein Judas begegnet, der auf sehr menschliche Weise lebendig war, etwa, wenn er die Frage „Bin ich’s, Rabbi?“ an Jesus richtet. Der 80-jährige Schütz gestaltet diesen Augenblick zu einem klingenden Psychogramm, das die leidenschaftliche Erregung des fanatischen, heißblütigen Cholerikers im wörtlichen Sinn zur Sprache bringt, indem er Judas in den sanktionierten Bibeltext mit impulsiven Wortwiederholungen derart eingreifen lässt, dass man meint, ihn gestikulieren zu sehen: „Bin ich’s, b i n i c h’s, Rabbi?“/„Ich, i c h will ihn euch verraten.“/„Der, d e r ist’s, den greifet! “ Auch Bachs kompositorische Einlösung dieser Textstelle lässt einen Blick auf Judas‘ Gestimmtheit zu. Nach Jesu Worten „Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten“ fragen die Jünger in einer turbulenten Chorszene wild durcheinander „Herr, bin ich’s, bin ich’s?“ Die Frage wird jedoch nicht zwölf Mal gestellt, wie es der Anzahl der anwesenden Apostel entspräche, sondern nur elf Mal. Judas, so darf man das deuten, scheint die Antwort zu fürchten. Nachdem aber Jesus im folgenden Rezitativ mit höchster Erregung die Strafe für den Verräter verkündet hat, nimmt er sich ein Herz und stellt die für den weiteren Fortgang des Passionsgeschehens alles entscheidende Frage „Bin ich’s, Rabbi?“, die Jesus mit gefasster Stimme bejaht: „Du sagst’s“. Zusammen mit dem eingefügten Choral „Ich bin’s, ich sollte büßen“ gehört diese Szene zum Bewegendsten der Matthäus-Passion. Sie gibt den Blick frei auf das Unergründliche von prophezeiter, heilsnotwendiger und zugleich untilgbarer Schuld, ein Geheimnis, das Judas als eine wahrhaft tragische Gestalt erscheinen lässt. Bachs Musik leuchtet das Böse in seiner ganzen Abgründigkeit aus, jedoch ohne ihre Empathie mit dem Bösen zu verschweigen, der – auserwählt und ausgegrenzt zugleich – seine Untat vollbringen muss. Als unerhörte Volte über die Jüngerfrage „Herr, bin ich’s?“ ist der Choral „Ich bin’s, ich sollte büßen“ das Bekenntnis einer Kollektivschuld, das den Hörer zutiefst beunruhigt. In der mystischen Tonart As-Dur notiert, vermag er zugleich zu trösten und wie eine Fürsprache für den zu klingen, der „noch besser nie geboren wäre“. Auch der kurze Chorsatz auf die Worte des römischen Hauptmanns und seiner Soldaten „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“ erklingt in As-Dur. Die eher entlegene Tonart wird hier zur klanglichen Chiffre für das Unbegreifliche, aber auch eine Folie für das einfache, wahre Erkennen und Bekennen.

Ein exegetisches Wagnis Bachs besonderer Art ist die tonartliche Übereinstimmung zwischen zentralen Passagen des Jesus-Parts und der Judas-Arie „Gebt mir meinen Jesum wieder“ mit obligater Solovioline, die in Sechzehntelsprüngen und Zweiunddreißigstelläufen das Rollen und Klimpern der Silbermünzen assoziieren lässt. Die Arie steht in G-Dur, einer traditionell als frühlingshaft und freundlich empfundenen Tonart, in der gleich das erste Rezitativ Jesu („Ihr wisset, dass in zween Tagen Ostern wird…“) gehalten ist und die zunächst zu dem verzweifelten Versuch Judas‘, den Verrat ungeschehen zu machen, nicht so recht passen will. („Ich will dir mein Herze schenken“ lautet der Text der einzigen anderen G-Dur-Arie der Matthäus Passion!). Aber John Neumeier belehrt uns eines Besseren. In seiner tänzerischen Umsetzung der Matthäus-Passion hat er sich dem christlichen Thema von Schuld und Vergebung gewidmet und dabei der Judas-Arie besondere Bedeutung beigemessen.

Gebt mir meinen Jesum wieder!

Seht das Geld, den Mörderlohn,

Wirft euch der verlorne Sohn

Zu den Füßen nieder,

Gebt mir meinen Jesum wieder!

Die Arie erklingt nach der Reue des Judas, der Rückgabe der dreißig Silberlinge und dem Selbstmord des Judas, also an einer bedeutenden Stelle der Passion. Neumeiers choreografische Notizen erschließen die Komposition mit empathischem Blick in eine aufgewühlte Seelenlandschaft, deren geradezu sinnliche Qualitäten der Musik vom Choreografen abgelauscht werden: „Es ist eine tänzerisch schwere Variation von vitalen Sprüngen, Bewegungen, die den Körper auseinanderreißen, und mit raschen Richtungswechseln, in denen sich die innere Zerrissenheit, Sehnsucht und verzweifelte Bitte spiegeln. Jemand weiß nicht mehr, wohin er gehen, wohin er sich wenden soll in seinem Schrei nach Erlösung und seinem Versuch, die Tat rückgängig zu machen und die Schuld zu tilgen“. Es ist ein vergeblicher Versuch, gewiss. Dennoch bleibt es staunenswert, dass das gemeinsame G-Dur Jesus und Judas als Brüder im Leiden erscheinen lässt, von denen jeder – der absolut Gute wie der ultimativ Böse – als Gegenpol des anderen an diesen gefesselt bleibt beziehungsweise einer des anderen Alter Ego ist. Wenn schließlich in Neumeiers Choreografie Jesus auf Judas zuschreitet und ihn küsst, der Judaskuss also nach seinem Adressaten neu definiert wird, dann scheint die Legende von dem e i n e n Modell Leonardos für Jesus u n d Judas eindrucksvoll beglaubigt zu werden.

Dem Entsetzen täglich in die Fratze sehen

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