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Böses Theater

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„Euch schelte ich nicht grausam, Elemente“ – „I tax not you, you elements, with unkindness“: Denn ihr schuldet mir nichts, anders als meine Töchter, denen ich meine Krone schenkte … So hadert König Lear mit der Welt und lädt Blitz und Donner ein, sein greises Haupt zu versengen. Nicht die Natur ist böse, nur der Mensch, der aus ihren Keimen entsteht. Und freilich – wer das Böse ausrotten will, muss alle diese Keime, muss den Menschen selbst vernichten.

Auch bei Shakespeare, dem Vater verheerender Missetäter, schurkischer, hinterhältiger und abgrundtief arger Charaktere, ist der Mensch der Anlage nach, wurzelhaft – ‚radikal‘, wie Kant sagt – böse. Kann aber die Natur selbst ‚böse‘ sein? Ist ein Vulkanausbruch ‚böse‘, ist es der Tsunami? Ist der Tod ‚böse‘? Nein, die naturentsprungenen Gewalten, die uns bedrohen, mögen schlimm sein, aber böse sind sie nicht. Wie inflationär der Wortgebrauch, der alles und jedes, was uns wehtut und bedrängt, als ‚böse‘ zu bezeichnen beliebt, auch sei, ich neige zu der Auffassung: Das Böse ist menschlich und nur zwischen Menschen trägt es sich zu. Es ist Menschenwerk. Und nur deshalb und als solches ist es möglicherweise überwindbar. Erst recht im Drama; und wo ich vom Drama erzähle, rede ich über die Welt. Freilich, es gibt auch die Dramatik der aggressiven Verzweiflung, deren Helden nach dem Motto handeln: „Die Welt ist böse, also bin ich’s auch“. Doch selbst im schwärzesten Schauerdrama dieser Sorte ist das Böse hausgemacht: Christian Dietrich Grabbes Herzog Theodor von Gothland wird durch eine Intrige dazu gebracht zum Schlächter und Mörder zu werden, der im Kampf mit seinem Gegner und Alter Ego Berdoa ganze Heerscharen und Völker ins Verderben stürzt. Er macht Gott und die Schöpfung für seine Untaten verantwortlich: „Ich war nur das Beil. Das Schicksal war der Mörder.“ Aber am Ende verreckt er als wimmernder Gewissenswurm so wie Schillers Franz Moor. Gothland ist ein Monster, ein Psychopath, dem zu viel Macht gegeben ist. An ihm wird die Problematik des Tyrannen offenbar, der einen unaufhaltsamen Amoklauf des Bösen in Gang setzt, die Problematik von Masse und Macht. Ob durch Befehlsgewalt oder Demagogie veranlasst, das Böse, einmal in die Wirklichkeit getreten, beginnt sich zu verselbständigen. Marc Antons Forumsrede endet mit den Worten: „Nun wirk es fort, Unheil, du bist am Zuge. Nimm welchen Lauf du willst.“ Es gibt einen Mechanismus des Bösen, der sich von seinem Urheber ablöst: „Das eben ist der Fluch der bösen Tat/Dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.“ (Schiller, „Die Piccolomini“). Nicht die Monster selbst sind auf die Dauer interessant, die abstruse Abweichung vom Humanen, sondern die Faktoren, durch die das Böse um sich greift. Wo das abweichende zum konformen Verhalten, wo das konforme Verhalten, das im Friedensfall Verbrechen verabscheut und geahndet sehen will, selbst mörderisch wird: in der Kriegsmeute, in der Rotte der KZ-Aufseher. Der Wechsel vom einen zum anderen, Dynamik und Konsequenz des Bösen, die Einbezogenen und Mitwirkenden sind dramatisch ergiebig; kein echter Dramatiker wird allein bei der Zeichnung eines Charakters verharren. Und jedes Böse braucht ein Gegenspiel. Das Nur-Böse ist undramatisch, man wird seiner bald überdrüssig. Es ist eine Binsenweisheit, dass das Böse von Gegenspielern (auch Gruppen, Stämmen und Völkern) mit Eigeninteressen unterschiedlich wahrgenommen wird – als ein Überkreuz von Gut und Böse, und dass der jeweils Betroffene es ganz anders erlebt und bewertet als der Verursacher. Daraus ergeben sich die Konstellationen des Dramas, aus denen heraus sich eine unendliche Vielfalt von Stoffen, Motiven, Vorgängen zeigen lässt. Das Theater ist ihr Panoptikum, ein Kaleidoskop des Lebens, in dem das ‚Böse‘ in allen Erscheinungsformen und Schattierungen sichtbar wird; das bedient die Sensationsgier, aber auch das ebenso menschliche Bedürfnis nach Auflösung tragischer Widersprüche. Oder, und das zurzeit sehr häufig, es stellt die Verirrungen unserer Welt dar und entlässt die Zuschauer ratlos. Doch als böse kann nur das dargestellt werden, was Ethik und moralische Verpflichtung zum Gegenspiel hat und als Horizont voraussetzt.

Doch je länger ich versuche, dem Phänomen des Bösen im Theater nachzugehen, desto mehr entzieht es sich dem Wunsch, etwas Einheitliches zu finden. Desto länger wird die Prozession der menschlichen Schatten, die durch mein Kopftheater zieht: Gestalten über Gestalten. Da hinken und flattern Teufel und Dämonen vorüber, mythische Unholde, allegorische Figuren, Masken, hinter denen der Schauspieler verschwindet, Mörder und Brunnenvergifter. Der Schurke, der sich offen zu seiner Haltung bekennt und in der Lage ist, jedwedes schlechte Gefühl abzuschütteln – so wie Richard III., dem es einfach bestimmt ist, böse zu agieren („I am determined to prove a villain.“): Meine Missgestalt veranlasst mich dazu. Ich bewähre mich als Monster. Aus der Not wird freiester Wille, Wille zur Macht. Der Mangel an Charme, an positiver Ausstrahlung wird durch die Faszination des Bösen ersetzt, der vor keiner Schandtat zurückscheut: Ich weiß, dass es böse ist. Aber es ist mir gemäß.

Solche Figuren auf die Bühne zu bringen, ist natürlich ein Genuss für den Schauspieler. Da verweigern sich nur die sogenannten Sympathieträger. Das Teuflische, Pathologische und Gerissene ist in jeder Verkleidung eine dankbare Rolle. Sie frisst nicht allzu sehr am eigenen Seelenhaushalt, die Lust an der eigenen Bosheit ist natürlich gut und gut sichtbar darstellbar; das mimetische Vergnügen überwiegt. Bei Goethe, übrigens, ist das Böse ein Aktivposten für den Fortschritt und die menschliche Bewährung; Mephistopheles, der Neinsager, Verführer, Herausforderer, ist genau das, wogegen er sich immer wehrt: ein Werkzeug Gottes.

Interessanter aber wird es für den Schauspieler, wenn er das Innere der Figur nicht nach außen kehren darf, wenn das Böse, das als böse nicht kenntlich ist, im Gegenteil hinter der Ehrbarkeit lauert. Wenn ein treuherziger Kerl sich als abgefeimter Halunke entpuppt? Der große Regisseur Rudolf Noelte wollte Uwe Friedrichsen den Jago spielen lassen. Die Schurkendarsteller mit der Gangsterphysiognomie sind im wirklichen Leben oft friedliebende, anständige Kerle, und die Giftmischer hinter den Kulissen taugen oft nicht für die Verbrecher in ihnen; sie sind nur unerträgliche Kollegen und oft in Lustspielen sehr beliebt. („Lauter böse Komiker“, erzählte mir ein Freund über eine Burgtheater-Aufführung.) Und eine starke Herausforderung stellen die gebrochenen, von ihrem Gewissen verfolgten Charaktere an den Schauspieler. Unsere Verhaltensmuster, die – seien sie angeboren, kulturell bedingt oder durch Erlebnisse gespeist – ermöglichen, dass wir uns die grausamsten Affekte und Handlungen vorstellen können, sind auch das Erbgut des Schauspielers, für den eine reiche und verzweigte Fantasie ein Qualitätsmerkmal, ja eine conditio sine qua non ist. Die von ihm dargestellte Person denkt und handelt zudem in effigie; das hat der Mime vorbereitend so lange geprobt, dass er bei seinem Auftritt die jeweilige Situation an ihrem Ort jederzeit abrufen und wiederholen kann. Es ist nicht ganz falsch, wenn man ihn hier als Artisten, als Sportler betrachtet. Und die seelische Spannung des Schauspielers, der sich über die Folgen des Bösen, das er in die Welt setzt, nicht viele Gedanken machen muss, ist nicht bei jedem gleich. Es gibt „Techniken“ der Darstellung, die den Zuschauern den Atem stocken lassen, bei deren Einsatz der Darsteller jedoch ungerührt bleibt, vielleicht sogar amüsiert über seine Wirkung sein kann. Wie stark sich der Schauspieler innerlich beteiligt, ob er eine Entdeckungsreise ins eigene Ich wagen muss, ist auch eine Frage der Spielweise.

Dem Entsetzen täglich in die Fratze sehen

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