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Ingrid Riedel

Vom Umgang der Märchen mit dem Bösen

Dass das Böse, das in den Märchen schonungslos wird, richtig Angst machen kann, wurde mir wieder bewusst, als wir im Freundeskreis ungeplant auf das Thema Märchen zu sprechen kamen: „Mir wird heute noch unheimlich, wenn ich an den Wolf denke, der die Großmutter verschlungen hat und jetzt auch noch auf Rotkäppchen lauert.“ So in der Erinnerung einer Frau, wenn sie an die Märchen ihrer Kindheit denkt. Oder eine andere: „Mir graut vor allem vor der Stiefmutter Schneewittchens, die es aus Neid wirklich umbringen will und es überall hin verfolgt – und noch dazu mit dieser gemeinen Verstellung und List, als meine sie es gut mit ihm.“ Und schließlich meldet sich eine männliche Stimme in der Runde: „Am unverzeihlichsten finde ich den Blaubart, der die Frauen an sich bindet, um sie töten und seiner Sammlung einverleiben zu können.“

Die Märchen und das Böse, das Kindern von klein auf Angst macht?

Ganz einfach ist das Thema nicht. Geht es denn nun letztlich gut oder böse aus in den meisten Märchen? Hat es wirklich Sinn, Kindern mit den Märchen Angst zu machen – vielleicht, damit sie nie mehr vom rechten Weg abkommen, worauf sich Rotkäppchen am Ende des Märchens ja verpflichten muss, nachdem es immerhin schon im Bauch des Wolfes war?

Gewiss, die Protagonistinnen und Protagonisten eines Märchens werden am Ende fast immer gerettet und sei‘s wie durch einen Tod hindurch, wie eben bei „Rotkäppchen“ oder auch bei „Schneewittchen.“ Oder sie werden gerettet durch ihren Löwenmut, der sich mit dem Bösen konfrontiert, aber auch durch List und gelingende Flucht, wenn das Böse übermächtig erscheint und noch nicht besiegt werden kann. Dann werden Heldin und Held zwar gerettet, aber das Böse, das in wechselnden Formen von Eifersucht bis Machtgier und Vernichtungswunsch erscheint, bleibt in diesen Märchen unverwandelt. Allenfalls wird es letztlich verbrannt wie die Hexe bei „Hänsel und Gretel“, oder es muss sich in glühenden Schuhen zu Tode tanzen wie in „Schneewittchen“ oder wird von den wütenden Brüdern der zu Tode erschreckten Ehefrau des Blaubart schließlich erschlagen. Das Böse bleibt in diesen Märchen unverwandelt bis zuletzt, kann allenfalls eliminiert werden, während Held und Heldin sich retten, durch Überlistung des Bösen, durch Flucht oder auch durch den Beistand stärkerer Kräfte, als sie selbst sie hätten.

Bei genauerem Zusehen entdeckt man aber überrascht, dass es neben diesem einfacher strukturierten Märchentyp, der nur Rettung vor dem Bösen kennt, auch noch einen differenzierter strukturierten gibt, und dies durchaus auch in der Grimm’schen Märchensammlung, darüber hinaus aber überall in der Weltliteratur der Märchen: den Märchentyp, der die Wandlung des Menschen in der Begegnung mit dem Bösen kennt und außerdem die Wandlung des Bösen selbst.

Manchmal bin ich versucht, nur diesen differenzierten Märchentyp für die eigentliche, die ausgereifte Gestalt eines Volksmärchens zu halten, das deshalb durch Jahrhunderte hindurch immer weitererzählt wurde, weil es eine unschätzbare Lebenserfahrung und Lebensweisheit im Umgang mit dem Bösen weitergibt.

Hier kommt es nicht mehr nur darauf an, Held und Heldin vor dem Bösen zu bewahren und daraus zu erretten, sondern da geht es darum, dass sich diese Menschen in der Begegnung mit dem Bösen erst selber kennenlernen, dass sie daran wachsen, ja über sich hinauswachsen. Sie begegnen in der Berührung mit dem Bösen zugleich sich selbst, oft auch mit dem potenziell Bösen in ihnen selbst. So können sie überhaupt erst eine Phantasie für das Böse entwickeln, das sie dringend brauchen, um nicht in ihrer Naivität von diesem überlistet zu werden. Es kommt darüber zur Entwicklung und Wandlung der Person. Die männlichen oder weiblichen Protagonisten solcher Märchen werden in der Begegnung mit der jeweiligen Gestalt des Bösen – als Blockierendes, Gefährdendes, Bedrohendes – erst im wahren Sinne des Wortes zu Helden, die über sich hinauswachsen. Dabei werden verschiedene Möglichkeiten, dem jeweils Bösen zu begegnen, durchgespielt: es überhaupt wahrzunehmen, es zu durchschauen, um sich dann mit ihm konfrontieren und auseinandersetzen zu können, es zu überlisten, wenn es allzu gefährlich erscheint, oder es durch eine gelingende Verwandlungs-Flucht hinter sich zu lassen. All diese Formen entwickeln, verändern und erweitern den Menschen. In den Märchen der differenzierten Struktur verändert sich mit dem Verhalten der Menschen auch das, was sie zuvor als „böse“ erlebten oder dieses Böse löst sich selber auf. Der Teufel zerplatzt, der die gärende Milch trinkt, die dem flüchtenden Menschenpaar in jenem Märchen die Rettung ermöglichte.

Die große Zahl der differenziert strukturierten Märchen verleiht dem Bösen eine besondere Funktion im Entwicklungs- und Wandlungsprozess der menschlichen Psyche, dargestellt jeweils an den Hauptfiguren eines Märchens, deren Weg in der Begegnung mit dem Bösen geschildert wird.

Die Märchen zeigen uns Beispiele, an denen die jeweiligen Zuhörer und Zuhörerinnen bei der Märchenerzählung miterleben können, wie man wann mit welchem Bösen umgehen und die jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen unseres Bewusstseins richtig einschätzen kann. Wer dem Bösen gegenüber zu unbewusst, zu naiv bleibt, ist leicht verloren. Die jeweilige Situation muss klar gesehen werden: „Sieh hinter dich. Was oder wer verfolgt uns da?“ So wird man lernen, wie eine Verwandlungsflucht gelingt.

Die Ethik, die wir im Märchen vorgelebt finden, ist, wie Verena Kast einmal sagt (Kast/Jacoby/Riedel, „Das Böse im Märchen“, Fellbach 1978, 44) eine „Weg-Ethik“ oder eine Ethik des Unterwegsseins. Das Märchen schildert jeweils eine bestimmte Lebenssituation, oftmals sogar eine sehr gefährliche, in der die Heldin und der Held spontan entscheiden müssen. Das Handeln ist nicht durch bestimmte Normen für Gut und Böse vorgegeben. Es muss vielmehr in den unvorhersehbaren Situationen so entschieden werden, dass Heldin und Held auf ihrem Weg bleiben, ja, ihn vielleicht erst wirklich finden können. Gerade die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Bösen bewirkt die Entwicklung und Wandlung der jeweiligen Protagonisten hin zu wirklichen Märchenheldinnen und Märchenhelden. Diese Wandlung verwandelt jeweils das Böse mit, und so verändert sich die ganze, meist notvolle Ausgangssituation des Märchens und verweist jetzt in eine offene Zukunft mit neuen Entwicklungschancen. So lehren die Märchen der differenzierten Strukturform einen Umgang mit dem Bösen – vom Flüchten bis zum Standhalten und Überwinden. Ein Respektieren, ein Nicht-Verharmlosen des Bösen gehört zu den Grundvoraussetzungen eines gelingenden Umgangs damit. Hierher gehört auch der Umgang mit Tabuisiertem, mit Familiengeheimnissen, die sich im Märchen oft im Symbol eines verbotenen Zimmers finden. Es wird trotz des Verbotes in all diesen Märchen geöffnet und das unter tiefem Erschrecken und nicht geringem Leiden. Aber mit dem Mut, der Wahrheit standzuhalten, wird manches Verdrängte langsam bewusst und auflösbar, so in „Bekennst du“, einem norwegischen Märchen, wo der Tote im geöffneten Tabuzimmer der Heldin noch einmal den verdrängten Tod ihres Vaters, den Tod durch Suizid, hilfreich zu Bewusstsein bringt.

Anderswo werden wilde Tiere (wie in dem Grimm’schen Märchen „Die beiden Brüder“) zu schützenden Begleittieren für die Jäger, die sie verschonten. Der Wald selber, in dem der Wolf wohnt, kann als verschlingendes Dunkel, aus dem es keinen Ausweg gibt, erlebt werden, aber auch als schützender Raum, wie für Allerleirau, in dem sich die Heldin vor dem sie verfolgenden, begehrenden Vater geschützt weiß, bis die Zeit reif wird für ihre Verwandlung in die vom König umworbene Geliebte.

Auch die Prinzessin, meist eine Verkörperung des sehnsüchtig gesuchten Guten und Schönen, kann – wie in dem Märchen „Die verwünschte Prinzessin“ – selbst böse, ja mordlustig sein, wenn ein Freier ihre selbst erfundenen Rätsel nicht zu lösen vermag. Doch schildert sie das Märchen als „verwunschen“, also als erlösungsbedürftig und erlösungsfähig. Das wahrhaft Böse ist der Berggeist, der sie beherrscht und von dem sie sich beherrschen lässt. Von ihm muss sie sich ablösen oder ablösen lassen, von dem Mann, der sie liebt. Auch Könige können in diesen Märchen, genau wie Königinnen, bitterböse sein. Mit allen Mitteln sucht der König in „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“, den Helden aus dem Weg zu räumen, der aber ein Glückskind ist, sodass selbst des Teufels Großmutter ihm helfen muss.

So können auch Hexen (wie die Baba Yaga), die durchaus furchterregend sind, eine hilfreiche Seite zeigen, wenn man den richtigen Ton im Umgang mit ihnen trifft. Wassilissa, die junge Frau, etwa antwortet auf die Rückfrage, wer sie sei, die ihrem Bereich so nahe gekommen ist: „Ich bin es, Großmütterchen“. Darauf zeigt ihr die Baba Yaga auch wirklich ihre großmütterlichen Züge, die sie ja auch hat. Die gute Seite selbst im Gefährlichen zu erkennen und zu wecken: Das ist die hohe Kunst im Umgang mit dem Bösen, so wie sie uns die Märchen lehren und vor Augen führen.

Was ist es eigentlich, das die Märchen das „Böse“ nennen? Es ist gewiss noch nicht das, dass die Märchenhelden andauernd verschiedene Verbote übertreten, wie es der Held in „Der goldene Vogel“ unentwegt tut, obgleich die Gebote von seinem besten Freund, dem Fuchs, herkommen. Nein, gerade das Übertreten der Verbote bewirkt oftmals Einsicht und Veränderung. Die Märchen der differenzierten Struktur verfolgen keine Schwarz-Weiß-Malerei. Ganz im Gegenteil.

So differenziert das Verständnis des Bösen ist, so differenziert ist auch der Umgang damit, den die Märchen kennen. Einem Drachen kann man nicht mehr gut zureden, da gilt nur die offene Auseinandersetzung. Man muss dazu aber auch die eigene Fähigkeit zur Aggression voll zur Verfügung haben, sonst ist der Drache stärker. Anstelle des direkten Kampfes gibt es aber auch die List, die man auch nur durch Einfühlung in die Absichten des Bösen gewinnt, also letztlich durch den Kontakt mit „bösen“ Regungen in einem selber. So kann Gretel die Hexe überlisten, indem sie vorgibt, sie wisse gar nicht, wie man in den Ofen gelangt. Die genervte Hexe muss es ihr vormachen – und Gretel wirft die Ofentüre zu, als sie drinnen ist. Das tapfere Schneiderlein klettert auf einen Baum, als die Riesen ihm nachstellen, hat dadurch Überblick und beginnt, die Riesen mit Steinen zu bewerfen. Außerstande die wahre Ursache zu erkennen, beschuldigen die Riesen einander der Aggression und fallen übereinander her, während das Schneiderlein fein heraus ist. List und Ablenkung gegenüber Riesenaggressionen, wie sie die Riesen darstellen können, sind hier befreiend. Hilft weder Gegengewalt noch List – wenn man die Macht des jeweils Bösen richtig einschätzt samt der eigenen Widerstandskraft –, dann hilft oft nur die Flucht, vor allem die sogenannte „Verwandlungsflucht“, die das verfolgende Böse in die Irre leitet. Die Verwandlungsflucht wird notwendig, wenn der Komplex, der als das Böse empfunden wird, so stark ist, dass das gewonnene Bewusstsein vom Bösen sich dem noch nicht zu stellen vermag, ohne in Gefahr zu geraten, selbst wieder vom Komplex verschlungen zu werden. Auch bewusstes Durchleiden, oft in großer Einsamkeit, ist ein Weg, der Verdrängtes, seinerzeit nur als Böses erlebtes, zu verarbeiten verspricht. Bei solchen Themen gewinnen die Märchen der differenzierten Strukturform eine große Tiefe im Wissen um das Leben. Wegen dieses einzigartigen Wissens wohl, in Erzählung gekleidet, die Miterleben, Mitleiden und Freiwerden ermöglicht, wurden diese Märchen wohl durch Jahrhunderte hin immer wieder neu erzählt. Weil man sie brauchte. Wirklich. Weil man sie brauchte.

Dem Entsetzen täglich in die Fratze sehen

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