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Malum – das Mysterium schlechthin

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Malum. Das Böse. Ungezählte Fachbereiche und Forschungsrichtungen suchen ihm seit Menschengedenken auf die Spur zu kommen: Philosophie und Theologie, Ethnologie und Kriminalistik, Psychoanalyse und Verhaltensbiologie, Humangenetik, Sozialisationsforschung, Psychopathologie und viele mehr. Aus ihrem Blickwinkel und mit ihren Methoden möchten sie dem Befund je und je näher kommen. Auch die Beiträge der vorliegenden Anthologie dienen der Konfrontation und der konkreten Auseinandersetzung mit der Thematik des Bösen, sei es in unterschiedlichsten Bereichen der Kultur und der Gesellschaft, sei es unter Gesichtspunkten der Psycho- und Soziogenese sowie der Philosophie und Theologie.

Doch wäre es vermessen, auch nur von einer Disziplin des wissenschaftlich reflektierten Zuganges erwarten zu wollen, dass sie den Geheimnischarakter des Bösen auflösen könnte. Es wird am Ende immer ein dunkler Rest, sozusagen eine Art „black box“ übrig bleiben, und auch ein noch so messerscharfer Intellekt und eine noch so hellsichtige Intuition werden es, das Böse, nicht aus dieser Welt vertreiben können. „Den Bösen sind sie los“, heißt es wohlweislich und weise im „Faust“, „die Bösen sind geblieben.“ In der Weltpolitik und zwischen den Völkern, in den Städten und in den Dörfern. Und auch zwischen den Menschen und im einzelnen Menschen selbst. Es gibt sie noch. Es gibt sie noch im Übermaß: die Gefängnisse, die Richtertische, die Oberstaatsanwälte, die Kriminalkommissare, die Handschellen. Wie all die anderen Ämter, Praxen, Schiedsstellen, Heime. Und es gibt eine Vielzahl von Theorien dazu: über das Animalische, Radikale, Faszinierende, Erhabene, Banale, Pathologische, Natürliche, Lustvolle, Ästhetische, Gute des Bösen – und was immer auch an Facetten ins Feld geführt werden.6 Wahrscheinlich haben auch unsere Generationen wie unsere Nachkommen erst einmal zu begreifen, dass wir es beim Menschen wie bei der Menschheit in der Tat mit einem Mysterium par excellence zu tun haben. Selbst wenn, ja, weil man die Metaphysik und das religiöse Menschenbild nicht mehr zu seinem Verständnis heranziehen möchte, so bleibt doch der Verdacht: Das Böse steckt in jedem von uns. Das Böse lauert mindestens als Möglichkeit in uns.

„Die Sünde“, heißt es in einer der großen Geschichten aus der Urzeit, „die Sünde lauert vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen. Du aber herrsche über sie.“7

Warum das so ist und wo „die Sünde“ herkommt, sagt die Erzählung freilich nicht. Aber sie sagt immerhin: Sie ist nahe am Menschen. Sie ist in Reichweite – und der Mensch kann sich zu ihr verhalten. Er kann in Verantwortung handeln. Er muss weder zum Täter noch zum Opfer werden. Dass dies trotzdem geschieht, tausendfach an jedem Tag und in jeder Nacht, geschieht, gehört allerdings zu den großen Geheimnissen des Lebens. Der Mensch, der „homo absconditus“ (Helmuth Plessner8), lässt sich – so viel wird deutlich – mit all seinen Höhen und Tiefen, all seinen Licht- und Schattenseiten niemals begreifen. Und oft genug, und nicht nur nach getaner Tat, kann er sich nicht einmal selbst begreifen. Ich bin mir selbst ein Rätsel. Ein Satz, das traurige Resümee, am Ende einer langen tragischen Geschichte.

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