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3. Der Aufbau dieses Handbuchs
ОглавлениеDieses Handbuch bietet verlässliche Informationen und Interpretationen auf dem neuesten Stand der Forschung. Dafür bürgt das international zusammengesetzte Team von Experten und Expertinnnen, das wir als Herausgeber versammelt haben. Um den Zugang auch für Leser ohne jegliche Vorkenntnisse zu erleichtern, bieten wir verschiedene Einstiegspunkte an, die der Leser und die Leserin je nach Vorwissen und Interesse auswählen kann. So vermittelt die erste Sektion einen chronologischen Überblick, der sich auf die Politik fokussiert. Vier Kapitel behandeln den Zeitraum von der Revolution 1918/19 bis zur Zerstörung der Demokratie 1933 für all diejenigen, die sich über die wichtigsten Ereignisse im Verlauf der Weimarer Republik informieren wollen. Die vier Zeitabschnitte in dieser Sektion (1918/19, 1920 bis 1923, 1924 bis 1929 und 1930 bis 1933) sind nicht als feste, in sich geschlossene Einheiten zu verstehen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie in erster Linie politische Zäsuren markieren. Andere Felder der Gesellschaft – genannt seien nur die sozialen Klassen, die Religion und die Massenkultur – folgten dagegen einem anderen Rhythmus, verlangen andere Periodisierungen. Zudem gab es in manchen Bereichen Kontinuitäten, die den gesamten Zeitraum durchziehen. Besonders problematisch ist es, die Zeit von 1924 bis 1928 als Stabilisierungsphase der Republik darzustellen, wie dies oft geschehen ist. Denn gerade in diesen Jahren gab es mit der Herausbildung von kurzlebigen ökonomischen Interessenparteien wichtige Veränderungen im Parteiensystem, und nicht zuletzt kam es zur Entstehung eines nationalsozialistischen Konsenses in der protestantischen Mittelschicht. Gerade in den angeblich ruhigen Jahren der Republik von 1924 bis 1928 formierten sich also wichtige Kräfte und Konstellationen, die schließlich zur Zerstörung der Republik beitrugen.90 Nach dem chronologischen Überblick ist das Handbuch thematisch aufgebaut: Zunächst geht es um die verfassungsmäßigen und strukturellen Rahmenbedingungen der Politik und um wichtige Politikfelder (II.). Danach stehen die Parteien und die sie jeweils tragenden sozialen Milieus im Mittelpunkt (III.). Es folgen Abschnitte zu Wirtschaft und Gesellschaft (IV.) sowie zur Kultur (V.). Die Kapitel des Handbuchs bauen aufeinander auf und beziehen sich oft aufeinander. Zugleich lässt sich jedes von ihnen ohne spezifische Vorkenntnisse für sich lesen und verstehen. Da es kaum von einzelnen Autoren verfasste Darstellungen gibt, die einen ähnlich umfassenden Überblick bieten, ist es uns wichtig, dass dieses Buch allen interessierten Lesern verschiedene Wege in die Geschichte der ersten deutschen Republik bietet.91
Unser Handbuch zeichnet sich durch eine breite Anlage aus, in der eine Fülle von Themen zur Sprache kommt. Dennoch steht die politische Geschichte im weitesten Sinne im Mittelpunkt. Dafür gibt es nach unserer Auffassung gute Gründe. Die Weimarer Republik war ein neues politisches Gemeinwesen und markierte, bei manchen Kontinuitäten wie etwa im Föderalismus, einen tiefen Bruch mit dem politischen System des Kaiserreichs. Die Weimarer Verfassung brachte neue Rechte und Freiheiten, sie versprach soziale Reformen und definierte das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgerinnen und Bürgern neu. Alle Deutschen konnten nun sowohl als Individuen als auch durch die kollektive Vertretung ihrer Rechte und Interessen am politischen Prozess teilhaben. Zum ersten Mal erlaubte es das allgemeine Wahlrecht Frauen und Männern gleichermaßen, als Wähler und als Kandidaten für politische Ämter an der politischen Willensbildung teilzunehmen. Die Versammlungsfreiheit und das Recht, sich zu organisieren, bedeuteten, dass Parteien und Gewerkschaften, Berufsverbände und andere Gruppen ihre kollektiven Interessen vertreten konnten. Damit war eine viel breitere Basis für politische Teilhabe und Interessenvertretung als vor 1914 gegeben. Politik spielte eine entscheidende Rolle in der Weimarer Republik. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Regeln des politischen Spielfeldes neu ausgehandelt werden mussten. Politische Zugehörigkeit war ein wichtiges Element für die Formierung kollektiver Identitäten, besonders in einer Gesellschaft, die so tief gespalten war, wie die der Weimarer Republik. Auf lokaler Ebene trafen Anhänger und Gegner der Republik im Streit um politische Symbole und materielle Probleme aufeinander. In einer Zeit, in der das politische System neu begründet wurde, spielte Politik in jedem gesellschaftlichen Bereich eine wichtige Rolle, auch in der Religion, der Literatur und in den Geisteswissenschaften, wie die entsprechenden Kapitel in diesem Band zeigen.
An dieser Stelle wollen wir kurz auf eine Frage der Nomenklatur eingehen, die oft Missverständnisse hervorruft: die Bezeichnung „Weimarer Republik“. Als die Nationalversammlung Anfang 1919 in Weimar zusammenkam, stand auch der offizielle Name für den neuen Staat zur Debatte. Während die Vertreter der SPD und USPD für „Deutsche Republik“ stimmten, wollten die bürgerlichen Parteien, einschließlich der liberalen DDP, den Namen „Deutsches Reich“ beibehalten. Der liberale Jurist und „Verfassungsvater“ Hugo Preuß stimmte dem zu, mit dem Argument, dass die Bezeichnung „Reich“ die Republik mit dem 1871 begründeten deutschen Nationalstaat verband. Daher erhielt die republikanische Verfassung den Titel „Verfassung des Deutschen Reiches“. Dies veranlasste viele prorepublikanische Organisationen wie zum Beispiel das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold dazu, den Begriff „Reich“ in ihren Namen zu integrieren. So wurde der Terminus „Weimarer Republik“ als abwertende Bezeichnung gerade von jenen geprägt, die dem demokratischen Staat grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden: Es war niemand anders als Adolf Hitler, der in einem Zeitungsartikel im März 1929 als einer der Ersten von der „Weimarer Republik“ sprach und damit einen Begriff für das republikanische System prägte, das er unablässig bekämpfte.92
Unser Handbuch beinhaltet Kapitel über Themen, die selten im Detail behandelt werden, weder in den vorliegenden Gesamtdarstellungen noch in den meisten Sammelbänden zu dieser Epoche. Dazu gehört eine Analyse des politischen Föderalismus und der regionalen Strukturen und Mentalitäten, die von großer Bedeutung für die politische Kultur waren. Vernachlässigt und manchmal ganz übersehen werden auch die anhaltende kulturelle Präsenz der Religion und die Konflikte zwischen den christlichen Konfessionen und deren Auseinandersetzungen mit ihren Kritikern im organisierten Säkularismus. Auch die Bauern und Landarbeiter werden nur selten substanziell behandelt, obwohl fast ein Drittel aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft arbeitete.93 Diese drei Themen haben gemeinsam, dass sie uns an die regionale Verschiedenheit und die räumliche Tiefe von Gesellschaft, Kultur und politischem Handeln in der Weimarer Zeit erinnern. Die Geschichte der Weimarer Republik wird zu oft aus der Sicht der Metropole Berlin geschrieben, ihrer modernen Kultur, ihrem extravaganten Nachtleben und ihrer sexuellen Freizügigkeit, oft verbunden mit mythologisierten Vorstellungen über die Präsenz der „Neuen Frau“ und die Blüte der angeblichen „Goldenen Zwanziger“. Aber Berlin, das gilt es ausdrücklich festzuhalten, lässt sich nicht metonymisch als ein die Weimarer Republik als Ganzes repräsentierender Ort verstehen.94 Im Einklang mit Überlegungen in der neueren Forschung plädieren wir für eine „polyzentrische“ Geschichte der Weimarer Republik.95
Auch ein umfassendes Handbuch wie dieses ist letztlich selektiv. Deshalb gibt es einige wichtige Themen, die hier nicht in einem eigenen Kapitel behandelt werden. Eines davon sind Schulen, Bildung und Erziehung, ein signifikanter Bereich, denn Bildungsreformen waren ein Teil der progressiven Agenda der republikanischen Parteien, und es gab einschneidende Veränderungen. Dazu zählten etwa die Erweiterung der Schulpflicht vom 14. bis zum 18. Lebensjahr und der gemeinsame Unterricht von Schülern verschiedener Konfessionen in den sogenannten „Simultanschulen“ als Norm – von der Ausnahmen möglich waren.96 Kein eigenes Kapitel ist dem Adel gewidmet, einer kleinen, aber sehr einflussreichen Sozialgruppe, die aus rund 90 000 Familien bestand und 0,3 Prozent der Bevölkerung ausmachte. Im republikanischen Staat verlor der Adel viele seiner Privilegien, so etwa die administrative und polizeiliche Gewalt in den preußischen Gutsbezirken, die 1927 aufgehoben wurde. Doch im lokalen Kontext übten adelige Gutsbesitzer weiter soziale und ökonomische Macht aus, in den agrarisch geprägten ostelbischen Provinzen Preußens wie in anderen Teilen Deutschlands. Viele Adelige unterstützten die NSDAP öffentlich, und dieser Einfluss wog besonders in den letzten Monaten der Republik schwer.97 Schließlich haben wir auch dem Film als einem Massenmedium der Weimarer Zeit kein eigenes Kapitel gewidmet. Doch wer sich über Filme, Regisseure und zeitgenössische Rezeption informieren möchte, dem steht eine Reihe von hilfreichen Überblicksdarstellungen bereit.98
Wir sind der Meinung, der Sinn eines Handbuchs liegt darin, das Wissen über ein Thema der Geschichte zu umreißen und zusammenzufassen, nicht jedoch spekulativen Reflexionen über die Bedeutung der Vergangenheit im Lichte gegenwärtiger Zustände Raum zu geben. Wir sehen keinen Wert darin, die „Gespenster von Weimar“ wiederzubeleben, wie es in einem alarmierenden Diskurs geschieht, der die Probleme des parlamentarischen Systems der Gegenwart und den Aufstieg des Rechtspopulismus in vielen europäischen Ländern vor dem Hintergrund des Jahres 1933 interpretiert.99 Die großen Unterschiede zwischen damals und heute – so zum Beispiel die Dominanz des Agrarsektors während der Weimarer Zeit (wie auch in vielen anderen mittel- und osteuropäischen Ländern) und seine Rolle im Aufstieg des rechtsgerichteten Populismus; die begrenzten Eingriffsmöglichkeiten des Staates in die Wirtschaft während der Großen Depression; und, auf die Bundesrepublik bezogen, die Art und Weise, in der sich Politiker, Polizei und die breite Öffentlichkeit schmerzhaft der Probleme bewusst sind, rechtsgerichteten Extremismus im Zaum zu halten – machen solche Vergleiche zwischen den frühen 1930er Jahren und der Gegenwart wenig erhellend.
Es ist wichtig, den Begriff der Demokratie und ihre stets provisorische und vorläufige Praxis zu historisieren, und nicht sinnvoll, die Defizite des parlamentarischen Systems der Weimarer Republik an unseren normativen Grundsätzen zu messen. Der Aufstieg rechtsradikaler populistischer Parteien und die Erosion des Vertrauens in das parlamentarische Regierungssystem waren Probleme, mit denen in den 1920er und 1930er Jahren alle europäischen Länder in unterschiedlicher Form konfrontiert waren. Deutschland war nicht das einzige Land, in dem diese Probleme einer rechtsnationalen Diktatur den Weg bahnten.100 Die Geschichte der Weimarer Republik wirft Fragen zu den historischen Kontinuitäten auf und zu dem, was der Historiker Helmut Walser Smith den „Fluchtpunkt“ der deutschen Geschichte nennt, auf den verschiedene Linien zulaufen.101 Von 1918 aus betrachtet, war 1933 sicherlich nicht der einzige Fluchtpunkt. Die Weimarer Demokratie eröffnete verschiedene Kontinuitätslinien: Zu ihnen zählen die Gründung der Christlich Demokratischen Union 1946, welche die in der Weimarer Zeit erfolglosen Versuche, die politische Spaltung zwischen Protestanten und Katholiken zu überwinden, in die Tat umsetzte; das westdeutsche Grundgesetz von 1949, das auf den Erfolgen und Niederlagen Weimars in der Gestaltung einer partizipativen Demokratie aufbaute; schließlich die Massenkultur – die nun auch das neue Medium des Fernsehens umfasste – und die sexuelle Revolution der 1960er Jahre. In diesem Sinne nehmen einige Kapitel in diesem Handbuch Bezug auf Kontinuitäten, die über 1933 hinausgehen. Kontinuitäten und Brüche müssen in der Geschichte Deutschlands von 1918 bis 1933 sorgfältig abgewogen werden. Dies gilt besonders für den problematischsten Aspekt der deutschen Geschichte, die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden erst in Deutschland und dann in ganz Europa. Ein Experte für die Geschichte des Holocaust hat das so auf den Punkt gebracht: „Vor 1933 flohen Juden eher nach Deutschland als von dort.“102 Weimar zu historisieren setzt beides voraus: Wir müssen erkennen, dass die Entstehung der nationalsozialistischen Diktatur nicht zwangsläufig war, sondern nur ein mögliches Ergebnis unter vielen, für das es im Übrigen bis zur letzten Minute am 30. Januar 1933 Alternativen gab.103 Und wir müssen erklären, welches die Entwicklungen waren, die zu eben diesem Ausgang der Epoche führten.