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1. Eine Revolution im Kontext
ОглавлениеEnde September 1918 kam die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) zu dem Schluss, dass die militärische Situation an der Westfront und auf dem Balkan einen sofortigen Waffenstillstand notwendig mache. General Erich Ludendorff, Generalquartiermeister und treibende Kraft innerhalb der OHL, rief zur Bildung einer neuen, demokratisch legitimierten Regierung auf, die mit dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson Verhandlungen aufnehmen sollte. Trotz seiner bis dahin schroffen Ablehnung innenpolitischer Reformen hoffte Ludendorff nun, die deutsche Armee auf diese Weise als politische Macht retten und die Verantwortung für einen Friedensvertrag zivilen Politikern zuschieben zu können.5 Der öffentliche Druck zugunsten einer Verfassungsreform hatte seit dem oft beschworenen, bei Kriegsausbruch zur Einigung der deutschen Heimatfront ausgerufenen „Burgfrieden“ stark zugenommen.6 Die steigenden Belastungen des industrialisierten Krieges für alle mobilmachenden Gesellschaften offenbarten und vertieften innenpolitische Brüche nicht nur in Deutschland.7 Wirtschaftliche und militärische Entscheidungen der Regierung hatten in Form von Kriegsanleihen, Verlustlisten und Lebensmittelkarten direkte Auswirkungen auf die Bevölkerung. Der in die Länge gezogene Krieg und der zunehmende Mangel an den wichtigsten Gütern begannen die Legitimität des autokratischen politischen Systems Deutschlands zu unterminieren. Die daraus resultierende, weitverbreitete Kriegsmüdigkeit und die sozialen Missstände liefen zwar keineswegs direkt auf ein kohärentes revolutionäres Programm hinaus. Doch sie überschnitten sich mit der Kritik und der politischen Sprache der sich immer stärker Gehör verschaffenden radikalen und sozialistischen Gruppierungen an der Heimatfront. Diese Schnittmenge zeigte sich ganz praktisch in einer steigenden Militanz der Industriearbeiter und bedrohte zusammen mit der Abspaltung der gegen den Krieg opponierenden Unabhängigen Sozialdemokraten von der SPD im April 1917 zusehends die politische Ordnung.
Das bei Weitem gravierendste Zeichen kriegsbedingter Uneinigkeit waren die großen Streiks der Munitionsarbeiter im Januar 1918. Arthur Rosenberg, einer der ersten Historiker der Weimarer Republik, hat sie einst als eine „Generalprobe“ für die Revolution bezeichnet.8 Als ein transnationales Phänomen begannen die Streiks in Österreich mit dem Protest gegen die unversöhnliche Haltung der Mittelmächte bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk mit den russischen Bolschewisten. Die Annexionsforderungen der OHL liefen den Vorstellungen der deutschen Sozialisten zuwider und standen außerdem im Widerspruch zum Narrativ des Burgfriedens, dem zufolge die Mittelmächte einen reinen Verteidigungskrieg gegen den zaristischen Despotismus führten. Mehr als eine Million Arbeiter legten in verschiedenen Industrieregionen des Deutschen Reiches die Arbeit nieder und forderten einen Frieden ohne Annexionen, die Wiederherstellung der bürgerlichen Freiheitsrechte, das Ende der in den Fabriken durch militaristische Methoden und mit der Drohung mit dem Schützengraben erzwungenen Disziplin und eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts, das den Konservativen im Kaiserreich so viel Macht im preußischen Landtag einräumte.9 Sogenannte Arbeiterräte – solche auf Fabrikebene angesiedelten Ausschüsse waren erstmals im Kontext der Streiks des Jahres 1917 gewählt worden – überbrachten diese Forderungen. Die Wortwahl erinnerte an die Sowjets, die Räte der russischen Revolution, und kennzeichnete eine Abkehr von den traditionellen Institutionen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, welche die streikenden Arbeiter wegen ihrer Beteiligung am Burgfrieden für kompromittiert hielten. Die Gerichte gingen drakonisch gegen mutmaßliche Agitatoren und Rädelsführer vor. Etwa 50 000 streikende Arbeiter wurden zum Militärdienst eingezogen, was für weiteren Zündstoff angesichts der ohnehin schwindenden Autorität der Offiziere an der Front sorgte.
Noch im Sommer 1918 war sich Ludendorff sicher, dass ein militärischer Sieg der Mittelmächte die hergebrachte politische Ordnung in Deutschland aufrechterhalten könne. Doch am 5. Oktober wurde der eher liberale Prinz Max von Baden zum Reichskanzler ernannt, und zum ersten Mal in der deutschen Geschichte zogen sozialdemokratische Minister ins Kabinett ein. Noch weitreichender war eine Verfassungsänderung, die den Reichskanzler nun vom Vertrauen der Reichstagsmehrheit abhängig machte. Begleitet von donnerndem Applaus seiner Reichstagsfraktion feierte der Vorsitzende der Mehrheits-SPD Friedrich Ebert im Oktober 1918 die Reformen als den „Geburtstag der deutschen Demokratie“.10 Die Oktoberreformen und das gleichzeitige Waffenstillstandsersuchen schienen die Ursachen der innenpolitischen Unruhen zunächst zu beheben. Doch die Ereignisse der folgenden Wochen rufen Alexis de Tocquevilles Bonmot in Erinnerung, nach dem „der gefährlichste Augenblick für eine schlechte Regierung gewöhnlich derjenige ist, in dem sie sich zu reformieren beginnt“.11 Die Reformen waren den Unzufriedenen zu bescheiden und den Anhängern des Kaiserreiches zu weitgehend. Es wirkte nach außen äußerst unglücklich, ausgerechnet einen Prinzen für das Amt des demokratischen Reichskanzlers ausgewählt zu haben, der sich noch dazu durch politische Ungeschicklichkeit und Selbstüberschätzung auszeichnete.12 Die Parlamentarisierung der deutschen Regierung kam ohne ein die öffentliche Aufmerksamkeit fesselndes politisches Spektakel daher. Die Macht des Militärs blieb allgegenwärtig, und die Lebensmittelknappheit besserte sich nicht: Die „Volksmassen“, wie Rosenberg es ausdrückte, „merkten dabei keinen Unterschied“.13 In dem mit neuen Vollmachten ausgestatteten Reichstag sprach der gewöhnlich eher nüchterne USPD -Vorsitzende Hugo Haase von den tausendfachen Erwartungen der radikalen Linken und forderte, nach Höherem zu streben. „Wir sind davon überzeugt“, erklärte er begeistert, „daß aus all dem Elend am letzten Ende doch hervorgehen wird die volle Befreiung der Menschheit.“14
Bei der nationalistischen Rechten verfinsterte sich derweil die Stimmung. Die „Deutsche Zeitung“, das führende Blatt des Alldeutschen Verbandes, verunglimpfte die Oktoberreformen als einen von dunklen, jüdischen Mächten inszenierten „unblutigen Umsturz“.15 Selbst mildere Gemüter wie der Industrielle und Intellektuelle Walther Rathenau erwogen übermütig einen Volkskrieg gegen die Waffenstillstandsbedingungen.16 Gleichzeitig heckten hochrangige Marineoffiziere den ambitionierten Plan aus, die gesamte deutsche Hochseeflotte in Richtung Großbritannien in See stechen zu lassen und neuen Kriegsenthusiasmus durch einen mitreißenden Waffengang gegen die Royal Navy anzufachen. Am 29. Oktober, einen Tag nach der Verabschiedung der Verfassungsreform durch den Reichstag, wurde der Befehl gegeben. Doch die Operation musste innerhalb von Stunden abgebrochen werden, da Matrosen und Heizer in Wilhelmshaven angesichts dieser selbstmörderischen Mission eine Meuterei anzettelten. Der Aufstand griff auf die Hafenstadt Kiel über. Die Behörden verloren endgültig die Kontrolle, als die Militärpolizei am 3. November auf eine Gruppe von Matrosen und Zivilisten schoss und dabei neun Menschen tötete und zwanzig verwundete. Als der Wehrexperte der Mehrheits-SPD, Gustav Noske, zu Verhandlungen mit den Meuterern nach Wilhelmshaven reiste, begrüßte ihn eine Menschenmenge mit den optimistischen, wenn auch verfrühten Rufen „Hoch lebe die Republik“.17
Die Meuterei der Matrosen inspirierte ähnliche Aufstände in den Ost- und Nordseehäfen Lübeck, Bremen, Cuxhaven und vor allem in Hamburg, Deutschlands zweitgrößter Stadt.18 Eine Gruppe Kieler Matrosen reiste mit dem Zug zunächst in die Nordseestadt und in den folgenden Tagen weiter durch das gesamte Reich, um als begeisterte Verfechter der Revolution an weiteren Aufständen teilzunehmen.19 Darstellungen der Novemberrevolution vergleichen ihre „Ausbreitung“ von der Ostsee über das gesamte Reichsgebiet häufig mit einem „Feuer“ oder einer „Flut“, manchmal sogar mit einer „Lawine“.20 Doch diese fatalistische Metaphorik wird der jeweils lokalen, vor Ort entstehenden Dynamik einer Volksmobilisierung gegen Krieg und Autoritarismus nicht gerecht. Weit im Süden des Reiches wurde am 7. November, als sich die Aufstände in Hamburg ausbreiteten, Bayerns altehrwürdige Wittelsbacher Dynastie in München gestürzt. Ein Kontingent Matrosen war aufgrund der Unruhen in Kiel in der bayerischen Hauptstadt gestrandet, doch sie hatten an den revolutionären Planungen in München keinen Anteil. Der Journalist und USPD -Vertreter Kurt Eisner hatte sich aufgrund der für den Folgetag angekündigten verfassungsrechtlichen Zugeständnisse zur Deeskalation schon vorher entschlossen, eine geplante Anti-Kriegsdemonstration auf der Theresienwiese als Sprungbrett für die Revolution zu benutzen.21 Auch in Frankfurt am Main war die Anwesenheit von Einheiten uniformierter Matrosen bei den örtlichen revolutionären Geschehnissen, bei denen Unabhängige Sozialisten und Fabrikarbeiter eine Vorreiterrolle spielten, eher dekorativer Natur.22 In Berlin, einem Nachzügler der Revolution, scheiterte von Badens letzter Versuch, die Eisenbahnverbindungen in die Stadt abzuriegeln, denn hier waren die Revolutionären Obleute die treibenden Kräfte der Ereignisse und nicht die Soldaten. Dieses Netzwerk militanter Fabrikarbeiter hatte sich in Opposition zur Burgfriedenspolitik der Gewerkschaften zusammengeschlossen und spielte bei den Munitionsarbeiterstreiks während des Krieges eine führende Rolle. Die Meuterei des in Berlin stationierten Naumburger Jäger-Bataillons am 9. November, dessen Ergebenheit zum Haus Hohenzollern angeblich ihresgleichen suchte, besiegelte Wilhelms Schicksal. Max von Baden gab die Abdankung des Kaisers bekannt, ohne ihn vorher auch nur konsultiert zu haben. Berlins rührige Presse sorgte dafür, dass sich diese Nachricht, die wie eine Bombe einschlug, innerhalb von 15 Minuten in der ganzen Stadt verbreitete.23
Am selben Tag übertrug von Baden dem MSPD -Vorsitzenden Friedrich Ebert das Amt des Reichskanzlers. Ein Rat der Volksbeauftragten mit jeweils drei Mitgliedern von MSPD und USPD, unter dem Vorsitz von Ebert und Haase, wurde gebildet und führte vorübergehend die Regierungsgeschäfte. Die deutsche Linke hoffte, damit ein Signal für die Überwindung der Spaltung der sozialdemokratischen Bewegung auszusenden. Der Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrates Groß-Berlin bestätigte den Rat der Volksbeauftragten als provisorische Regierung. Die Doppelrolle als Reichskanzler und Mitvorsitzender des Rates der Volksbeauftragten machte Ebert zur Schlüsselfigur, wobei seine Amtsbefugnis in der Praxis unklar blieb. Die Übergabe des Reichskanzleramtes an Ebert verstieß technisch gesehen gegen Artikel 15 der Reichsverfassung, nach der nur der Kaiser den Reichskanzler ernennen konnte.24 Der Anspruch des Vollzugsrats der Berliner Räte, eine reichsweite Rätebewegung zu vertreten, war eher zweifelhaft. Auf ihrer Versammlung am 9. November forderten sie außerdem die Sozialisierung des industriellen Sektors und eine Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem bolschewistischen Russland, was weit über Eberts mutmaßliches Übergangsmandat hinausging.25 Die wichtigsten revolutionären Maßnahmen – die Wiederherstellung der bürgerlichen Freiheiten, die Aufhebung der Gesindeordnung und der Gesetze, welche die Landarbeiter in ihren persönlichen Freiheiten beschränkten, sowie das Versprechen eines allgemeinen Wahlrechts – wurden am 12. November schlichtweg proklamiert. Am 15. November, nach Verhandlungen zwischen deutschen Industriellen und Gewerkschaften, gab die Übergangsregierung die Einführung des Achtstundentags, eine langjährige Forderung der Arbeiterbewegung, als Teil des sogenannten Stinnes-Legien-Abkommens bekannt. Dies waren in der Tat bedeutende und dauerhafte Errungenschaften, doch konnten sie die Gräben innerhalb der deutschen Linken nicht überbrücken. Dass am 9. November die Republik gleich zweimal ausgerufen wurde – einmal durch den Mehrheits-Sozialdemokraten Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstages und zeitgleich durch den Radikalen Karl Liebknecht vor dem Berliner Stadtschloss – verhieß nichts Gutes für die Harmonie innerhalb der revolutionären Bewegung. Der britische Premierminister David Lloyd George warnte sein Kriegskabinett am nächsten Tag, dass die Ereignisse in Deutschland „einen ähnlichen Verlauf nehmen wie die in Russland.“26