Читать книгу Aufbruch und Abgründe - Группа авторов - Страница 8
1. Weimar als Krise: Interpretationen von 1950 bis 1990
ОглавлениеIn der Zeit nach 1945 warf der Untergang der Weimarer Republik einen langen Schatten auf die ersten Versuche, die Geschichte Deutschlands von 1918 bis 1933 zu schreiben. Weite Teile der westdeutschen Öffentlichkeit hegten in den 1950er Jahren noch einen starken Widerwillen gegen die Rolle der Parteien im parlamentarischen System und die parlamentarische Demokratie insgesamt. In diesem schwierigen politischen Klima waren es renommierte Politikwissenschaftler wie Karl Dietrich Bracher und Kurt Sontheimer, die als Erste die kritische Analyse der Weimarer Republik mit einer eindeutigen normativen Unterstützung für die parlamentarische Demokratie verbanden. In seiner bis heute immer wieder zitierten Studie aus dem Jahr 1955 war Bracher zum einen dem Ansatz der Totalitarismustheorie verpflichtet, mit dem er die zweigleisige Attacke der radikalen Flügelparteien KPD und NSDAP gegen die Republik analysierte. Neben dem antirepublikanischen Geist der Eliten in Justiz, Bürokratie und Reichswehr war Brachers anderes großes Thema der Machtmissbrauch durch die Präsidialregierungen seit 1930 und die verhängnisvolle Wirkung des Artikels 48 der Reichsverfassung, die ihn ermöglicht hatte.10
Erst als 1956 der Schweizer Journalist Fritz René Allemann die beruhigende Formel „Bonn ist nicht Weimar“ prägte, wurde Weimar als ein negatives Schreckbild etabliert, von dem sich die Errungenschaften der Bonner Republik positiv abhoben.11 In diesem politischen Kontext stellten namhafte Historiker der Bundesrepublik jene grundlegenden Interpretationen bereit, die bis Anfang der 1990er Jahre in hohem Maße den Rahmen für die einschlägige Detailforschung absteckten und die historischen Narrative prägten.12
Das wichtigste Anliegen all dieser Studien war es, das Versagen und letztendliche Scheitern des demokratischen Systems zu erklären. Daher überrascht es nicht, dass die Politikgeschichte hier ganz im Mittelpunkt stand und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte nur ganz knapp skizziert wurden, und auch das vor allem, um politische Entwicklungen zu erklären. Der Politikgeschichte stehen im Allgemeinen verschiedene Ansätze zur Verfügung. Doch in den zentralen Studien zu Weimar dominierte der Blick „von oben“, kamen vor allem die politischen Eliten und die zentralen Institutionen wie das Reichskabinett zur Sprache. In einer 1989 erschienen Zusammenfassung seiner langjährigen Forschungsarbeit stellte Hans Mommsen die „verspielte Freiheit“ ins Zentrum und gab der liberalen bürgerliche Elite die Hauptschuld für den moralischen und politischen Bankrott der Republik.13 Mommsen attackierte ebenso die überalterte und „verknöcherte“ Führung der SPD und der mit ihr verbündeten Freien Gewerkschaften, deren Mangel an politischer Flexibilität sie daran gehindert habe, die Demokratie effektiv zu verteidigen.14 Doch die volle Wucht seiner Kritik richtete Mommsen gegen das Bildungsbürgertum, also jene Schicht, welche die universitär ausgebildeten Professionen der Ärzte, Rechtsanwälte, protestantischen Pfarrer, Gymnasiallehrer und nicht zuletzt die Studenten und Hochschullehrer umfasste. Mommsen identifizierte die Angst vor einem Statusverlust als das zentrale Problem, das diese Gruppe in den 1920er Jahren erschütterte und ihr Selbstvertrauen untergrub, ja sogar zu einer „Auflösung des Bürgertums“ insgesamt führte. Auf jeden Fall gaben die Bildungsbürger ihre traditionell liberale Haltung auf und wandten sich „antiliberalen Einstellungen“ und einem „politischen Irrationalismus“ zu. Dass gerade diejenigen die liberalen Prinzipien im Stich ließen, deren historische Aufgabe es gewesen wäre, sie zu verteidigen, habe den Nationalsozialisten in die Hände gespielt.15 Mommsen hat auch wegweisende Studien über die Sozialgeschichte der Arbeiterschaft verfasst, und so ist es verwunderlich, dass er dem Bildungsbürgertum, einer sozialen Gruppe, die in den 1920er Jahren weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte, eine so fundamental bedeutsame Rolle beim Untergang der Weimarer Republik zuwies.16
Heinrich August Winkler veröffentlichte 1993 eine weitere wichtige Synthese über die Weimarer Republik. Wie Mommsen stellte auch Winkler die Politik in den Mittelpunkt seiner Deutung. Er sah den mangelnden Spielraum für Kompromisse bei Entscheidungen als das zentrale Problem an, das den Untergang der Demokratie herbeiführte. Winklers Weimar ist, darin der Deutung Mommsens ähnelnd, in erster Linie eine Industriegesellschaft. Also bedurfte es eines Kompromisses zwischen der organisierten Arbeiterschaft und den Interessen der industriellen Unternehmer, um das Regieren unter dem extremen wirtschaftlichen Druck der Zeit zu ermöglichen. Nach einem vielversprechenden Start mit dem sogenannten Stinnes-Legien-Abkommen Ende 1918, einer Übereinkunft zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, wurde der „Klassenkompromiss“ zwischen Unternehmern und Arbeitern allerdings bald brüchig und gegen Ende der 1920er Jahre aufgekündigt. Als im November 1928 die Repräsentanten der Schwerindustrie im Ruhrgebiet eine Viertelmillion Arbeiter einen Monat lang aussperrten, stellten sie die Signale auf Konfrontation und verweigerten jegliche Kompromissbereitschaft. So begann eine Abwärtsspirale, in der zunehmend erbitterte Konflikte die Demokratie lähmten und den Weg in die Diktatur ebneten.17
Die Bücher von Mommsen und Winkler waren Zusammenfassungen ihrer jahrzehntelangen Forschungen zur Weimarer Politik. Mit dem 1987 veröffentlichten Buch von Detlev J. K. Peukert, der die Weimarer Zeit als „Krisenjahre der klassischen Moderne“ interpretierte, betrat hingegen ein Newcomer das Parkett, dessen innovativer Beitrag zur Deutung der neueren deutschen Geschichte durch seinen frühen Tod 1990, im Alter von nur 39 Jahren, abrupt an ein Ende kam.18 Da diese Studie bis heute eine Schlüsselrolle für all jene einnimmt, die sich für die Weimarer Republik interessieren, beschäftigten wir uns hier ausführlicher mit ihr. Peukerts Darstellung lieferte als erste ein vielschichtiges Bild von der Gesellschaft und Politik von 1918 bis 1933. Er widmete der Massenkultur, dem Generationskonflikt und technokratischen Elementen des Wohlfahrtsstaates ebenso viel Aufmerksamkeit wie eher traditionellen Themen, etwa dem Einfluss der Hyperinflation und dem Vertrag von Versailles. Peukert verstand Weimar als eine im Kern moderne Gesellschaft, deren viele Krisen weder auf die verbliebene Machtbasis traditioneller, quasifeudaler Eliten wie der preußischen Junker noch auf die ungleiche Modernisierung zurückgeführt werden konnten. Für Peukert waren Weimars Krisen das Ergebnis einer Moderne, die in und für sich durch Risiken und Ambivalenzen geprägt war und deren Instabilität sich aus diesen Ambivalenzen ergab.
Wichtig ist dabei, dass Peukerts Verständnis der Moderne von dem Mommsens und Winklers abweicht. Diese beiden definierten sie in erster Linie als eine industrielle Gesellschaft, in welcher der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital im Zentrum steht. Peukert hingegen knüpfte an den Soziologen Max Weber und dessen 1904/05 publizierte Studie „Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ an. Im Einklang mit Weber identifizierte Peukert Rationalisierung als die Signatur der Moderne. Weber zufolge basierte Rationalisierung im Kern auf einem Trend zur Optimierung von Handlungen durch ein Zweck-Mittel-Kalkül. Dieses setzte sich zunächst in der Wirtschaft durch, avancierte dann aber zum Strukturprinzip in anderen sozialen Feldern und letztlich zum zentralen Element aller Lebensordnungen der Moderne.19 Peukert analysierte den Prozess der Rationalisierung in der Gesellschaft der Weimarer Republik in vielen Bereichen. In Bezug auf die industrielle Wirtschaft nahm er den Taylorismus, die Mechanisierung des Arbeitsprozesses und die Einführung der Fließbandproduktion als Versuche in den Blick, die Produktivität zu erhöhen. Im Bereich der Sexualität und des Geschlechterverhältnisses hob er die Verbesserung der Sexualhygiene und die Anwendung von Verhütungsmitteln hervor. In der kulturellen Sphäre akzentuierte Peukert die Bedeutung der „Neuen Sachlichkeit“, die sich um eine neue Form des Realismus bemühte und unter dem Einfluss von Medien wie Film und Fotografie eine objektive Betrachtungsweise in die Kunst einführen wollte. Im Ausbau des Sozialstaats entdeckte Peukert die Spuren eines „social engineering“, bei dem es nicht nur darum ging, soziale Notlagen zu lindern, sondern soziale Segregation zu bekämpfen, indem man den Lebensstil von Menschen aus unteren Sozialschichten rationalisierte.20 Sozialpolitische Maßnahmen waren für Peukert auch ein zentrales Beispiel für die Ambivalenzen und inhärenten Widersprüche einer auf Rationalisierung zielenden Moderne. Nachdem der Wohlfahrtsstaat in den 1920er Jahren massiv ausgebaut worden war, ging es nach dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise um Kürzungen und Einsparungen. Die instrumentelle Rationalität eines allein an der Abwägung von Kosten und Nutzen orientierten Kalküls führte dazu, bei knappen Mitteln zwischen denen zu selektieren, die Unterstützung verdienten, und denen, die sie nicht verdienten. Für Peukert wurde darin eine fundamentale Ambivalenz der Moderne sichtbar: Die progressive Sozialpolitik der Weimarer Republik bereitete den Boden für die auf eugenischen Ausschlusskriterien basierende Rassenpolitik des „Dritten Reiches“.21 Diese Diagnose der inneren Widersprüche und selbstzerstörerischen Tendenzen der Weimarer Republik führte Peukert zu einer weiteren Schlussfolgerung. Weimar ist nicht nur deshalb relevant, weil die Zerstörung seiner parlamentarischen Demokratie eine Warnung für die Gegenwart ist. Weimar erinnert uns auch an das Gefahrenpotenzial, das die Moderne generell in sich birgt.22
Peukerts kurze Studie ist immer noch die Messlatte für alle komplexen, auf mehr als nur die politische Dimension zielenden Interpretationen der Geschichte der ersten deutschen Republik. Das heißt allerdings nicht, dass alle seine Argumente schlüssig sind und sein konzeptioneller Rahmen nicht weiterentwickelt werden könnte. Nur zwei wichtige Kritikpunkte seien hier erwähnt. So haben Historiker darauf hingewiesen, dass ein Großteil der finanziellen Ausgaben für die Sozialpolitik der Weimarer Zeit nicht auf generelle Ambivalenzen der Moderne verweise, sondern diese Kosten eine Hinterlassenschaft des Ersten Weltkriegs waren, in dessen Folge Hundertausende von Veteranen, Kriegswitwen und -waisen auf staatliche Hilfe angewiesen blieben.23 Experten zur Geschichte der Sozialpolitik bezweifeln auch, dass eugenische Tendenzen des Sozialstaats vor 1933 wirklich „ein gutes Stück des Weges“ für die bald darauf vom NS-Regime praktizierte Politik der „Auslese“ und „Ausmerze“ vorbereitet haben.24 Zudem hatte Peukert praktisch nichts über die kulturelle Präsenz des konfessionell gebundenen Christentums und die praktizierte Frömmigkeit von Protestanten und Katholiken zu sagen. Wie viele andere Sozialhistoriker der 1980er Jahre besaß Peukert kein Gespür für die religiöse Kultur und die andauernden konfessionellen Konflikte der Weimarer Zeit. Aus diesem Grund überschätzte er die Rolle der Rationalisierung als Signatur der Epoche und unterschätzte die Bedeutung von Lebenswelten, in denen der Imperativ formaler Rationalisierung keine oder nur geringe Geltung hatte. Therese Neumann, eine junge katholische Bauernmagd aus der kleinen oberpfälzischen Gemeinde Konnersreuth, die seit 1926 Visionen hatte, als Stigmatisierte die Wundmale Jesu zeigte und über die Jahre Zehntausende von Besuchern und Bewunderern in den entlegenen Grenzort zog, wird bei Peukert nicht erwähnt.25
Historiker der Bundesrepublik, von Bracher bis hin zu Peukert und Winkler, haben grundlegende Studien vorgelegt, die von den 1950er Jahren bis 1990 den konzeptionellen Rahmen für die Debatte über die Weimar Republik bereitstellten. Selbstredend gab es auch in den USA und Großbritannien führende Experten für die Sozial- und Politikgeschichte der Weimarer Republik. Nur drei von ihnen, Gerald D. Feldman, Larry Eugene Jones und Cornelie Usborne, seien hier genannt. Aber ihre wegweisenden Bücher, die sich auf jahrzehntelange Archivarbeit stützten, analysierten jeweils spezifische Themen und machten kein allgemeines Deutungsangebot für die Geschichte der Weimarer Republik.26 Das änderte sich erst seit 2000, als einige britische und amerikanische Historiker Bücher mit einem allgemeinen Überblick über die Weimarer Jahre veröffentlichten.27 Zu diesem Zeitpunkt waren die etablierten Interpretationsmuster allerdings bereits in die Kritik geraten, und neue Ansätze traten in den Vordergrund.