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Abschied von familienbiographischer Unschuld

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In verschiedenen Beiträgen hat Metz dafür plädiert, eine neue Politische Theologie, die die Leidensgeschichte der Menschen ernst nimmt, müsse Abschied nehmen von einer „idealistisch (miß-)verstandenen theologischen Situation“, nämlich „(1) Abschied von ihrer gesellschaftlichen und politischen Unschuld, (2) Abschied von ihrer geschichtlichen Unschuld und (3) Abschied vom Eurozentrismus“ bzw. „von ihrer vermeintlichen ethnischen Unschuld“ (1997a, 164, 166; vgl. 123ff). In allen drei Fällen geht es um die Überwindung eines „Subjekt- und situationslosen“ Idealismus, um sich den leidenden Subjekten in Geschichte und gegenwärtiger Praxis vorbehaltlos zuwenden zu können. Metz bezieht sich in dieser Formulierung insbesondere auf Erkenntnisse, die er einerseits durch seine Begegnung mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, andererseits mit dem Bewusstwerden des Bruchs durch Auschwitz gemacht hat. Auschwitz signalisiere für ihn einen Schrecken, so schreibt er, „der jede situationsfreie Rede von Gott leer und blind erscheinen ließ“ (149).

Einerseits wird Metz seinem Anspruch, keine „situationsfreie Rede“ gelten zu lassen, durch seine klaren Stellungsnahmen für die Opfer und die Anerkennung „der Autorität der Leidenden“ (1997a, 202) gerecht. Metz gehört zu den wenigen Theologen in Deutschland, die zumindest gefordert haben, als Theologe nach Auschwitz „Ich“ sagen zu müssen (1984, 383), und die bereit sind, ihre Subjektivität in gegenwartsbezogenen Problemanalysen, wie etwa seiner Kritik der kulturellen Amnesie in Gesellschaft und Theologie, durchschimmern zu lassen. Andererseits gibt es auch in seinen Texten nur wenige selbstreflexive Versuche, die eigene Situation generationsspezifisch und familiengeschichtlich im NS-deutschen und nachkriegsdeutschen Kontext zu bestimmen. So beschreibt er in einem biographischen Essay lediglich eine Erfahrung, die er als 16-Jähriger in der Wehrmacht durchlitten hat – und dies in der Kürze eines Paragraphen:

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde ich, 16jährig, aus der Schule herausgerissen und zum Militär gepreßt. Nach flüchtiger Ausbildung in Würzburger Kasernen kam ich an die Front, die damals schon über den Rhein ins Land gerückt war. Die Kompanie bestand aus lauter jungen Leuten, weit über hundert an der Zahl. Eines Abend schickte mich der Kompanieführer mit einer Meldung zum Bataillonsgefechtsstand. Ich irrte die Nacht über durch zerschossene, brennende Dörfer und Gehöfte, und als ich am morgen darauf zu meiner Kompanie zurückkam, fand ich nur – Tote, lauter Tote, überrollt von einem kombinierten Jagdbomber- und Panzerangriff. Ihnen allen, mit denen ich tags zuvor Kinderängste und Jungenlachen geteilt hatte, konnte ich nur noch ins erloschene, ins tote Antlitz sehen. Ich erinnere nichts als einen lautlosen Schrei. Und so sehe ich mich heute noch, und hinter dieser Erinnerung sind meine Kindheitsträume zerfallen. (Metz 1997a, 207; 1997b, 41)

Ein vergleichbar tragisches und trauriges Erleben ist uns in der dritten Generation erspart geblieben. Wir sind mit Geschichten – wenigen Geschichten – der Eltern und Großeltern aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren groß geworden. Unsere Erinnerung ist eine vermittelte. Angewiesen auf die erzählte und überlieferte Erinnerung, müssen wir aber Metz (der hier stellvertretend für andere Theologen und Theologinnen steht, auch für jene, die ihre Vergangenheit ganz in Schweigen hüllen) fragen: Warum diese Geschichte? Warum nur diese? Warum richtet er sich ausgerechnet mit dieser Erinnerung an die Öffentlichkeit?6

Wohl muss sein Erlebnis als traumatisch bezeichnet und deshalb von Metz als erzählnotwendig betrachtet werden. Aber können seine Kindheit und Sozialisierung im nationalsozialistischen Deutschland auf diese Geschichte reduziert werden? Ist diese Geschichte nicht geradezu typisch für die wenigen, sich stets wiederholenden Erzählungen, die gerade seine Generation uns überliefert hat?

Eine Untersuchung sprachlicher Formationen und Gebrauchsweisen dieser Passage, also des Diskurses, würde rasch ergeben, dass hier ein Bild einer schicksalshaft zerstörten Idylle, das Bild einer Unschuld entworfen wird. Dazu gehören die Passiv-Konstruktionen („herausgerissen“, „gepreßt“, „überrollt“), die Betonung kindlicher Verirrung und Unschuld („flüchtige Ausbildung“, „lauter junge Leute“, „irrte [durch] die Nacht“, „Kinderängste“) und Bilder einer verloren- bzw. untergegangenen Heimat („aus der Schule herausgerissen“, „zerschossene, brennende Dörfer und Gehöfte“; statt „Jungenlachen“ das „erloschene, tote Antlitz“). Dass Metz mit diesem Duktus nicht alleine steht, zeigt sich beispielsweise in autobiographischen Essays seiner Kollegen Jürgen Moltmann und Jörg Zink, die zusammen mit Beiträgen anderer deutscher Theologen und Theologinnen der „zweiten Generation“ (siehe Anm. 2) im Buch Wie ich mich geändert habe (Moltmann 1997b) veröffentlicht wurden. Sofern in dieser biographisch angelegten Sammlung die nationalsozialistische Zeit überhaupt erwähnt wird, setzt die Erzählung der männlichen Theologen mit den letzten Kriegsjahren bzw. der Nachkriegszeit ein. Moltmanns Erinnerung beginnt in „der letzten Juliwoche 1943“, als Hamburg „durch die ‚Operation Gomorrah‘ der englischen Royal Air Force im Feuersturm vernichtet“ wurde: „Mit meiner Schulklasse war ich als Luftwaffenhelfer in einer Flakbatterie in der Innenstadt. Sie wurde zerstört, die Bombe, die den Schulfreund neben mir zerriß, verschonte mich. In der Nacht habe ich zum ersten Mal nach Gott geschrien: Mein Gott, wo bist du?“ (Moltmann 1997b, 22). Zink beschreibt die „Anfänge [s]eines theologischen Weges“ im „Wintersemester 1945/46“ mit den folgenden Worten: „Wir kamen damals aus fünf Jahren Krieg und Gefangenschaft zurück und wollten hören, ob uns etwa die Theologie nach dem großen Einbruch aller Grundlagen neuen Boden unter die Füße geben könne.“ (Zink 1997, 67)

Es schwebt über diesen Erzählfragmenten ein Hauch jener problematischen Selbstentschuldung, die im Begriff „der Gnade der späten Geburt“ in den 80er Jahren ihren Ausdruck fand; denn sie suggerieren eine Art familienbiographischer Unschuld. Zwar wird vermieden, sich explizit als Opfer zu verorten, aber dennoch wird die Sprache des Leidens, und zwar die der eigenen Leiderfahrung im kriegszerstörten Deutschland, in Anspruch genommen. Damit reihen sich die Reminiszenzen dieser Theologen reibungslos in den narrativen Erinnerungsdiskurs der Bundesrepublik ein: Kriegs- und Nachkriegszeit werden biographisch eingeholt, aber die nationalsozialistische Ausgrenzung und Vernichtung von Juden und anderen Verfolgten bleibt dem familiengeschichtlichen Erleben verschlossen. Auschwitz und die Shoah tauchen erst später als geschichtliche Größen und intellektuelle Herausforderung im eigenen Theologisieren auf, aber nicht im erinnernden – und deshalb emotional besetzten – Wiedererzählen der 40er Jahre.

Was könnte die diskursive Funktion eines derart gestalteten, fragmentarischen Erzählens sein, was ihre theologische Funktion in einer „anamnetischen Kultur“ (Metz 1997a, 151)? Denkbar ist, dass diese narrativen Fragmente – so der implizierte, vielleicht vorbewusste, aber nicht ausgesprochene Gedankengang – dazu geeignet sind, den Übergang zu einer Theologie zu ermöglichen, die sich mit den Opfern der Shoah und den Leidenden in der „Dritten Welt“ solidarisiert. Die eigenen Leiderfahrungen als Deutsche (wir überlebten „den Feuersturm“, „den Jagdbomber- und Panzerangriff“, „Krieg und Gefangenschaft“) führen zur theologischen Zuwendung zu Opfern im Allgemeinen und jüdischen Opfern im Besonderen. An solchen Schnittpunkten wird deutlich, warum zwischen einer politisch-theologischen Solidarisierung mit den Opfern und einer emotionalen Identifizierung mit ihnen, die sich aus einer biographischen und generationsspezifischen Erfahrung speist, nicht so scharf unterschieden werden kann, wie es auf der begrifflich-kognitiven Ebene manchmal geschieht.7

Ich denke, wir müssen die metzsche Forderung, sich in „dreifacher Weise“ (1997a, 164) von theologischer Unschuld zu verabschieden, um eine vierte Kategorie erweitern: Abschied von der familienbiographischen Unschuld. Eine Theologie im Angesicht der Shoah, gerade im Land der Täter, muss sich einer Kultur des Vergessens auch im familiären Rahmen widersetzen, um in ihren Aussagen zwar nicht unbedingt an Autorität, aber doch wenigstens an Authentizität zu gewinnen. Damit, so denke ich, gewinnt die neue Politische Theologie ein bereicherndes Korrektiv, ohne ihr Anliegen der Sensibilisierung für die Opfer und Leidenden zu destruieren.

Von Gott reden im Land der Täter

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