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Hermeneutische Reflexion?

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Zur Auffassung von Reflexion und deren Stellenwert bei Hans-Georg Gadamer

E.C. (1905–2002) zum Gedenken

Es braucht keine allzu große Vertrautheit mit den Schriften Hans-Georg Gadamers, damit einem die Rede von der „hermeneutischen Reflexion“ bekannt ist, die dazu dient, das zu kennzeichnen, was Hermeneutik eben ist bzw. tut: zu reflektieren auf das Verstehen; so auch noch 1992 in einem der jüngsten Texte, der in die „Gesammelten Werke“ aufgenommen wurde.1 Umso erstaunlicher ist es, dass es eine später – um 1996 herum – von Gadamer getätigte Aussage gibt, die auf eine Zurückweisung des Begriffs der Reflexion zur Kennzeichnung seiner Unternehmung hinausläuft:

„It would have been better if I had avoided the concept of reflection entirely, or if I at least had added that I meant a kind of performance knowledge [Vollzugswissen].“

Gadamer fügt dem weiter unten hinzu, dass seine Rede von Reflexion noch an Missverständlichkeit gewinnt, wenn man diese „in a very narrow, modern, Kantian sense“2 auffasst.

Dadurch wird nicht nur die bisherige Kennzeichnung seiner Hermeneutik korrigiert, sondern zugleich ein bestimmtes Reflexionsverständnis artikuliert. Unweigerlich werden damit folgende Fragen vordringlich: Was versteht denn Gadamer überhaupt unter Reflexion? und: Welchen Stellenwert misst er der Reflexion bei? Dabei wird sich zeigen, dass die zitierte Auskunft Gadamers aufs Erste vielleicht in ihrer Deutlichkeit überraschen mag, sich jedoch bei genauerem Hinsehen mannigfaltige Hinweise und Antworten auf die aufgeworfenen Fragen in Gadamers Texten seit langem finden lassen und diese Auskunft nahe legen.

I.

Bei dieser Selbstkorrektur Gadamers handelt es sich um keine Episode. Vielmehr bildet sie gewissermaßen den Abschluss eines lang dauernden Schwankens oder – wenn man will – der Klärung des Theoriestatus der Hermeneutik Gadamers. Erinnern wir uns: In der Einleitung zu „Wahrheit und Methode“ (1960) benannte der Autor sein Anliegen als Berichtigung des Selbstverständnisses der Geisteswissenschaften. Und das stellte er in den weiten Kontext der Vorherrschaft des wissenschaftlichen Methodengedankens und der damit einhergehenden Verengung des Wahrheitsbegriffs. Es ging dabei auch um die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins der aus der Geschichte stammenden Prägungen unseres Denkens und Sprechens. Im „Vorwort zur zweiten Auflage“ (1965) ist dann – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Kant – die Rede von der quaestio iuris, um sein Unterfangen durch die Frage „Wie ist Verstehen möglich?“3 zu kennzeichnen, wonach das Wesentliche in „der hermeneutischen Reflexion auf die Bedingungen des Verstehens“4 liegt. In „Wahrheit und Methode“ konnte man auch schon vor diesem Hinweis davon lesen, dass Gadamer „an den transzendentalen Sinn der Heideggerschen Fragestellung“5 anknüpft. Zunehmend tritt dann aber die Charakterisierung seiner Hermeneutik durch die Nähe bzw. Parallelisierung zur praktischen Philosophie, ja durch Ineinssetzung mit ihr in den Vordergrund. Stößt man bis dahin auf Wendungen, die sein Unternehmen als „eine philosophische Theorie der Hermeneutik“6 bezeichnen, so wird das nun zunehmend problematisiert, wenn nicht vermieden, wie etwa im „Nachwort zur 3. Auflage“ (1972). Freilich wird auch jetzt noch die Hermeneutik als reflexiv verfasst angesehen, schließlich seien praktische Philosophie, wie sie Aristoteles verstand, und Hermeneutik jeweils auf einer anderen Ebene anzusiedeln als das, worauf sie reflektierten: auf Praxis bzw. auf Verstehen.7 Dabei hat aber der Begriff Reflexion bereits einen gänzlich anderen Sinn angenommen gegenüber der ursprünglichen Anbindung an Kant.

Und so wird deutlich, dass die verschiedenen Kennzeichnungen, die Gadamer für seine Hermeneutik anbietet, nicht ohne Auswirkung bleiben für seinen Begriff der hermeneutischen Reflexion. Im Übrigen sah sich Gadamer wesentlich aufgrund von Anfragen zu je neuen Explikationen dessen, was die als philosophisch gekennzeichnete Hermeneutik eigentlich sei, veranlasst. Aus der Unsicherheit über den jeweiligen Theoriestatus der gadamerschen Hermeneutik folgte nämlich, dass unterschiedliche Verortungen von Seiten der Rezipienten vorgenommen wurden. Nach Erscheinen der ersten Auflage war die Verhältnisbestimmung zur traditionellen Hermeneutik als einer technischen besonders strittig. So versuchte man etwa, sie auf eine Methodenlehre festzulegen; also ganz im Gefolge Schleiermachers würde ihr dann die Aufgabe zukommen, auf die Auslegungspraxis zu reflektieren und diese durch ein Regelwerk abzusichern.8 Ein solches Ansinnen wies Gadamer zurück durch die oben erwähnte Berufung auf Kant. Diese Verdeutlichung schien eine anders gelagerte Verortung nahe zu legen und zu ermöglichen: Dann wäre das von Gadamer zur Kennzeichnung verwendete Adjektiv „philosophisch“ so aufzufassen, dass es ihm um eine transzendentalphilosophische bzw. „transzendentale Hermeneutik“ (Apel) geht.

Gadamer wich von diesem Weg erneut ab und versuchte seine Hermeneutik anders als transzendentalphilosophisch zu verorten bzw. zu begründen. Das liegt u. a. darin begründet, dass eine solche Fundierung mit Hilfe transzendentalphilosophischer Argumente dem Streben nach Gewissheit, das für methodische Verfahren kennzeichnend sei, viel zu nahe kommt und um die Inanspruchnahme von Subjektivität kaum umhin kommt. Der angeklungene transzendentale Anspruch ist also schwer mit anderen Intentionen von „Wahrheit und Methode“ in Einklang zu bringen.9 Das zeitigt allerdings missliche Folgen für die Durchführung der Hermeneutik Gadamers. Die Reflexion auf den Verstehensprozess droht dann nämlich allzu sehr dem Verstehen selbst angeglichen zu werden, sodass die Reflexion selbst zum Vollzug des Verstehens wird. Verstehen wird dann lediglich verstanden, jedoch nicht begriffen.10 Daraus resultiert wiederum die Schwierigkeit, dass eine so geartete Hermeneutik als Verstehen des Verstehens keinen Geltungsanspruch auf Allgemeingültigkeit ihrer Aussagen erheben kann.

Diese Problematik ist bekannt.11 Bei Gadamer gibt es sehr wohl Aussagen, die allgemein gültig sein wollen, aber zugleich fällt die für eine philosophische Hermeneutik zu erwartende Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen solcher Aussagen aus. So betont Gadamer: „Wenn das Prinzip der Wirkungsgeschichte als ein allgemeines Strukturmoment des Verstehens geltend gemacht wird, so schließt diese These gewiß keine historische Bedingtheit ein, sondern will schlechthin gelten.“12 Wenn Hermeneutik bloß ein Verstehen des Verstehens ist, dann ist diese Aussage nicht zulässig, da das Verstehen des Verstehens selbstredend unter derselben Bedingung, also der Wirkungsgeschichte steht, wie das verstandene Verstehen. Hier wird für das Tätigen dieser Aussage offensichtlich der Status der Reflexion als eines Begreifens des Verstehens eingenommen. Umgekehrt gibt es Aussagen, die nicht allgemein gültig sein können, da sie dann in der Anwendung auf sich selbst widersprüchlich sind: Hierfür mag z. B. die berühmte Wendung angeführt werden, wonach es „genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht13. Auf Gadamers Hermeneutik gewendet, wäre sein Verstehen des Verstehens ein Andersverstehen des Verstehens und nicht recht des Aufhebens wert. Kurz: Macht man für das Unternehmen der Hermeneutik Reflexion geltend, dann drängt diese Reflexion über sich hinaus zu ihrer Selbstaufklärung. D. h., Hermeneutik zielt als Reflexion auf ein Begreifen des Verstehens durch Herausarbeiten der apriorischen Möglichkeitsbedingungen desselben, und zwar so, dass auch dieses Begreifen des Verstehens erneut begriffen werden kann. Diese Bewegung der Reflexion wurde aber von Gadamer bereits in „Wahrheit und Methode“ zurückgewiesen unter der Etikette „Reflexionsphilosophie“, die letztendlich darauf hinauslaufe, den Einfluss der Wirkungsgeschichte durch Bewusstmachung aufheben14 oder – wie es später auch heißt – auflösen15 zu wollen. Diese Zurückweisung erfolgt aber bekanntlich auf recht eigentümliche Weise: Zwar wird der Reflexionsphilosophie Recht gegeben, zugleich wird sie aber abgewiesen durch zwei Behauptungen: Einerseits sei dieser Argumentation so gut wie kein Erfolg beschert, schließlich würde sich kein Skeptiker durch diese Argumentation von seiner Skepsis abbringen lassen16, andrerseits sei diese Argumentation bloß formal und würde dieselbe als „suspekt“17 erscheinen lassen. Diese Zurückweisung einer transzendentalen Reflexion hat Schule gemacht und fand bei Gefolgsleuten Gadamers, z. B. bei Vattimo, Aufnahme und Fortführung.18

Gadamer selbst fühlte sich, wie er in seiner „Selbstkritik“ schreibt, vor allem durch die Diskussionsbeiträge von Apel und Habermas veranlasst, „die wissenschaftstheoretische Eigenart einer philosophischen Hermeneutik schärfer herauszuarbeiten“19. Das unternimmt er dadurch, dass er die Hermeneutik als praktische Philosophie kennzeichnet. Erneut ging es hier um Reflexion, deren Stellenwert als hermeneutisch-kritischer und deren Reichweite.20 Durch diese neue Bestimmung erarbeitet er sich auch Argumente, die eine transzendentale Reflexion als unmöglich erscheinen lassen sollen. In diesem Zusammenhang legt Gadamer größten Wert auf den Hinweis, dass sich die praktische Philosophie des Aristoteles um die Herausarbeitung und Rechtfertigung der Eigenart des praktischen Wissens, der phronesis, bemüht, jedoch selbst nicht phronesis sein kann, sondern darauf reflektiert und damit – „[f]reilich zögert man, den modernen Begriff der Theorie auf die praktische Philosophie anzuwenden, die schon ihrer Selbstbezeichnung nach praktisch sein will“21 – Theorie ist. Aber eben nicht Theorie im angesprochenen und zurückgewiesenen Verständnis der Neuzeit, wonach Theorie etwas ist, das einer nachträglichen, ihr äußerlichen Anwendung bedarf. Eine solche Auffassung von Theorie hat bei Aristoteles ihren Platz im Bereich der Poiesis, des herstellenden Handelns und dem entsprechenden Regelwerk (techne), das jeweils Anwendung findet. Hier kann es zu einer Spaltung kommen zwischen Theorie und Praxis im neuzeitlichen Sinne: indem das Wissen um die Regeln, die „Theorie“, und die Erfahrung des Machens, die „Praxis“, aufeinander prallen. Diese Möglichkeit verdankt sich dem Umstand, dass Technik Distanz und Abstand erlaubt: Es liegt an mir, ob ich mein Können anwende oder nicht. In dieser Auseinandersetzung zielte Gadamer auf folgende Klarstellung: Reflexion, wie er sie in Anspruch nehme, sei eben – wie er gegen Habermas und Apel betont – keine Technik, sondern Reflexion über Praxis bzw. auf den Vollzug des Verstehens.22 Praktische Philosophie erhebt sich gewissermaßen als Reflexionsbewegung aus der Praxis, dem Sich-Verhalten und der damit aufgeworfenen Frage nach vernünftigem Handeln. Dabei ist die praktische Philosophie kein „Wissen auf Abstand“23 wie die neuzeitliche Theorie im Gegensatz zur Praxis, sondern diese praktische Philosophie will auf die Praxis auch wieder zurückwirken, also über gutes Handeln nicht bloß reflektieren, sondern es auch befördern. Darüber hinaus hebt Gadamer noch einen anderen Sachverhalt hervor, der deutlich macht, wie sehr praktische Philosophie und praktisches Wissen ineinander gefügt sind: Unser praktisches Wissen ist immer auch bedingt und begrenzt durch das, was die Griechen „Ethos“ nannten, also durch die Sitte einerseits und durch den Charakter des Einzelnen andererseits; und diese Bedingt- und Begrenztheit trifft auch auf die praktische Philosophie zu: „Hier setzt ‘Theorie’ ‘Teilhaben’ voraus.“24 „So kann Aristoteles die Bedingtheit alles menschlichen Seins im Inhalt seiner Lehre vom Ethos anerkennen, ohne daß diese Lehre selber ihre Bedingtheit verleugnete.“25 Denn diese finde als Reflexion auf die Lebenspraxis an derselben „ihre eigene Begründung und Begrenzung“26. Diese Art von Reflexion ist also nicht voraussetzungslos, vielmehr ist einerseits – für die praktische Philosophie – das gesellschaftliche Sein des Menschen, also die jeweilige Lebenspraxis und die damit einhergehenden gemeinsamen Überzeugungen einer Gesellschaft, andrerseits – für die Hermeneutik – das wirkungsgeschichtliche Sein des Menschen, also die Wirkungsgeschichte der Überlieferung und das daraus resultierende Vorverständnis vorausgesetzt. Die Ideologiekritik übersieht seiner Meinung nach auch diese Begrenztheit der hermeneutischen Reflexion und bringt ihren Anspruch in die Nähe der Technik: so als ob hier, im Bereich der Praxis, ein Regelwissen (techne) möglich wäre, das gewünschte gesellschaftliche Zustände herstellen ließe. Für Gadamer läuft eine solche Auffassung hermeneutisch-kritischer Reflexion auf eine Überschätzung der Möglichkeiten der Reflexion hinaus. In diesem Zusammenhang liefert er nur nebenbei einen Hinweis darauf, dass es auch noch andere Auffassungen von Reflexion gebe. Ausdrücklich spricht er dabei an, dass der Reflexion bei Habermas und Apel eine „falsche Vergegenständlichung“ zugrunde liege: Zugleich teilt er aber doch deren Reflexionsauffassung – im Sinne von Bewusstmachen –, unterscheidet sich allerdings bezüglich der Reichweite, die er der Reflexion zutraut. Schließlich sei es nicht möglich, die Tradition im Ganzen vor sich zu bringen. Dieser Reflexion eignet eben, wie gesagt, eine „wesenhafte Partikularität“27. Hier ist zu beachten, dass diese Debatte von einem empirisch-psychologischen Reflexionsverständnis geleitet wurde: So wie in der Psychoanalyse eine Emanzipation von inneren und äußeren Zwängen stattfinden soll, da Bewusstwerdung, d. h. in diesem Verständnis: Reflexion diese aufzulösen vermag, so gelingt es der hermeneutischen Reflexion, sich mancher der Vorurteile bewusst zu werden. Im Übrigen hat jüngst Apel selbst des Öfteren28 darauf hingewiesen, dass das ihn, und auch Habermas, leitende Verständnis von Reflexion ein empirisch-psychologisches gewesen und die Geltungsproblematik dadurch versäumt worden sei.

Jedenfalls will sich Gadamer dadurch nun auch deutlich gegenüber einer transzendentalphilosophischen Auffassung von Reflexion, etwa in der Gestalt von Litt oder Apel, absetzen.29 Das ist in geltungstheoretischer Hinsicht und der damit verbundenen Reflexionsproblematik relevant. Welche Art von Reflexion wird hier in Anspruch genommen, um die Begrenztheit der Reflexion, wie sie von der praktischen Philosophie geübt wird, ansprechen zu können? Und: Welchen Geltungsanspruch hat diese Behauptung der Begrenzung sowohl des praktischen Wissens als auch der Reflexion darauf? Wohl keinen begrenzten. Ebenso bezüglich der Endlichkeit des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins: Die Endlichkeit desselben liegt darin, dass es sich nie aller Einflüsse und Voreingenommenheiten, die aus der Wirkungsgeschichte herrühren, bewusst werden kann. Woher sollen wir dann aber wissen können, dass „unser im Ganzen unsrer Geschicke gewirktes Sein sein Wissen von sich [d. h. des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins, M. H.] wesensmäßig überragt“30? Die Bewusstseinstranszendenz wirkungsgeschichtlicher Faktoren wird von welchem Bewusstsein aus behauptet? Entweder ist es möglich, von deren Wirkung zu wissen, dann sind sie nicht mehr bewusstseinstranszendent, oder man kann von ihnen nichts wissen und demnach auch nicht ihren Einfluss behaupten. Reflexion im geltungstheoretischen, transzendentalen Sinne wird allerdings nicht thematisch. Der Hinweis, dass Reflexion in der Wirkungsgeschichte steht und partikular ist, weil sie diese materialiter nicht vollständig durchreflektieren kann, trifft nicht die Frage nach der Geltung dieser Aussage. Wirkungsgeschichtliche Reflexion als begrenzt aussagen zu können ist doch wiederum Erkenntnis einer Reflexion, die nun nicht erneut begrenzt sein kann, da sie auf einer anderen Ebene statthat. Dadurch wird auch die Begrenztheit nicht aufgelöst, sondern sie wird als Begrenztheit ins Bewusstsein gehoben, und zwar auf einer Ebene, die die Begrenztheit „nicht sowohl austilgt als vielmehr in ihrem Daß, ihrem Wie und ihrem Warum begreift und so erst recht in ihren Rechtstiteln befestigt“.31

Die angesprochene, andere Auffassung von Reflexion, die Gadamer hier im Auge hat, ist die Brentanos, die sich von der „ausdrücklichen und thematischen Reflexion“ unterscheide, und er sagt im Rahmen dieser Auseinandersetzungen dazu nur so viel: „Es gibt sehr wohl eine innere Rückwendung der Intentionalität, die keineswegs das so Mitgemeinte zum thematischen Gegenstand erhebt.“32

Hermeneutische Reflexion, der praktischen Philosophie ähnlich, ist also begrenzt und kann nicht alle Vorurteile, die der Tradition entstammen, vor sich bringen. Gadamer, so haben wir gesehen, ist bemüht, seine Hermeneutik in Analogie zur praktischen Philosophie auf einer reflexiven Ebene zu verorten. Jedoch ist er zugleich bemüht, diesen Abstand der Reflexion zu ihrem Gegenstand möglichst gering zu halten. Er habe seinen Kritikern für die „Heraushebung dieses Punktes, die sie mir abnötigten, zu danken“, dass nämlich

„auch die hermeneutische Reflexion ein integrales Moment des Verstehens selber [sei], ja dies so sehr, daß mir die Trennung der Reflexion von der Praxis eine dogmatische Beirrung einzuschließen scheint, die auch noch den Begriff der ‘emanzipatorischen Reflexion’ trifft“.33

Nach den Debatten mit der Ideologiekritik läuft also Hermeneutik erneut auf ein Verstehen des Verstehens hinaus. Aber auch von der anderen Seite, vom Vollzug des Verstehens her, weist Gadamer darauf hin, dass die Reflexion nicht fern, sondern vielmehr ein Moment desselben sei: sodass also „Verstehen als hermeneutische Aufgabe stets schon eine Dimension der Reflexion einschließt. Verstehen ist keine bloße Reproduktion einer Erkenntnis, d. h. nicht ein bloßer wiederholter Vollzug derselben, sondern ist sich der Wiederholtheit ihres Vollzuges selber bewußt.“34 Das Verstehen wird aber in seiner Wiederholtheit nicht ausdrücklich zum Gegenstand einer Reflexion gemacht. Was hier in Bezug auf das Verstehen der Überlieferung gesagt wird, stellt Gadamer in viel allgemeinerer Hinsicht einmal fest: nämlich „daß es mit dem Verstehens-Vollzuge stets ein mitgehendes Bewußtsein gibt, das nicht vergegenständlichend ist“35. – Dieses Zitat ist eine Erläuterung dessen, wodurch Gadamer transzendentale Reflexion ersetzt wissen wollte: durch Vollzugswissen; dieses besteht demnach in einem Begleitbewusstsein eines Vollzugs, d. h., ich vollziehe etwas und zugleich weiß ich – nebenbei und begleitend –, dass ich etwas vollziehe. Dass Gadamer tatsächlich durch Reflexion in diesem Sinne von Vollzugswissen die theoretische Eigenart der Hermeneutik begründen will, erhellt auch aus einer anderen Stelle. Auch dort geht er in genau diesem Problemzusammenhang andeutungsweise auf Brentano ein, um ihn in seiner Berechtigung gegenüber Apel herauszustellen: „In der Frage der Reflexion scheint mir Brentanos auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung des reflexiven Inneseins von der objektivierenden Reflexion dem Erbe des deutschen Idealismus überlegen. Das gilt in meinen Augen selbst noch gegenüber der transzendentalen Reflexionsforderung, die von Apel und anderen an die Hermeneutik gerichtet worden ist.“36

II.

Vor allem die abwertenden Aussagen über das Subjekt, wie es in der neuzeitlichen Philosophie konzipiert wurde, und dessen Stellenwert sind bekannte Maßnahmen, durch die sich Gadamer, hier ganz im Gefolge Heideggers, positionieren will. Da ist dann die Rede davon, dass „[d]er Fokus der Subjektivität […] ein Zerrspiegel“37 sei, dem gegenüber Gadamer darauf zielt, an die „Abdämpfung der Subjektivität“38, wie sie bei den Griechen zu finden ist, anzuschließen, und damit der „großartigen Selbstvergessenheit dieses Denkens“39 nachzugehen. Programmatisch bringt er seine Absicht zum Ausdruck, dass ihm daran gelegen sei, „die hermeneutische Dimension als ein Jenseits des Selbstbewußtseins sichtbar zu machen“40. Das Thema der Reflexion bildet dazu lediglich die andere, bislang so gut wie nicht beachtete Seite.41 Das neuzeitliche Subjekt, beginnend bei Descartes, wird als reflexiv verfasst gedacht. Damit sind die Begriffe Subjekt und Reflexion, als der ausdrücklichen Zu- bzw. Rückwendung auf sich, aufs Engste verbunden. Indem wir uns nun den gadamerschen Begriff von Reflexion vergegenwärtigen, wird es in der Folge auch möglich sein, seine Konzeption von Subjekt nachzuvollziehen.

Immer wieder macht Gadamer darauf aufmerksam, dass sich bei den Griechen kein Begriff für Ich, Subjekt oder Bewusstsein findet. Sehr wohl aber ist ihnen das Phänomen der Selbstbezüglichkeit geläufig und wird von ihnen auch bedacht anhand des Phänomens der Selbstbewegung. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass Selbstbezüglichkeit in erster Linie nicht als Strukturmoment von Subjektivität in den Blick kommt. Vielmehr ist Selbstbezüglichkeit geradezu die Grundstruktur des natürlichen Seins, der physis, insofern dieses als Lebendiges auch Selbstbewegtes ist. Leben als Selbstbewegung hat diese Struktur der Selbstbezüglichkeit, dieses Lebendigsein ist ein Sich-zu-sich-selber-Verhalten.42 Das gilt nicht nur für das Tier und den Menschen, sondern auch für die Pflanze, die sich an bestimmte Umweltgegebenheiten assimiliert. Alles natürlich Seiende ist beseelt, hat also psyche. Und das Wesen der psyche liegt in der Selbstbewegung. Was lebendig ist, also Seele hat, das bewegt sich von sich aus.43 Im „Charmides“ verhandelt Platon die Fragen nach der Selbstbezüglichkeit einer dynamis, eines Könnens (166c ff.). Sie wird erstaunlicherweise an so unterschiedlichen Beispielen wie dem Sehen, Hören, dem Denken, der Selbstbewegung und auch dem Selbsterwärmen erörtert. Auffallend oder, wie Gadamer sagt: „irritierend“44 ist an dieser Passage, dass hier gar nicht die Rede davon ist, wem eine solche dynamis zukommt. Hier ist allein von der Selbstbezüglichkeit der dynamis die Rede. Und Gadamer kommentiert:

„Wir würden nicht von einer Selbstbezüglichkeit der Dynamis, sondern von einer solchen der Seele, d. h. des lebenden und durch Bewußtsein ausgezeichneten Wesens sprechen. Es scheint eine Bestimmung der Seele, diese Struktur der Selbstbezüglichkeit zu haben, und nicht eine der Dynamis. Auf der anderen Seite trifft die Identifikation der Dynamis mit dem Selbst der Seele auch etwas Richtiges. Es ist ja nicht eigentlich das Können selbst, was da kann, sondern ich selbst bin es. Nur deshalb weil ich es bin, der etwas kann, kann ich mich ja auch von dem Vollzuge bewußt zurückhalten, und nur so, im An-mich-halten, sind die beiden Möglichkeiten als solche überhaupt präsent. Es ist immer die ganze Seele, die sich verhält.“45

Gadamer weist hier auf den „Theaitetos“ (184c, d) hin, wo Platon den Begriff des „Selbst“ gewinnt und damit die Auffassung hinter sich lässt, dass Hören und Sehen als eine Begegnung zwischen zwei Seienden zu denken seien. Doch dürfe dieses hier gewonnene Selbst nicht vorschnell neuzeitlich gedacht und mit dem Bewusstsein gleichgesetzt werden. Denn die psyche meine hier nicht das Bewusstsein, das auf sich reflektierend zurückkommen kann, oder wie Gadamer es formuliert: psyche ist nicht gemeint als „ein ausgezeichnetes Fürsichsein“46; also als etwas, das eine wissende Beziehung auf sich selbst hat: so wie das Selbstbewusstsein des Descartes. Vielmehr ist damit die Instanz gemeint, in der das Sein gegenwärtig ist. – Die Seele ist, wie Gadamer betont, gemäß Aristoteles der „Ort der Ideen“ oder, wie es auch heißt, „in gewisser Weise das Seiende selbst“.47 Das Bewusstsein ist intentional gedacht und lässt das Seiende in seinem Ansichsein erkennen.48

Bei den Griechen findet sich also sehr wohl die Thematisierung der Selbstbezüglichkeit. Was jedoch fehlt, ist eine ausdrückliche Thematisierung der Seele, die sich auf sich zurückwendet. Vielmehr wird die Seele, darin den anderen Gegenständen der Natur gleich, gleichsam von außen betrachtet, auch wenn ihr eine besondere Weise des Gegebenseins eingeräumt wird, da sie doch nur durch die Vernunft zu erfassen ist.49 Darüber hinaus werde beim Denken der psyche von den Griechen die Mitte gehalten zwischen dem Aspekt der Selbstbewegung und dem Aspekt des Selbstbewusstseins. Erst in der Neuzeit sei der erste Aspekt in Vergessenheit geraten und der zweite über Gebühr beachtet worden. Bei Gadamer findet sich dieser Hinweis an zwei Beispielen ausgeführt. Einmal anhand eines Fragments von Heraklit, DK Nr. 26, das für Gadamer in den letzten Lebensjahren unübersehbar eine große interpretatorische Herausforderung darstellte: „Der Mensch in der Nacht zündet sich [haptetei heauto] ein Licht an, wenn die Augen erloschen sind. Lebend rührt er an den Toten, erwacht rührt er an den Schlafenden.“50 Die Wendung des Sich-Anzündens des Lichts deutet Gadamer nun von dem angesprochenen Sachverhalt aus, insofern man fragen kann: „Ist es anzündend – ‘für sich selbst’? – oder ist es ‘von selber’ entflammend wie das Scheit Holz im Kamin?“51 Gadamer interpretiert in diesem Kontext das Licht als Metapher für psyche. Und durch die Formulierungen „für sich selbst“ und „von selber“ will er einerseits das Selbstbewusstsein und andererseits die Selbstbewegung als die zwei Momente der psyche angesprochen wissen. Als zweites Beispiel verweist er auf den platonischen Begriff der psyche, der ebenfalls „zwischen Selbstbewegung und Selbstbewußtsein in der Mitte steht“. So meint psyche einmal, im Sinne der Selbstbewegung, „das Wunder des Lebens“, zugleich ist damit auch das „Rätsel des Wachseins“ bezeichnet, und damit „die in allem Wachen wirkende Beziehung auf sich selbst“.52

Nach Aristoteles ist es ein den Menschen kennzeichnender Sachverhalt, dass in allem, was er tut, er dies bewusst tut.53 In jedem psychischen Akt ist man nicht nur weggegeben an den Vollzug dieses Aktes (Wahrnehmen, Denken) und an das Woraufhin des Aktes, sondern zugleich ist dies begleitet von einem Rückbezug auf einen selbst. Dieser Rückbezug wird allerdings nicht ausdrücklich gemacht, sondern geht mit dem jeweiligen Akt unthematisch einher. Das ist es, was sich als „Abdämpfung der Reflexion“ ansprechen ließe: Bei den Griechen wird das begleitende Bewusstsein nicht ausdrücklich zum Gegenstand der Reflexion. Bereits sehr früh, nämlich in seiner Habilitationsschrift, macht Gadamer auf die Notwendigkeit des Begleitbewusstseins aufmerksam und dadurch auch deutlich, dass es sich dabei um einen logischen Sachverhalt handelt: Dort ist die Rede von der Selbstvergessenheit des Menschen in der völligen Hingabe an die Lust. Jedoch kann die Selbstvergessenheit tatsächlich keine vollständige sein, vielmehr muss der Rückbezug auf einen selbst gewahrt bleiben. Schließlich genießt sich das Subjekt gerade in dieser Vergessenheit, in diesem Weggegebensein ans Objekt der Lust, und auch nur deshalb kann dem Subjekt ein solcher Zustand erstrebenswert sein.54

In einem anderen Zusammenhang unterscheidet er zwei Reflexionsbegriffe, von denen sich der eine unschwer als aristotelisch inspiriert erkennen lässt. Einmal wird Reflexion vorgestellt als „freie Zuwendung zu sich selbst“55. Dieses Verständnis sei tragend geworden in der Reflexionsauffassung der Neuzeit. Bezeichnenderweise erläutert er dieses Verständnis mit der dem Können, der techne, eigenen Reflexion, wie sie Platon im „Charmides“ (166c ff.) herausgearbeitet hat. Derjenige, der etwas kann, ist dadurch auch in der Lage, zu diesem Können auf Distanz zu gehen: So kann der Läufer, der sich seiner Schnelligkeit bewusst ist, absichtlich langsam laufen. Diese Distanz, die kennzeichnend ist für Reflexivität, kommt durch die dem Können eigene Reflexivität zustande: Wenn jemand eine Sache beherrscht, dann ist dieses Können ein Können des Könnens und Nichtkönnens zugleich. Allerdings fragt sich Gadamer, ob dieses Verfügenkönnen über einzelne Fähigkeiten ein Modell darstellt für die dem Menschen eigene Reflexivität. – Wenn Gadamer an dieser Stelle betont, dass das Können letztlich nicht die Analogie zum Werkzeuggebrauch durchhält, das man gebraucht und weglegt, und zwar deshalb, weil jedem Können ein Sein entspreche, dann wird auch hier der Unterschied zwischen techne und phronesis als Hintergrund deutlich. Für Gadamer ist die freie Zuwendung zu sich grundsätzlich problematisch, und zwar aus folgenden zwei Gründen: Erstens sei der Mensch nicht jederzeit fähig zur „reflexiven Distanz zu sich selber“56; eine solche Behauptung ist für Gadamer dogmatisch. Darüber hinaus könne, zweitens, eine solche Zuwendung zu sich nicht als frei und damit als Sinnbild von Freiheit gelten, da diese Zuwendung immer motiviert sei. Wenn wir diese Gründe in all ihrer Fragwürdigkeit einmal auf sich beruhen lassen, dann muss noch der Hinweis festgehalten werden, wonach eine solche Reflexion die Vergegenständlichung dessen mit sich bringe, worauf sie sich richte.

Gadamers Anliegen ist es, auf einen anderen Begriff der Reflexion hinzuweisen. Für diese ist kennzeichnend, dass sie nicht

„mit dem Begriff der Vergegenständlichung verknüpft ist. Das eigene Selbst, dessen man sich reflexiv bewußt ist, ist nicht in dem Sinne Gegenstand, wie wir sonst ein objektivierendes Verhalten der Erkenntnis auf einen Gegenstand gerichtet nennen, der als erkannter gleichsam seine Widerstandskraft verliert, besiegt ist, verfügbar wird.“

Vielmehr knüpft Gadamer an die aristotelische Auffassung an, wenn er fortfährt:

„Reflexivität als die Möglichkeit der Distanz zu sich selber meint nicht ein Gegenüber zu einem Gegenstande. Sie ist vielmehr in der Weise im Spiel, dass sie mit dem gelebten Vollzuge mitgeht. Das ist unsere eigentliche Freiheit, daß so im ‘Mitgehen’ mit den Lebensvollzügen Wahl und Entscheidung ermöglicht werden, und eine andere Freiheit zu sich selbst, zu der wir uns selbst aus freiem Entschluß erheben, gibt es nicht.“

Reflexion meint also „[r]eflexives Mitgehen mit dem Vollzuge, nicht vergegenständlichendes Gegenübertreten“. Das ist die Form von Reflexion, die zunehmend Gadamers Interesse findet und auf die er anspielt durch die Rede vom Vollzugswissen. Es ist damit der Sachverhalt gemeint, dass in jedem bewussten Akt ein Rückbezug auf einen selbst gegeben ist, ohne jedoch ausdrücklich thematisch zu werden. Immer wieder findet sich zur Verdeutlichung dieser Auffassung der Hinweis, dass der Terminus „Reflexion“ aus der Optik komme und in der Stoa Eingang gefunden habe in die Philosophie. – Nicht ohne die Eigenart des Lichtes für die philosophische Konzeption des Bewusstseins zu berücksichtigen: Das Licht erhellt sich selbst, indem es etwas anderes erhellt.57 So ist auch der Mensch sich seiner bewusst, indem er aufgeht im jeweiligen Akt und ganz bei den Dingen ist. Dieses „Weggegebensein“58 ist die Ermöglichungsbedingung dafür, ausdrücklich auf sich zu reflektieren.

Die ausdrückliche Reflexion auf sich hat dagegen Störungscharakter und zielt auf Entstörung, sodass das Bewusstsein sozusagen wieder zurückfällt in die begleitende Gestalt. Um die Nachrangigkeit dieser ausdrücklichen Reflexion auf sich zum Ausdruck zu bringen, wird sie als „Sekundärphänomen“59 angesprochen. Bemerkenswert ist bei diesem Hinweis, dass er als phänomenologisch gekennzeichnet und an psychologisch gehaltenen Beispielen verdeutlicht wird: So kommt es zur Selbstreflexion etwa im Krankheitsfall, wenn mir etwas fehlt.60 Überhaupt fällt auf, dass Gadamer diese Art von Reflexion als psychologischen Sachverhalt thematisiert: also als Introspektion, als Rückwendung auf das eigene Innere, das nun an die Stelle des Gegenstandes rückt und dadurch vergegenständlicht wird. So führt er als Beispiel etwa an: „[…] wird sich jemand des Zornes bewusst, der ihn erfüllt, so ist dieses erreichte Selbstbewusstsein immer schon eine Verwandlung, wenn nicht gar eine Verwindung des eigenen Zornes.“ Besonders aufschlussreich ist, dass dieses Beispiel angeführt wird, um die Reflexionsthematik bei Kant und den Idealisten zu verdeutlichen. Dort spricht er anfangs noch vom Wissen und der Aufstufung der Reflexion: „Wenn ich weiß, so kann ich stets auch wissen, daß ich weiß. Diese Bewegung der Reflexion ist unendlich.“61 Das lässt eine Erörterung der Reflexion in transzendentaler Hinsicht möglich erscheinen, jedoch kommt hier – durch das im Anschluss gegebene Beispiel des Zorns – die transzendentale Reflexion gar nicht in Sicht, sondern wird kurzerhand abgebogen auf den Reflexionstypus empirisch-psychologischer Art.

An diesem Beispiel wird auch deutlich, was hier Distanz meint: Reflexion hebt die Unmittelbarkeit des Aktes auf, indem er vergegenständlicht wird. Darauf weist Gadamer oft hin, indem er an die Unterscheidung von actus exercitus und actus signatus erinnert, wie sie ihm von Heidegger vermittelt wurde.62 Der actus exercitus meint die intentio recta des Bewusstseins, den Vollzugssinn: Hier ist das Bewusstsein gleichsam bei den Dingen, weggegeben an den Akt. Im actus signatus hingegen kommt es zu einer intentio obliqua, zu einer reflexiven Stellung des Bewusstseins. Es ist möglich, die jeweilige Einstellung zum Akt zu ändern, wenngleich die häufigere Bewusstseinsstellung diejenige des actus exercitus ist, die auch die Voraussetzung für den actus signatus darstellt. Man kann einen Akt nicht nur vollziehen, sondern ihn zum Gegenstand einer Reflexion machen:

„Man kann das Fragen als Fragen signieren, also nicht nur fragen, sondern sagen, daß man fragt, und daß das und das fraglich ist. Diesen Übergang aus der unmittelbaren, direkten in die reflexive Intention rückgängig zu machen, das schien uns nun damals wie ein Weg ins Freie.“63

Auch hier fehlt jede Verdeutlichung der obliquen Intention hin auf eine transzendentale Reflexion. Vielmehr weist Gadamer wiederholt darauf hin, dass Brentano diesbezüglich die wesentliche Vorarbeit geleistet habe, indem er an die aristotelische Konzeption des Begleitbewusstseins erinnerte. Mit seiner Unterscheidung „des reflexiven Inneseins von der objektivierenden Reflexion“64 lässt sich klar machen, dass es eine „mit den seelischen Akten mitgehende Reflexion [gibt], die nicht den Akt, auf den sie bezogen ist, durch ihr Mitgehen zum Gegenstande macht, sondern vielmehr dem Aktvollzug wesentlich zugehört“65. So ist im Hören von Musik die Musik „primäres Objekt“, das gegenständlich bewusst ist, damit geht aber auch ein Bewusstsein des Hörens einher, ohne dass dieses „sekundäre Objekt“, das Hören, ausdrücklich Gegenstand der Wahrnehmung würde. Gegenständlich wahrgenommen wird die Musik, mitwahrgenommen wird sozusagen das Hören.

Die Wendung vom „reflexiven Innesein“ findet sich so übrigens nicht bei Brentano, der diesbezüglich von der „inneren Wahrnehmung“ spricht. Allerdings bietet Gadamer in einem anderen Zusammenhang eine Ausdeutung dieser Wendung an, die das Gemeinte verdeutlicht66: Mit Innesein sieht Gadamer ein Gefühl bezeichnet, in dem eine Trennung zwischen dem Zustand des Gefühls und dem Gehalt des Gefühls erst gar nicht aufkommt. So ist man sich dessen inne, dass man zornig ist oder dass man hört, d. h., man unterscheidet hier gerade nicht zwischen dem Vollzug und dem Gehalt des Gefühls. Erst im Nachhinein, in der Erinnerung, kommt es zur objektivierenden Reflexion, sodass man das, worauf man reflektiert, nicht mehr vollzieht: etwa den Zorn. Nur wenn man sich diesen Reflexionsbegriff Gadamers vor Augen hält, werden die Vorbehalte gegenüber Reflexion nachvollziehbar: Sie sei distanzierend, vergegenständlichend und auflösend.

Wenn auf den Akt des Hörens explizit Bezug genommen wird, dann in der Regel aufgrund einer Störung: weil ich plötzlich ein Problem habe, genau zu hören etc. Durch diese Bezugnahme wird erneut deutlich, dass Gadamer Reflexion psychologisch versteht: Er betont selbst, von Brentano den Unterschied zwischen „innerer Wahrnehmung“, in der das Hören mit wahrgenommen wird, und „innerer Beobachtung“ gelernt zu haben.67 Das oben angeführte Beispiel des Zorns findet sich übrigens auch bei Brentano, der damit die eben angesprochene Unterscheidung von Wahrnehmung und Beobachtung im Bereich innerer Erfahrung verdeutlichen will. Der Kontext ist allerdings der einer Begründung der Psychologie als einer empirischen Wissenschaft, die ihre „Quelle“ in dieser inneren Erfahrung hat. Reflexion im transzendentalen Sinne ist für diese Unterscheidungen kein Thema. In diesem Sinne beschränkt ja auch Kant die innere Erfahrung als „Quelle“ auf die empirische Psychologie.68

Im Vollzug der Wahrnehmung sei, so Brentano, die Aufmerksamkeit des Bewusstseins auf den Gegenstand der Wahrnehmung gerichtet, die Wahrnehmung selbst werde nur sekundär, nebenbei wahrgenommen. Allerdings sei es möglich, die Wahrnehmung selbst zum Gegenstand zu machen, also zu beobachten: jedoch nie im Vollzug, sondern nur im Nachhinein, indem man sie im Gedächtnis vor sich bringt und ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Beachtenswert ist auch, dass Brentano in diesem Zusammenhang von Aufmerksamkeit redet, nicht jedoch von Reflexion und auch nicht von obliquer Intention.

Welchen Nutzen Gadamer für seine Hermeneutik daraus zieht, lässt sich anhand folgender Terminologisierungen erläutern: In „Die Aktualität des Schönen“ (1974) kennzeichnet er das historische Bewusstsein als etwas, das nicht als „eine besonders gelehrte oder weltanschaulich bedingte methodische Haltung“ gelten könne, sondern was allen, aufgrund allgemeiner historischer Bildung „selbstverständlich“ sei. Dieses historische Bewusstsein sei so sedimentiert, dass die „modernen Menschen“ „sich dessen nicht einmal bewußt sind, daß sie mit historischem Bewußtsein“69 z. B. an ein Bild herangehen: Man weiß um den eigenen geschichtlichen Standpunkt im Unterschied zu anderen Epochen. Dies erlaubt es, z. B. biblische Themen in der Malerei in je unterschiedlicher historischer Einbettung wieder zu erkennen. Der eigene Standpunkt wird dabei aber nicht reflektiert. Trotzdem ist man sich aufgrund dieses Mitbewusstseins des Abstandes und der Andersheit des jeweils Wahrgenommenen bewusst. Im Rahmen dieser Ausführungen kommt er auf einen weiteren Reflexionsbegriff zu sprechen, der bislang unerwähnt blieb und der uns in diesem Zusammenhang auch nicht weiter zu beschäftigen braucht. Es ist dies die „Sekundärreflexion“70, die ausdrücklich vollzogen wird: Diese wirkt vergegenständlichend, indem sie sich ausdrücklich auf die historischen Details selbst richtet, sei es weil sie einem sehr fremd vorkommen, sei es weil man sich ausdrücklich mit historischen oder ästhetischen Fragen beschäftigt. Durch diese sekundäre, ausdrückliche Reflexion, in der man sich von einem Bild nicht mehr unmittelbar ansprechen lässt, findet dann die ästhetische Unterscheidung statt, die es einem erlaubt, ästhetisch zu evaluieren. In diesem Reflexionsbegriff scheint ein weiterer Grund für die „Abdämpfung der Reflexion“ durch, der hier lediglich angesprochen sei: die Berücksichtigung personal-dialogischer Aspekte in Gadamers Hermeneutik.71

Die Reflexion als Mitbewusstsein des eigenen Standpunkts hat nach Gadamer den Charakter des Spiels: Er spricht vom „Reflexionsspiel“72, wodurch deutlich gemacht werden sollte, dass hier, in der Erfahrung von Kunst, kein Subjekt-Objekt-Gegensatz aufkommt. – Diese Verbindung von Spiel und Reflexion kommt einem bei Gadamer öfter unter. So ist auch davon die Rede, dass Reflexion „in der Weise im Spiel“ sei, „daß sie mit dem gelebten Vollzug mitgeht“.73 Vergegenwärtigt man sich seine Aussagen, wie sie in „Wahrheit und Methode“ zu Beginn über das Spiel der Kunst und am Ende über das Spiel der Sprache zu finden sind, dann wird auch die mit diesen Wendungen verbundene Absicht nachvollziehbar: Es geht darum, den Stellenwert des Subjekts in bestimmter Hinsicht als möglichst gering zu veranschlagen. Beim Spiel kommt es darauf an, mitzuspielen, im Spiel aufzugehen. Deshalb spielt nicht der Spieler das Spiel, sondern das Spiel selbst spielt. Hinsichtlich der Reflexion im Sinne eines unthematischen Rückbezogenseins auf einen selbst wird daraus deutlich, dass das Mitdabeisein etwas ist, das „sich abspielt“, das gegeben und nicht als Leistung des Subjekts zu verbuchen ist. Ein Rückbezug auf uns selbst ist in allen Vollzügen dabei, mit im Spiel. Wie sonst könnte hier dem Spielbegriff ein Sinn abgewonnen werden? Wenn die Rede davon ist, dass dem Spiel „der Primat […] gegenüber dem Bewußtsein des Spielenden“74 zukommt, und die Dimension des Spiels als „ein Jenseits des Selbstbewußtseins“75 angesetzt wird, dann ist darunter wohl Selbstbewusstsein im Sinne der ausdrücklichen Zuwendung auf sich selbst zu verstehen. Doch auch so wird der Gegensatz zur neuzeitlichen Auffassung von Reflexion erneut deutlich, wo Reflexion – als ausdrücklicher Rückbezug – dem Subjekt aufgrund der Spontaneität seines Denkens jederzeit als möglich zugedacht wird.76

Welche Reflexion ist aber im Spiel für die Hermeneutik selbst und die Begründung ihrer Aussagen? Welche Art von Reflexion ist es, wenn in „Wahrheit und Methode“ die Rede von der „Durchreflexion des historischen Bewußtseins“77 ist, woraus sich „zwingende Forderungen“ – wie es dort heißt – ergeben?

Aus dem Bisherigen wurde die Auffassung von Reflexion, wie sie für Gadamer zentral ist, gewonnen: Unser Bewusstsein ist intentional, das heißt „zunächst und zumeist“ auf die Dinge gerichtet. In diesem Weltbezug ist aber immer ein Rückbezug auf das eigene Selbst unthematisch mit dabei: Ansonsten ließe sich auch das Theorem der Applikation gar nicht denken, womit Gadamer betont, dass jedes Verstehen von einem bestimmten Standpunkt aus geschieht, von dem aus und auf den hin gewissermaßen das Verstehen vollzogen wird. Verdeutlicht wird dieses applikative Moment in „Wahrheit und Methode“ durch die Erinnerung an die phronesis, für die Gadamer die Übersetzung des „Sich-Wissens“78 vorschlägt: Dadurch wird der Selbstbezug ausgesprochen, insofern es im sittlichen Wissen um einen selber geht. Denn hierbei geht es um die Einschätzung einer Situation auf das Tunliche hin, in die sich der Handelnde gestellt weiß und die er seinem sittlichen Sein gemäß vornimmt.79 In der Herausstellung dieses Rückbezugs geht es Gadamer um die „Abdämpfung der Reflexion“. Ausdrückliche, thematische Rückwendung auf sich, bzw. auf den jeweiligen Gehalt des Denkens ist sekundär. Durch diese Herausarbeitung dürfte klar geworden sein, dass transzendentale Reflexion keine Berücksichtigung findet und ausdrückliches Reflektieren als sekundär abgetan wird.

III.

Grundsätzlich steht die Reflexionsthematik im Horizont der Selbstbewusstseinsproblematik. Reflexivität wurde in der neuzeitlichen Philosophie tragend als Grundstruktur der Subjektivität: In der ausdrücklichen, spontanen Zurückwendung auf sich erreicht das Subjekt Selbstgewissheit, die unerschütterlich ist. Dadurch nimmt das Selbstbewusstsein die Stelle eines Prinzips ein, von dem aus gewisse Erkenntnis ihren Ausgang nimmt. Gadamer hält dies für eine Verkehrung der phänomenologischen Tatsachen, ist doch ausdrückliches Selbstbewusstsein ein „Sekundärphänomen“. Aus diesem Grunde hegt er auch eine gewisse Sympathie für die Selbstbewusstseinskonzeption von J.-P. Sartre, der ein präreflexives Cogito (conscience de soi) annimmt.80

Überhaupt ist hier interessant, dass sich Gadamer gewissen subjektivitätstheoretischen Einsichten nicht verschließt, wenngleich sie über kleinste Andeutungen nicht hinausgehen: So scheint er sich darüber im Klaren zu sein, dass das von ihm vertretene Begleitbewusstsein nicht nur ein psychologischer, sondern ein logischer Sachverhalt zu sein hat. Das begegnete bereits in der Argumentation, wie sie Gadamer in „Platos dialektische Ethik“ (1931) vornahm und die sich auf das Aufgehen in der Lust bezog. Und ganz ähnlich wie in der ebenfalls schon angeführten Kommentierung zum „Charmides“, nur noch eindringlicher, betont er: „Das Sich-Verhalten des Lebendigen läßt sich nur [!] denken vom Ich her, das seiner selbst bewußt ist. Das ist nicht ein anthropomorphistischer Schein, den etwa die moderne Verhaltensforschung zur Demütigung des Menschen aufgearbeitet hat, sondern ist ein methodisch zwingender Tatbestand.“81 Es wurde auch schon von seiner „kantischen“ Argumentation gesprochen, wonach Gegenstandsbewusstsein Voraussetzung für empirisches Selbstbewusstsein sei. Das setzt letzten Endes aber doch ein logisches Selbstbewusstsein – mit dem Kants „daß ich bin“ einhergeht – schon voraus, um dann ausdrücklich auf sich zurückkommen zu können. Und tatsächlich, abgesehen von der Referenz auf Sartre, findet sich einmal der Hinweis unter der Bezeichnung einer Selbstempfindung:

„Es ist eine Welt griechischen Selbstseins, die sich hier öffnet. Selbstbewegung des Lebendigen, das nicht geschoben und gestoßen wird, sondern von sich aus sich bewegen kann, in der Wärme, die plötzlich wie von selber zur Flamme aufschlägt, wenn das Holzscheit im Kamin Feuer fängt, in der Selbstempfindung, die von allen unseren Empfindungen und Wahrnehmungen untrennbar ist und ihnen als ihre Möglichkeit vorausliegt [!], und am Ende im Wissen, das so ist, daß es immer zugleich sein eigenes Wissendsein weiß.“

Sogleich fährt Gadamer aber in erwarteter, wenn auch in Bezug auf das Vorige widersprüchlicher Weise fort:

„Allerdings steht hier nichts von jenem neuen Primat des Selbstbewußtseins gegenüber dem Weltbewußtsein im Blick, nichts von jener Umkehrung und Verkehrung von Weltbewußtsein und Selbstbewußtsein, die das moderne Denken auszeichnet […]“82

Diese Einsichten werden ebenso leichtfertig verspielt, wenn er die Selbstgewissheit des Selbstbewusstseins erschüttert sieht durch Marx, Nietzsche, Freud. Wie sehr auch hier Selbstbewusstsein im psychologischen Sinne gefasst wird, macht die Behauptung deutlich, dass die Entdeckung des Unbewussten „dem Selbstbewusstsein eine nur epiphänomenale Legitimität beläßt“.83

Eine weitere Argumentationsstrategie Gadamers wird durch sein Programm einer „Abdämpfung sowohl der Subjektivität als auch der Reflexion“ einsichtig. In der Bemühung um die Anerkennung des Andern, die seit den achtziger Jahren nicht zuletzt durch die Herausforderung der Dekonstruktion vordringlich wurde, bezieht sich Gadamer auf den griechischen Begriff der Freundschaft.84 Anerkennungstheorien, wie sie von Fichte und Hegel erarbeitet wurden, scheiden für ihn aufgrund des Stellenwertes des Subjektgedankens aus. Die Anerkennung des Andern findet seine Begründung in der Freundschaftskonzeption: Zwar ist für Aristoteles Selbstliebe (philautia) Voraussetzung für Freundschaft, zugleich setzt er aber diese Selbstliebe derart von einem Autarkie-Ideal ab, dass damit nicht gemeint sein kann, man brauche keine Freunde. Freunde sind notwendig für die Selbsterkenntnis. Der Freund, der einer ist, weil man sich auf etwas Gemeinsames hin versteht, ist das bessere Selbst: In ihm erkennt man sich – leichter jedenfalls, als dies einem sich selbst gegenüber möglich ist; „im anderen“85 versteht man sich selbst besser. Die Anreicherung des eigenen Standpunktes durch die Perspektive des andern ist dadurch möglich, weil man sich durch das Mitsein im Verstehensvollzug im Verstehen des andern zugleich selbst versteht. Indem man den Freund versteht, versteht man sich, er ist ein „Spiegel der Selbsterkenntnis“86. Aufgrund unserer Ausführungen über die Reflexionsauffassung bei Gadamer wird nun auch deutlich, was damit gemeint sein kann, dass das „Mitsein“ eine „grundsätzliche anthropologische Bedeutung“ hat: Das Mitsein im Vollzug, das in jedem Aufgehen im Vollzug einen – wenn auch unthematischen – Rückbezug meint, wird in der Freundschaft „zum Mitsein mit dem anderen erweitert“.87 Diese Ausdeutung des „Mit“, das von einem logischen Sachverhalt hin zu einem anthropologischen erweitert wird, mag Folgendes heißen: Wenn man den Ausführungen folgt, dann vollzieht sich die Wahrnehmung eines Gemäldes dermaßen, dass man in gewisser Weise ganz beim Bild ist im Vollzug des Sehens; dabei ist aber ein unthematischer Rückbezug auf sich gegeben, da es sich um einen bewussten Vollzug handelt. In der anthropologischen Ausdeutung meint dieses Mitdabeisein wohl, dass im Sehen auch ein unthematischer Rückbezug auf den Freund mit einhergeht. Man sieht sozusagen für den anderen mit und achtet auf bestimmte Details in der bildlichen Darstellung, die den Freund interessieren könnten. Mitsein im anthropologischen Sinne wird bei Gadamer dann ins Ethische übergeführt durch den Hinweis, dass Freundschaft auf Zusammenleben hindränge.

IV.

Es hat sich gezeigt, dass Gadamer einen bestimmten Reflexionstypus bevorzugt, der eine unausdrückliche Rückbezüglichkeit auf einen selbst meint. Dagegen weist er anhand der Unterscheidung von „innerer Wahrnehmung“ und „innerer Beobachtung“ eine transzendentale Reflexion zurück. Dem liegt jedoch eine Konfundierung der Reflexionstypen zugrunde, sodass seine Zurückweisung grundlos erscheinen muss. Nicht nur, dass die Unterscheidung, wie er sie anhand von Brentano gewinnt, aus dem Bereich der Psychologie stammt, auch er selbst thematisiert Reflexion im Wesentlichen als psychologische: ausdrückliche, thematische Reflexion im Sinne von Introspektion, innerer Beobachtung. Vor diesem Hintergrund wird auch sein Vorbehalt gegenüber einer ausdrücklichen Reflexion verständlich, die er mit den Vorwürfen einer Subjekt-Objekt-Spaltung bzw. einer Distanznahme und der Vergegenständlichung dessen, worauf sie gerichtet ist, belastet.

Um die Verwechslung zwischen den angesprochenen Reflexionstypen hintanzuhalten,88 empfiehlt sich eine kurze Verdeutlichung anhand von Locke, der Reflexion als empirisch-psychologische gefasst hat. Für ihn gibt es zwei Quellen unserer Erkenntnis, den äußeren und den inneren Sinn. Während die „sensation“ von außen her den Verstand mit Material versorgt, richtet sich die „reflection“ auf die Operationen des Verstandes selbst. Die Reflexion unterscheidet sich von der sinnlichen Wahrnehmung in zweierlei Hinsicht: einmal im Bereich, da sie aufs Innere gerichtet ist, darüber hinaus in der Struktur, insofern sie zwar auch als Wahrnehmung gedacht wird, jedoch selbstbezüglich ist, da es sich um ein Wahrnehmen des Wahrnehmens handelt.89 Die so verstandene Reflexion, die gemäß dieser „Sensifizierung des Verstandes“ (Kant) als Denken auch Wahrnehmung ist, richtet sich, wenn auch nach innen, so doch ganz nach Art einer Wahrnehmung von Gegenständen: auf die im Bewusstsein vorfindlichen Ideen (wobei unter diesen Ideen sowohl die Vollzüge des Bewusstseins als auch die Ergebnisse dieser Vollzüge verstanden werden), weshalb sie am besten als empirisch-psychologische Reflexion gekennzeichnet ist. Das Umbiegen, die intentio obliqua, des Denkens auf das Denken selbst wird so jedoch gar nicht erreicht.90 Eine transzendentale Reflexion wird also auch im Begriff der Reflexion selbst und nicht nur durch die Verwechslung der Geltungsfrage mit einer Auskunft über das Entstehen der Ideen versäumt. Transzendentale Reflexion richtet sich nicht auf Gegenstände, will sie doch allererst die apriorischen Möglichkeitsbedingungen für Gegenständlichkeit und ineins für gültige Erkenntnis erheben, die nicht aus der Erfahrung, weder des innern noch äußern Sinnes, gewonnen werden können. Sie reflektiert nicht auf psychische Zustände im Sinne einer Introspektion. Vielmehr geht es darum, die transzendentallogischen Voraussetzungen von Erkennen zu erheben, jedoch nicht durch Reflexion auf das jeweilige psychische Innenleben im Sinne der Selbstbeobachtung, sondern auf Erkenntnis überhaupt, also unabhängig (a priori) von jeder inhaltlichen Bestimmtheit. Darin wird auch das Subjekt thematisch, jedoch nicht in seiner psychischen Verfassung, sondern als der angesprochene logische Sachverhalt.

In den Arbeiten Gadamers finden sich genügend Markierungen, die uns zu seinem Begriff von Reflexion als Vollzugswissen bzw. als unthematischer Rückbezug auf einen selbst gewiesen haben. Damit konnte Gadamers Weg nachgegangen werden, um bei dieser Änderung anzukommen. Es gibt manch andere Korrekturen, die der späte Gadamer vorgenommen hat und denen größere Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, wie z. B. der bezüglich der Produktivität des Abstandes. Während Gadamer diesen früher ausschließlich als Zeitenabstand fasste, machte er in den späten Jahren darauf aufmerksam, dass dabei auch an andere Formen des Abstandes zu denken ist: „Later, I indicated that we are not only dealing with the distance between ages but more so with the otherness of the other which makes [!] one reflective.“91 Hier ist offensichtlich von einer anderen Gestalt der Reflexion die Rede, die in der Begegnung mit dem Anderen allererst zum Tragen kommt. Damit kann also nicht Reflexion im Sinne des stets begleitenden Bewusstseins gemeint sein. In der Begegnung mit dem Andern wird man aber auch nicht mit der Reflexion im psychologischen Sinne sein Auslangen finden. Vielmehr werden hier Behauptungen mit Wahrheitsansprüchen gegeneinander stehen, die der Prüfung bedürfen. Wenn ein Gespräch, wie Gadamer schon früh hervorgehoben hat, damit abgebrochen wird, dass man zwar versichert, den Andern zu verstehen, ihm aber nicht zustimmt, dann bedarf die Aufrechterhaltung des Gesprächs einer Reflexion, die sich auf die apriorischen Möglichkeitsbedingungen gültiger Erkenntnis und gültigen Verstehens richtet.

Gadamer verstehen

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