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Einleitung
In „Wahrheit und Methode“ (1960) sieht Gadamer die Aufgabe seiner Hermeneutik im Begründen der Behauptung, dass das Verstehen ein Wiedererkennen voraussetze, durch das es zum Andersverstehen werde. Wie voraussetzungsreich diese These vom Verstehen als einem Andersverstehen ist, zählt zu den herausfordernden Erfahrungen der Lektüre von „Wahrheit und Methode“. Gadamers Hauptwerk gehört zu jenen philosophischen Entwürfen, die ihre ideengeschichtlichen Anknüpfungspunkte hinter einer nur schwer zu entwirrenden Komplexität systematischer Zusammenhänge verbergen; und sein Hauptwerk ist der Versuch einer Neuaneignung und Rekonstruktion der philosophischen Tradition, der den Deutschen Idealismus ebenso einschließt wie die Philosophie Platons und Aristoteles’. Vieles, was begrifflich und gedanklich in Gadamers Konzeption philosophischer Hermeneutik eingeht, ist auch mit systematischer Referenz auf eine Diskussion formuliert worden, die nach Hegels Tod die deutschsprachige Philosophie über mehrere Jahrzehnte in Atem hielt: die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Philosophiegeschichte. Diese Frage kreist um das Problem, das bereits dem Neukantianismus nicht fremd war: Dieser forderte eine Rückkehr zu Kant, weil er sich beunruhigt fragen musste, was der Philosophie nach ihrer Ausfaltung in die Wissenschaften noch an Möglichkeiten verbleibt, um sich als eine wissenschaftliche Disziplin rechtfertigen zu können. Gadamer stellt sich diese Frage – vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Neukantianismus nach dem Ersten Weltkrieg – nunmehr dahingehend, was die Philosophie jenseits ihrer engen Anbindung an die Wissenschaft überhaupt noch sein könne. Das erklärt wenigstens ansatzhaft, warum „Wahrheit und Methode“ nicht in erster Linie aus einer Beschäftigung mit Autoren entstand, die als klassische Vertreter der Hermeneutik gelten können. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für sein philosophisches Verständnis von Hermeneutik?
Mit Gadamers Verweis auf die Frage, was der Philosophie angesichts der Dominanz der Naturwissenschaften noch zu tun bleibt, ist das Problem der systematischen Zusammenhänge zunächst ebenso wenig aufzulösen wie mit seinem Hinweis auf den für seinen Denkweg bedeutsamen Umgang mit den platonischen Dialogen. Dass Platon für Gadamer im Kreis der Klassiker des philosophischen Gedankens eine exponierte Stellung einnimmt, darüber belehrt nicht zuletzt der lange Zeitraum, über den hinweg sich seine Beschäftigung mit Platon erstreckt, der mit der Marburger Dissertation zum „Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen“ von 1922 bis zu dem 1991 publizierten Band VII der Werkausgabe unter dem Titel „Platon im Dialog“ reicht. Doch wie aussagekräftig ist seine intensive Beschäftigung mit Platon für eine Deutung, die zentralen Begriffen Gadamers gilt? Darüber hinaus fehlt es nicht an biographischen Hinweisen Gadamers über seine philosophischen Lehrer. So hat Gadamer immer wieder betont, wie sehr er durch seinen Lehrer Martin Heidegger geprägt worden sei, zu dem er in Platon eine Gegenkraft gesucht und gefunden habe. Und er hat darauf verwiesen, wie sehr ihn Hegels Geistphilosophie fasziniert hat. Als Herausforderung bleiben jedoch die philosophische Erhellung der mannigfachen Traditionsstränge, die Gadamers Werk durchziehen, und die Durchdringung der Aufnahme und Weiterentwicklung, die sie durch Gadamer erfahren haben, bestehen.
Die Gliederung der Beiträge im vorliegenden Band versucht den vielschichtigen systematischen Zusammenhängen sowohl im Hinblick auf grundlegende Problemstellungen (Grundlagen: Der Gegenstand der Hermeneutik und ihre Begründung) als auch unter Berücksichtung maßgebender Anknüpfungspunkte (Quellen: Gadamers hermeneutischer Rückgang auf Platon, Kontexte: Schleiermacher, Heidegger, Bultmann) Rechnung zu tragen. Mit den Themen Hermeneutik und Ästhetik, Sprache und Gespräch sowie Wahrheit und Sprache werden zentrale Fragestellungen und strittige Problemzusammenhänge kritisch erörtert. Diese Gliederung will die Aufgabe transparent machen, die sich der vorliegende Band stellt: die Grundgedanken der philosophischen Hermeneutik im Kontext der philosophiegeschichtlichen Anknüpfungspunkte systematisch-kritisch zu erörtern. In der internationalen Forschung, deren Ergebnisse in diesem Band aufeinander treffen, haben sich unterschiedliche Perspektiven herausgebildet, von denen aus die Grundprobleme und Hauptthemen von Gadamers philosophischer Hermeneutik ausgelegt werden. Diese Vielzahl der Perspektiven eröffnet zugleich den Blick auf den systematischen Zusammenhang von Gadamers Prämissen und Thesen. So erlauben die Beiträge nicht nur einen Rückblick auf Diskussionen, die Gadamer entweder direkt auslöste oder in die er einbezogen wurde. Vielmehr werden Erörterungen präsentiert, die neue Sinnaspekte an Gadamers Werk hervortreten lassen und dieses produktiv weiterführen. Die Internationalität, wie sie in der Liste der Autoren zum Ausdruck kommt, soll nicht nur die immense Wirkung von Gadamers Hermeneutik, sondern auch die Anregung, die sie in vielfältigster Weise für gegenwärtiges Philosophieren darstellt, deutlich machen.
Die angesprochenen Einflüsse und ihre Wirkung sind – von Monographien und Festschriften einmal abgesehen – bislang kaum komprimiert in einem Band dokumentiert worden. Über die Interpretationsansätze im angelsächsischen Sprachraum gibt der von Hahn edierte Band einen Überblick (The Philosophy of Hans-Georg Gadamer, ed. by L. E. Hahn, Chicago/La Salle 1997 [The Library of Living Philosophers Vol. XXIV]). Für den deutschsprachigen Raum gibt es bislang nichts Vergleichbares. Mit diesem Band soll die Lücke kleiner werden.
Olmütz/Linz 2003
Mirko Wischke und Michael Hofer