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Das Interpretandum in der philosophischen Hermeneutik Gadamers
ОглавлениеDie große Präsenz von Gadamers Hauptwerk setzt in Erstaunen. Denn seit seinem Erscheinen wird es kritisiert, und z. T. sogar heftig, aber noch immer beherrscht es besonders in Deutschland die Diskussion um die Hermeneutik; ja, für viele scheint das Buch sogar die nähere Bestimmung dessen zu bieten, was man sich unter dem Begriff der Hermeneutik denken muss. Dabei hat selten ein Werk über das Verstehen dem Leser so viele Verständnisschwierigkeiten bereitet. Man wird vielleicht sagen, das liege an seinem echt philosophischen Charakter, da eben alle tiefe Philosophie dem Durchschnittsleser zu hoch sei. Aber es muss erlaubt sein zu fragen, ob nicht gerade auch Untiefen, Unklarheiten und Unstimmigkeiten das Verständnis erschweren. Mir jedenfalls scheint, dass sich zuweilen zwischen den Aussagen des Werkes sowie zwischen einigen seiner Grundgedanken und unserer Erfahrung starke Spannungen zeigen, ja Widersprüche auftun. Natürlich könnte man sich damit beruhigen, dass es – wie immer – verschiedene Lesarten des Textes gibt. Aber da Gadamer m. W. nirgends sagte, er möchte auf ganz widersprechende Art gelesen und verstanden werden, und da mir die objektive Möglichkeit widersprüchlicher Interpretationen auch kein Gütesiegel theoretischer Texte zu sein scheint, möchte ich auf jene Möglichkeit der Beruhigung vorerst verzichten.
Um jene Verstehensschwierigkeiten zu erörtern, wähle ich eine für alle Hermeneutik grundlegende, aber wenig tiefsinnige Frage, die offenkundig ebenso einfach zu beantworten wie zu verstehen ist: Was ist der Gegenstand des Verstehens und Auslegens in dieser philosophischen Hermeneutik? Mit welchem Verstehen befasst sie sich, was ist ihr Interpretandum?
I. Rede und Text
Die Antwort auf diese Frage erscheint auf den ersten Blick ganz leicht, handelt doch ein eigenes Kapitel – wie es in der Überschrift heißt – von der „Sprachlichkeit als Bestimmung des hermeneutischen Gegenstandes“ (367).1 Was verstanden und ausgelegt wird, ist Sprache, geschriebene und gesprochene, also Text und Rede. Fragen wir aber, ob – wie bei Schleiermacher – diese Hermeneutik für beide in gleicher Weise gedacht ist, geraten wir schon ins Zögern. Denn einerseits wird das Verstehen im wirklichen Gespräch zwischen Subjekten zum Vorbild allen Verstehens erklärt, andererseits aber passen die Aussagen zum Dialog nicht zur Charakteristik des Interpretierens in den Geisteswissenschaften. Denn während Gadamer für das Gespräch feststellt, dass man sich „in den anderen versetzt, um seinen Standpunkt zu verstehen“ und „das, was er sagt“ (364, 363), wird solches Sich-Versetzen im Hinblick auf das Verstehen der „Überlieferung“, um das es in unserem Werk vor allem geht, als Mangel eines naiven Historismus ausdrücklich abgewiesen und stattdessen die „Verschmelzung“ der Horizonte behauptet (281, 286–290). Umgekehrt wird das geisteswissenschaftliche Verstehen der Überlieferung so charakterisiert, dass wir es in keinem Dialog finden werden. Denn nehmen wir an, mein Nachbar verwickelt mich in ein Gespräch über unsere politische Situation, so werde ich aus seinem Munde keine „vollkommene Wahrheit“ erwarten (278), werde keinen produktiven „Zeitenabstand“ (275 ff.) zwischen uns erkennen, werde mich nicht schon in der „Wirkungsgeschichte“ (284 ff.) seiner Ansichten befinden, werde vermutlich auch keine „Horizontverschmelzung“ vollziehen und seine Rede auch nicht gleich bei der nächsten Wahl „anwenden“ – und doch werde ich seinen politischen Standpunkt weitgehend verstehen können.
Da Gadamers Hermeneutik (zumeist) die Meinung und die Intention des Sprechers oder Autors für unwichtig erklärt und durch die „Sache“, die Wahrheit des Interpretandums ersetzt, ist sie als Theorie des Verstehens im Kommunikationsprozess ganz ungeeignet.2 Schließlich muss jeder Dialog scheitern, wenn man die Intention des Gesprächspartners für gleichgültig erklärt. Während Schleiermacher in seiner Hermeneutik mit Recht fordern konnte, man solle das Verstehen im lebendigen Gespräch üben, da schon hier Verstehensschwierigkeiten auftauchen können, wie sie seine Hermeneutik zum Thema macht,3 hätte Gadamer das Gespräch besser ganz ausklammern sollen, da es ihm eben gar nicht um die Meinung von Autoren und Sprechern, sondern um die Traditionsvermittlung geht. Wenngleich er das Verhältnis zur Überlieferung – wegen der Dialektik von Frage und Antwort – ein „Gespräch“ nennt (z. B. 437), handelt es sich doch hier nur um eine sehr entfernte Analogie dazu. Denn das Traditionsverhältnis ist bei Gadamer ein Gespräch zwischen sehr ungleichen Partnern, da man erstens gar nicht mit einem anderen Subjekt, sondern mit der „Überlieferung“ spricht und da diese zweitens immer Recht hat. Außerdem – so müssen wir hinzufügen – hat eben der tradierte Text wenig Möglichkeiten, sich gegen entstellende Interpretationen zu wehren, was lebendige Gesprächspartner im Hinblick auf Missverständnisse temperamentvoll tun können.
Nun will das Buch einem besseren Selbstverständnis der Geisteswissenschaften dienlich sein, und deshalb ist es zentral auch gar nicht auf das Verstehen der lebendigen Rede ausgerichtet, sondern befasst sich über weite Strecken mit dem Verstehen und Auslegen von Texten, so wie es auch in der älteren Hermeneutik überwiegend der Fall war. Allerdings gerät der Gadamer-Leser auch im Hinblick auf die Texte in Schwierigkeiten. Denn während alle bisherigen Hermeneutiken sehr deutlich erklärt hatten, für welche Textsorten sie zuständig seien – für alle oder nur für einen Teil –, ergeben sich aus „Wahrheit und Methode“ verschiedene Auskünfte. Zum einen heißt es, „dass grundsätzlich jede schriftliche Überlieferung verstanden werden kann“ (380), ja, dass „dem Verstehen grundsätzlich keine Grenze gesetzt ist“ (379). Demnach stellt sich Gadamer in die Nachfolge der „hermeneutica generalis“, der allgemeinen Hermeneutik, die seit dem 17. Jh. entstand, die allerdings bisher immer auch Grenzen des Verstehens anerkannt hatte. Andererseits aber erklärt Gadamer es, wie erwähnt, zur Bedingung des Verstehens, dass wir bereits in der „Wirkungsgeschichte“ des Interpretandums stehen und seiner Tradition auch „zugehören“ (247 ff., 275, 279). Dadurch engt sich die Menge der verstehbaren Texte aber erheblich ein, und diese Hermeneutik verliert z. B. für Sinologie und Japanologie jedes Interesse. Wird in diesen Fächern etwas verstanden, so scheint es, dann nur von Chinesen und Japanern. Tatsächlich ist der Akzent auf der „Zugehörigkeit“ des Interpreten zu seinem Interpretandum so stark, dass eine interkulturelle Hermeneutik hier kein Fundament findet, ja eigentlich als unmöglich gelten muss.4
Aber auch wenn wir weiterfragen, ob es denn zumindest eine Hermeneutik sei, die für eine bestimmte Tradition Geltung hat und den Europäern zeigt, wie sie die gesamte europäische Literatur, den Chinesen, warum und wie sie die chinesische Tradition verstehen und auslegen können, fällt die Antwort unseres Buches nicht eindeutig aus, und näher besehen wird der Bereich des Interpretandums nochmals eingegrenzt. Denn es gehört, wie Gadamer bekanntlich ausführt, zu einer Interpretation nicht nur das Verstehen (intelligere) und das Auslegen (explicare), sondern auch das Anwenden (applicare). Lassen sich wirklich alle Texte, die von den Geisteswissenschaften inzwischen interpretiert werden, auch „anwenden“? Der Rechtshistoriker F. Wieacker hat begründeten Einspruch erhoben: Wenn auch der Richter die Gesetze auf die vorliegenden Fälle appliziere, so verfahre doch der Rechtshistoriker mit seinem Stoff ganz anders.5 Aber Gadamer hat sich nicht beirren lassen und an seiner These festgehalten; egal ob Rechtsgeschichte oder richterliche Praxis: Verstehen schließe immer Anwendung ein und vollende sich in ihr. Sieht man näher zu, liegt für Gadamer die „Anwendung“ in der rechtshistorischen Interpretation vor allem im Aufweis der „Bedeutung“ alter Gesetze für die Gegenwart (311). Nun wird man aber nicht behaupten wollen, alle Gesetze vergangener Jahrhunderte gehörten nach wie vor zu der Überlieferung, die „in die Gegenwart hineinspricht“ (311), sondern zugeben müssen, dass viele Gesetze der Vergangenheit ihre Bedeutung für die Gegenwart schlicht verloren haben. Durch keine Hermeneutik werden sie ihre Geltung zurückerlangen, und in den meisten Fällen werden wir dies auch begrüßen.
Indem Gadamer die Bestimmung der Bedeutung eines alten Textes für die Gegenwart mit zur „Anwendung“ zählt, subsumiert er dieser offensichtlich auch den Bereich, der sonst „Kritik“ hieß. Solche die Hermeneutik ergänzende Kritik – so wird besonders bei F. Schleiermacher, A. Boeckh und E. D. Hirsch6 deutlich – trägt an den Text Fragestellungen heran, die in ihm nicht vorkommen, und kann so z. B. auch die Bedeutung eines Textes für die Gegenwart erhellen. Gerade im Bereich des Rechts zeigt sich, wie sinnvoll es ist, am Unterschied zwischen Kritik und Anwendung festzuhalten. Denn dem Rechtshistoriker steht es frei, vergangenes Recht in seinem Kontext kritisch zu würdigen, es auf die Gegenwart zu beziehen und dabei vielleicht zur Auffassung zu gelangen, dass es ein sehr ungerechtes Recht gewesen sei, während er die alten Gesetze natürlich nicht anwenden kann. Umgekehrt aber ist der Richter zur Anwendung des geltenden Rechts geradezu gezwungen, während ihm eine Kritik dieses Rechts in seiner richterlichen Praxis verboten ist. Die allgemeine These, Interpretation schließe Anwendung ein, kann also Gadamer nur deshalb mit einiger Mühe aufrechterhalten, weil er zur Anwendung auch die Kritik zählt, was nicht zur Erhellung der Sachlage beiträgt.
Natürlich ist es nur die eine Seite der Kritik, die affirmative, die Gadamer „Anwendung“ nennen kann, und es ist kein Zufall, dass er den Begriff der Kritik durch den der Anwendung ersetzt; geht es ihm doch darum, den „Lebensbezug“ der Überlieferung zu betonen und die Geisteswissenschaften davon abzuhalten, diesen Bezug durch Kritik und Verwissenschaftlichung zu untergraben.7 Lassen wir die Frage beiseite, ob nicht gerade auch der „Lebensbezug“ Traditionskritik nötig macht – „prüfet aber alles, und das Gute behaltet“, sagte der Apostel Paulus8 –, und konzentrieren uns auf das Interpretandum, so stellen wir fest, dass mit der Tilgung der Kritik der Gegenstand des Verstehens so überhöht wird, dass er zu entschwinden droht. Wird ein Literaturhistoriker wirklich davon ausgehen, alle Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart enthalte jeweils eine „überlegene Wahrheit“ (320)? Oder wird er sich nur mit Dichtungen befassen, von denen er dies glaubt? Ja, findet sich überhaupt ein Text, von dem wir die „vollkommene Wahrheit“ (278) erwarten? Diese erwarten nicht einmal die christlichen Kirchen von allen Texten der Bibel. Gut also, dass wir bei Gadamer auch die weichere Formulierung finden, wir sollten die Möglichkeit offen halten, dass der Text es besser weiß als wir (ebd.). Allerdings wird auch das Verstehen so beschrieben, dass es bei kaum einem Text gelingen kann. Denn wenn alles Verständnis ein „Einverständnis“ ist und alles Verstehen auf ein inhaltliches Einverständnis abzielt (168, 276, 507), dann bleiben selbst von der eigenen Tradition kaum noch Texte für die Geisteswissenschaften übrig. Kein Historiker könnte sowohl das „Kommunistische Manifest“ als auch Hitlers „Mein Kampf“ verstehen, und Gadamer hätte in seinem Buch vor Augen geführt, dass er – mit wenigen Ausnahmen wie Aristoteles, Yorck und Heidegger – keinen Autor versteht, da er sie alle kritisiert und keineswegs mit ihnen einverstanden ist.9 So besteht m. E. nur die Möglichkeit, jene Aussagen zum Verstehen zu korrigieren oder aber die Tradition auf die Texte zu beschränken, die als wahr gelten – aber dies hieße vermutlich, die Tradition auszulöschen.
II. Kunst und Ausdruck
Hatten wir bei der erwähnten Überschrift – „Sprachlichkeit als Bestimmung des hermeneutischen Gegenstandes“ – die Überzeugung gewonnen, die philosophische Hermeneutik habe es nur mit der Sprache zu tun, so erfahren wir schon im zweiten Satz jenes Kapitels, dass dies nicht zutrifft, sondern die „sprachliche Überlieferung“ nur „gegenüber aller anderen Überlieferung einen eigentümlichen Vorrang“ hat (367). Tatsächlich handelt diese Hermeneutik z. B. auch vom Verstehen nicht-sprachlicher Künste, so von bildender Kunst und Musik (z. B. 376 f.). Das „Auszulegende“ – heißt es in merkwürdigem Kontrast zur Überschrift – brauche nicht „sprachlicher Natur“, es könne auch „ein Bildwerk oder ein Tonwerk sein“ (376). Schon der erste Teil unseres Werkes hatte ausführlich von der Kunst und ihrer Wahrheit gehandelt und dabei proklamiert, die Ästhetik müsse in Hermeneutik aufgehen (157), und das kann nur heißen, in die gadamersche. Wir sind von der Richtigkeit dieser Forderung schon deshalb nicht überzeugt, weil auch im Feld der Kunst sich ein Missverhältnis zwischen Gegenstandsbereich und allgemeiner Verstehenstheorie zeigt.
So wird einerseits von Gadamer anerkannt, dass „absolute Musik“ „eine reine Formbewegtheit als solche, eine Art klingender Mathematik ist“ (87) und dass sich musikalische Traditionen ausbilden (113). Andererseits aber kann er offensichtlich nicht recht akzeptieren, dass es einen spezifisch musikalischen Sinn gibt, der nur hörend erfasst wird und der keiner sprachlichen Auslegung bedarf. Um zumindest seine Auffassung, der „hermeneutische Vollzug“ sei durch „Sprachlichkeit“ gekennzeichnet und alles Verstehen schließe eine sprachliche Auslegung ein (373 ff.), auch an der Musik zu bestätigen, versichert er uns, alle künstlerische Interpretation, also auch die Aufführung eines Musikwerkes, sei grundsätzlich einer sprachlichen Rechtfertigung fähig (377). Hat man Zweifel, ob das stets zutrifft und solche Rechtfertigungen sehr vielsagend sind, so muss man doch zunächst feststellen, dass durch die mögliche sprachliche Rechtfertigung einer musikalischen Interpretation diese nicht zu einem „sprachlichen Geschehen“ wird, ebenso wenig wie eine Handlung, etwa das Anstreichen einer Hauswand, sich schon deshalb in einen Sprachvorgang verwandelt, weil dergleichen sprachlich gerechtfertigt werden kann. Es wäre also angemessener, zuerst festzuhalten, dass es auch außerhalb der Sprache verstehbaren Sinn gibt. Hätte Gadamer Recht und das Verstehen schlösse immer eine sprachliche Auslegung ein, wir säßen im Konzertsaal und murmelten vor uns hin, um die Töne in Worte zu übersetzen, oder wir verstünden das Gehörte nur, wenn wir es im Programm erläutert und am nächsten Tag in der Zeitung beschrieben fänden. Aber das Gegenteil trifft zu: Nur die Banausen wünschen in der Musik immer einen sprachlichen Leitfaden, der ihnen sagt, was sie da hören. Noch schwieriger wird es, wenn wir nach der „Anwendung“ im Musikverstehen fragen. Wenn Gadamer bei einer Werkaufführung, also bei einer Interpretation qua Reproduktion, in der Anpassung eines älteren Werkes an den Gegenwartsstil eine „Anwendung“ sieht (294), so bedeutet das schon eine arge Strapazierung des Begriffs, da ja in diesem Fall eher die neueren Stilnormen auf die ältere Kunst angewendet werden – also das Gegenteil von dem, was er sonst Anwendung nennt. Aber im hörenden Musikverstehen eine Anwendung zu suchen dürfte gar nicht sinnvoll sein. Die Notizen von Dilthey zum Musikverstehen10 sind deshalb noch immer fruchtbarer als die Andeutungen Gadamers, mag auch Diltheys leitender Begriff des Lebens noch so erläuterungsbedürftig geworden sein.11
Ähnlich verhält es sich mit der bildenden Kunst. Zwar kann Gadamer das Sehen von Bildern als „artikulierendes Lesen“ beschreiben (86) und eine Ontologie des Bildes entwerfen. Ja, er weiß auch, dass die „sprachliche Auslegung grundsätzlich nur approximative Richtigkeit“ besitzt und hinter dem Kunstwerk immer zurückbleibt (378). Aber dennoch wird auch hier von ihm ein eigener, nur optisch erfassbarer Bildsinn nicht recht anerkannt, da er am „Vorrang der Sprache“ festhält. Das wird damit begründet, dass alle Kunstproduktion sich in einer sprachlich artikulierten Welt und aufgrund sprachlich artikulierbarer Absichten vollzieht. Aber während diese Sprache doch gänzlich ihren Inhalt und Sinn verliert, wenn die Bilder fehlen, können diese auch dann noch faszinieren, wenn wir über den Sprachkontext nichts wissen. Es wäre deshalb besser, vom „Vorrang des Sehens“ zu sprechen, sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption und ebenso in der Kunstwissenschaft. Gadamer hat Hegels Begriff des Geistes durch den der Sprache ersetzt, aber da dieser natürlich enger ist als jener, ist seine Kunstphilosophie noch problematischer als die hegelsche.
Wie es ein künstlerisches Produzieren in Tönen, Farben und Formen gibt, so eben auch ein musikalisches und bildnerisches Verstehen, ein Verstehen, das sich in nicht-sprachlichen Zeichensystemen bewegt. Darauf hinzuweisen bedeutet keineswegs, eine „falsche Romantisierung der Unmittelbarkeit“ des Verstehens zu betreiben, wie es bei Gadamer heißt (377), da eben das spezifisch künstlerische Denken und Verstehen natürlich auch vermittelt sind, nämlich durch die Vertrautheit mit den verschiedenen künstlerischen Sprachen. Nicht erst die Romantiker, sondern schon die Theoretiker aus der Leibniz-Schule konnten diesem Sachverhalt viel gerechter werden als Gadamer. Denn sie begriffen die Lehre vom Zeichengebrauch, die semiotica oder characteristica, und die Lehre vom Verstehen der Zeichen, die hermeneutica, als zwei komplementäre Disziplinen,12 und aus dieser Konzeption folgt, dass sich das Verstehen jeweils auf die Verschiedenheit der Zeichen einlassen muss. Besonders die Ästhetik des 18. Jh. hat viele Beobachtungen zu der Frage angestellt, welche Fähigkeiten der Darstellung die einzelnen Kunstgattungen haben – Lessings „Laokoon“ ist nur das berühmteste Beispiel –, und das unaufgebbare Resultat der Debatte war, dass die künstlerischen Zeichen sehr verschiedene Kompetenzen der Sinnvermittlung haben. Gadamer kann diese Differenzen offensichtlich nicht – oder nur widerwillig – anerkennen, da sie seiner These vom sprachlichen Verstehen widersprechen.
Natürlich wollen wir dankbar sein, wenn Gadamer die Wichtigkeit der Sprache für alle Geisteswissenschaften betont. Denn diese benötigen unbestritten für ihre Interpretationen stets die Sprache, und auch die nichtsprachlichen Künste sind in verschiedener Weise auf Sprache bezogen; weder ihre Produktion noch ihre Rezeption bleibt von der Sprache ganz unberührt. Aber will man das komplizierte und sich wandelnde Verhältnis von sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen aufklären, darf man nicht sogleich von der Sprachlichkeit des Interpretandums und des Verstehens ausgehen, sondern davon, dass es auch außerhalb der Sprache so etwas wie verstehbaren Sinn gibt,13 dessen Erfassung einer Applikation nicht bedarf. Denn natürlich vermag uns Gadamer nicht zu sagen, worin die Anwendung im Bildverstehen liegen könnte. So kommen wir auch hier zum Ergebnis, dass entweder die Verstehenstheorie geändert werden oder diese Hermeneutik ihren beanspruchten Geltungsbereich aufgeben muss.
Das trifft auch schon für das anthropologische Phänomen des Verstehens von leiblichem Ausdruck zu, dem Verstehen von Mimik und Gestik, worin Dilthey mit Recht ein – sowohl genetisch als sachlich – fundamentales Verstehen erblickt hatte, auf dem alles andere aufbaut.14 Zwar heißt es gelegentlich in „Wahrheit und Methode“, dass „die Sprache der Gebärde und des Tones immer schon ein Moment von unmittelbarer Verständlichkeit enthält“ (156). Aber lässt sich dies unmittelbare Verstehen z. B. des Ausdrucks von Trauer wirklich angemessen als ein „Sichverstehen“ kennzeichnen, wie wir an anderer Stelle lesen (246)? Wäre es nur dies, das Verstehen würde den anderen gar nicht erreichen und wäre folglich keines. Dilthey hatte den „rätselhaften Tatbestand“ des Fremdverstehens plausibler als Übertragung und Analogieschluss gekennzeichnet, der gerade im Falle der Sympathie gelinge.15 Gadamer nimmt darauf Bezug, aber nur, um uns zu belehren, dass Sympathie „doch sehr viel mehr als nur eine Erkenntnisbedingung“ sei (219) – so, als wäre weder Dilthey noch er selbst nicht gerade an solchen Bedingungen interessiert! Letztlich ist das unmittelbare Verstehen des Ausdrucks in Gadamers Hermeneutik ein Fremdkörper. Denn dieses Verstehen findet in dessen „Theorie der hermeneutischen Erfahrung“ nicht nur keinen Platz, sondern ist mit allen dort gegebenen Bestimmungen unvereinbar. Welchen Sinn sollte auch die Behauptung haben, das Verstehen der Zeichen des Schmerzes oder der Freude auf dem Gesicht des Mitmenschen setze stets ein Vorurteil voraus, sei ein geschichtliches Sprachgeschehen, vollende sich in einer immer überzeichnenden, erhellenden sprachlichen Auslegung (z. B. 378) und in ihrer Anwendung? Deshalb kommen wir abermals zu dem Resultat, dass die Reichweite dieser Hermeneutik viel schmaler ist als beansprucht. Weder Phänomene des Gefühlsausdrucks noch solche der nicht-sprachlichen Künste passen in sie hinein. Dabei dürfte aber gerade das Ausdrucksverstehen eine wichtige Voraussetzung aller Geisteswissenschaften und deshalb die Anknüpfung z. B. an H. Plessner zu empfehlen sein. Wenn heute das deutsche Wort „Einfühlung“ als geisteswissenschaftlicher Kitsch gilt, so ist doch die Sache damit noch nicht als unsinnig aus der Welt gebracht, gilt doch der Mangel an „Empathie“ (die eingedeutschte englische Übersetzung jenes Wortes) in der Psychologie als Defekt, welcher der Therapie bedarf – das sollte zu denken geben.16
III. Handlung und Geschichte
Obwohl z. B. schon J. G. Droysen und besonders ausführlich Max Weber das Verstehen von Handlungen reflektiert hatten und Gadamers Hermeneutik die Weite des Verstehens zeigen möchte, suchen wir Handlungen als mögliche Interpretanda in seinem Buch vergebens. Erst in einem Zusatz zur Zweitauflage wird kurz Webers verstehende Soziologie erwähnt – aber nur, um sie als „eine monumentale Grenzbastion der ‘objektiven’ Wissenschaft“ sofort beiseite zu schieben (479). Auch wird nicht erörtert, ob „Brauch und Sitte“ – bei Gadamer typische Teilbereiche der „Überlieferung“ (367) – wirklich genauso verstanden und ausgelegt werden wie klassische Texte (was eine Frage wert gewesen wäre). Dennoch beansprucht diese Hermeneutik auch Geltung für das Verstehen der Geschichte und will die Geschichtswissenschaft sogar aus ihrer „Selbstvergessenheit“ herausführen (323).
Dass seine Hermeneutik auch das Amt der Historik übernimmt, macht Gadamer uns auf zwei Wegen deutlich: zuerst gleichsam genealogisch und dann systematisch. Im Kapitel über die „Fragwürdigkeit der romantischen Hermeneutik“ vertritt er die These, die Historik des 19. Jh. sei auf der „verhängnisvollen“ Grundlage der romantischen Hermeneutik errichtet worden (186 f.): Die Auffassungen von Geschichte und Geschichtsforschung bei Ranke, Droysen und Dilthey wurzelten in Schleiermachers Hermeneutik, wenngleich dies erst bei Dilthey klar heraustrete (was sicherlich abwegig ist). War so für Gadamer die Historik des 19. Jh. auf einer „fragwürdigen“ Grundlage errichtet, so stellt sich seine eigene philosophische Hermeneutik nun als die neue, solidere Historik dar, und zwar im Kapitel über die „exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik“, wo wir die Historik nicht erwartet hatten. Vergegenwärtigen wir uns seinen Gedankengang:
Zunächst wird die Verschiedenheit von Hermeneutik und Historik erläutert: Die hermeneutische Interpretation, die der Philologe betreibe, erhelle den Sinn der Texte und folge deren Sinnrichtung, die historische Interpretation aber befrage die Quellen auf etwas hin, was diese nicht aussagen wollen: die „Wirklichkeit“ (318f.). Sieht man davon ab, dass man einerseits diese Wirklichkeit nicht den „verborgenen und zu enthüllenden Sinn“ der Quellen (319) nennen sollte und andererseits manche Quellen, z. B. Chroniken, die Wirklichkeit durchaus schon selbst festhalten möchten, so leuchtet jene Unterscheidung ein, und man kann sie übrigens bei A. Boeckh und J. G. Droysen näher studieren. Denn für den Philologen Boeckh war Interpretation wesentlich Rekonstruktion des Textsinnes, für den Historiker Droysen aber hieß Interpretation, auf der Grundlage der Quellen einen sonst nirgends gegebenen historischen Zusammenhang zu erarbeiten.17 Gadamer aber will es dabei nicht belassen, da er in jeder Interpretation die Anwendung, d. h. den Gegenwartsbezug aufweisen möchte. Um diesen auch für die Geschichtswissenschaft deutlich zu machen, erklärt er jene Trennung für falsch und behauptet, der Historiker und der Philologe täten beide dasselbe, nur habe es Letzterer mit einem Teilbereich, Ersterer aber mit dem Ganzen zu tun: „Für den Historiker tritt […] der einzelne Text mit anderen Quellen und Zeugnissen zur Einheit des Überlieferungsganzen zusammen. Die Einheit dieses Ganzen der Überlieferung ist sein wahrer hermeneutischer Gegenstand. Sie nun muß er im selben Sinne verstehen, wie der Philologe seinen Text in der Einheit seiner Meinung versteht. So muß auch er eine Applikationsaufgabe vollbringen. Das ist der entscheidende Punkt. Das historische Verstehen erweist sich als eine Art Philologie im großen“ (322). „Wenn der Philologe den gegebenen Text, und das heißt, sich in dem angegebenen Sinne in seinem Text versteht, so versteht der Historiker auch noch den großen, von ihm erratenen Text der Weltgeschichte selbst, in dem jeder überlieferte Text nur ein Sinnbruchstück, ein Buchstabe ist, und auch er versteht sich selbst in diesem großen Text“ (323).
Jeder aufmerksame Leser dieser Sätze dürfte verblüfft sein. Denn als Gadamer mit Vehemenz gegen den „romantischen“, „pantheistischen“ und „ästhetischen“ Historismus bei Schleiermacher, Ranke, Droysen und Dilthey zu Felde zog und diesen vorwarf, bei ihnen gerate die Historie „in das Fahrwasser der Philologie“ (186), denn sie verwandelten die ganze Geschichte in ein Buch, in einen sinnvollen „zu entziffernden Text“ (227), da hatte man den Eindruck, er selbst wolle die Kontingenzen und Irrationalitäten, die Grausamkeiten und Sinnlosigkeiten der Geschichte berücksichtigt wissen. Nun aber ist gerade er es, der die Weltgeschichte zu einem sinnvollen Text und den Historiker zum Philologen erklärt. Nur mit großer Mühe kann er sich von seinem Gegner unterscheiden: Für den Historismus war, so scheint es, „das große Buch der Weltgeschichte einfach aufgeschlagen“ – für Gadamer aber muss deren Text stets neu interpretiert werden; die Historisten begriffen sich laut Gadamer als distanzierte Leser – die Historiker aber müssen sich selbst als Teil des Geschichtstextes verstehen (323). Aber macht man sich klar, dass Dilthey die Frage nach dem Sinn der Geschichte als veraltete Metaphysik ausdrücklich zurückgewiesen und Elemente des Positivismus rezeptiert hatte;18 dass Ranke die Historie eng mit der Politik verknüpfte;19 dass Droysen keineswegs die Geschichte „nur in ästhetisch-hermeneutischen Kategorien“ dachte (205), sondern eine Theorie der Sittlichkeit zu Grunde legte und die Standortgebundenheit des Historikers betonte;20 dass schon bei Schleiermacher nicht die Hermeneutik, sondern die Ethik die „Wissenschaft der Geschichtsprinzipien“ war21 und die Hermeneutik die Kritik zur Seite hatte – dann lässt sich kaum der Schluss vermeiden, dass Gadamer mit seiner Historismus-Kritik einen Feldzug gegen sich selbst geführt hat; erklärt doch nur er selbst die Weltgeschichte zu einem „großen Text“, der – wie alle anderen Texte – stets neu und anders gelesen werden muss.
Gadamers Gegenstandsbestimmung der Geschichtswissenschaft ist einerseits zu weit und andererseits viel zu eng. Sie ist zu weit: Wenn die Historiker zu Spezialisten für die ganze Überlieferung und für die Weltgeschichte werden, dann werden aus allen anderen Geisteswissenschaften – Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Theologie und Religionsgeschichte, Jurisprudenz und Rechtsgeschichte, Literatur- und Kunstwissenschaft usw. – nur noch Zuarbeiter für die Geschichtswissenschaft, damit diese den Sinn des Ganzen errate. Da wir nun in „Wahrheit und Methode“ nirgends ausgeführt oder auch nur angedeutet finden, wie diese „Einheit des Ganzen“, dieser „wahre hermeneutische Gegenstand“ der Geschichtswissenschaft, denn entdeckt oder erraten werden könnte, sollte man zuerst einmal zur Kenntnis nehmen, dass die Historiker von Profession seit dem 19. Jh. ein solches Projekt einer Weltgeschichte mit großer Skepsis betrachten und es neidlos den Literaten und Philosophen überlassen.
Gadamers Bestimmung des historischen Gegenstands der Geschichtswissenschaft aber ist vor allem viel zu eng, da das Wichtigste fehlt. Hatte die Historie es sich immer zur Aufgabe gemacht, die res gestae, die Ereignisse, zu erkunden und aufzuschreiben, und erforscht das Fach Geschichte heute zentral die politisch-soziale Wirklichkeit, so ist bei Gadamer nur von der „Einheit der Überlieferung“ die Rede. Sollten aber Entstehung und Zerfall von Staaten und Gesellschaftsformen, Weltkriege und Hungersnöte, Genozid und Diktaturen usw. wirklich mit zu dieser „Einheit der Überlieferung“ hinzugehören? Oder sollte Gadamer meinen, wir wüssten von solchen Dingen nur aufgrund der Überlieferung? Aber dann wären sie erstens noch immer von der Überlieferung verschieden und die historische Interpretation deshalb keine philologische; und zweitens gehörten dann nicht nur „Mythos, Sage, Brauch und Sitte“ (367) zur Überlieferung, sondern auch alle Archivbestände, alle Überreste der Vergangenheit, die man z. B. in bestimmten Gedenkstätten besichtigen kann – und dies scheint mir nicht recht zur sonst gegebenen Bestimmung der Überlieferung zu passen, die doch unser Einverständnis fordert. Deshalb kommen wir vermutlich nicht um die Einsicht herum, dass Gadamers philosophische Hermeneutik, welche die Historie aus ihrer „Selbstvergessenheit“ heimholen will, deren Gegenstand in „Überlieferung“ aufgelöst oder hinter dieser zum Verschwinden gebracht hat. Rankes oft kritisiertes Wort, die Historie solle zeigen, „wie es eigentlich gewesen“, war doch insofern völlig richtig, als der Historiker nicht zu Gunsten philosophischer Konstruktionen auf kontrollierbare Tatsachenaussagen verzichten kann, will er nicht aufhören, Historiker zu sein – Gadamer aber ermutigt die historische Zunft, der realen Geschichte den Rücken zuzukehren. Während er Dilthey vorwirft, er habe die Geschichte in „Geistesgeschichte“ aufgelöst (227) (wenngleich dieser z. B. von historischen Kausalitäten sprechen konnte), besteht für ihn selbst die „Macht der Geschichte“ nur in der „Wirkungsgeschichte“ (285). – Aber sollten auch die Historiker sich eines Tages wirklich nur noch mit der „Überlieferung“ befassen, sie werden Gadamers Anforderung nicht erfüllen können. Denn ist schon die Rede von der „Einheit der Überlieferung“ in einem einzigen Feld wie der Theologie hoch problematisch, so wird sie im Hinblick auf die Weltgeschichte nahezu absurd. War der Historismus des 19. Jh. „verhängnisvoll“ für die Geisteswissenschaften – oder ist es diese Hermeneutik?
Nun ist auch in diesen Punkten Gadamer – zum Glück – nicht ganz konsequent geblieben. Denn an einer Stelle kennt er die Vielstimmigkeit der Tradition (268), und an anderer Stelle scheint er beiläufig die Überlieferung doch von der historischen Realität zu trennen: Die Überlieferung vermittele uns z. B. auch „die Kunde von einem großen Geschehen“ (438, vgl. 451). Aber nirgends wird deutlich betont, dass es einen erheblichen Unterschied bedeutet, den Sinn der Quellen und die historische Realität zu verstehen. Auch wenn wir gelegentlich lesen, der Historie gehe es jeweils um „die Bedeutung eines Ereignisses“ (451), können wir zustimmen. Nur muss man hinzufügen, dass es sehr oft der Historie auch nur um die Ereignisse geht (weil deren Bedeutung niemand bestreitet), und außerdem wäre zu betonen, dass für die Bedeutungsbestimmung eines Ereignisses wie der Konvention von Tauroggen der Historiker auf eine Universalgeschichte eben gut verzichten kann. – In seiner späteren Selbstkritik hat Gadamer dann seine Auffassung weitgehend aufgegeben: „Historie ist nicht nur Philologie im großen […]. Es ist vielmehr ein anderer Sinn von Text und damit auch von Verstehen des Textes in beiden Fällen im Spiele.“ Aber noch immer ist die historische Realität ein „Text“, dessen „Sinn“ der Historiker sucht – wenn vielleicht auch vergeblich.22 Es steht zu befürchten, dass sich die Historiker auch in diesen Aussagen nicht wieder erkennen. Koselleck, der von Gadamer Anregungen für seine historische Semantik erhielt, hat es jedenfalls ausdrücklich abgewiesen, von einem „Sinn der Geschichte“ zu sprechen.23
IV. Selbst und Welt
Wir hatten schon zitiert: Die Historiker und die Philologen sollen mit dem Verstehen der Texte und der Geschichte auch sich selbst verstehen. Damit sind wir schon in den schwierigsten Bereich der „hermeneutischen Gegenstände“ eingetreten, die vor allem am Schluss des Werkes, in der „hermeneutischen Ontologie“ oder der Ontologie der Sprache, erscheinen. Man könnte diese Ontologie als Schlüssel aller erörterten Probleme bezeichnen, sollte sie aber besser deren Quelle nennen. Hier wird in besonderer Weise deutlich, warum diese Hermeneutik sich „philosophisch“ nennt: Sie hat es mit dem Verstehen auch des „Seins“ zu tun. Hatte man bei der ersten Lektüre des berühmten Satzes „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“ (450) noch die Hoffnung, es möchte auch noch unsprachliches Sein übrig bleiben, selbst um den Preis, dass es unverständlich ist, so erfahren wir bei genauem Zusehen, dass tatsächlich das „Sein Sprache, d. h. Sichdarstellen“ ist (461) und – wie der Kontext zeigt – auch die Welt, die Natur, die Dinge und wir selbst verstanden werden.24 Den unbefangenen Leser irritiert nicht nur, dass alles verständlich, sondern mehr noch, dass alles Sprache ist, und ich wage zu bezweifeln, dass jedermanns „hermeneutische Erfahrung“ diese Auffassung als zutreffend bestätigen wird, und sie passt übrigens auch nicht zur zitierten Aussage, das Interpretandum müsse gar nicht sprachlich sein, die Sprache habe nur einen Vorrang (366f.). Hätte man schon Stoff genug fürs Nachdenken, wenn nur behauptet würde, unser „Weltverhältnis“ sei sprachlich (451), da wir uns doch auch handelnd und fühlend zur Welt verhalten und nicht nur redend, so legt diese Identifizierung von Sprache und Sein/Seiendem unseren Verstehensbemühungen unüberwindliche Hindernisse in den Weg. Vielleicht kann man von Heidegger her nachzeichnen, wieso dergleichen geschrieben werden kann, aber durch solche Herleitung wird der Gedanke selbst noch nicht wirklich nachvollziehbar. So sollten wir mit dem Sensus communis, auf den uns Gadamer nachdrücklich verweist (16 ff.), vorerst daran festhalten, dass die Sprache und die Dinge sich unterscheiden und dass es etwas anderes ist, die Rede eines Kollegen oder das Rauschen eines Baches zu hören, wirklich zu handeln oder nur darüber zu reden.
Konzentrieren wir uns auf unsere Leitfrage und suchen wir zu erkunden, ob auch die Dinge, die Welt, das Sein und wir selbst in dieser Hermeneutik jeweils ein „Interpretandum“ sind, so werden wir unsicher. Denn einerseits nennt Gadamer diese Gegenstände m. W. nirgends ausdrücklich „das Auszulegende“, zeigt uns nirgends genauer, wie sie denn ausgelegt werden, und sie sind ja auch immer schon ausgelegt. Außerdem legen sich das Sein und die Welt offensichtlich selbst aus, indem sie sich „darstellen“, in Sprache (426, 459, 461). Aber andererseits werden diese Bereiche laut Gadamer eben auch verstanden, und seine Philosophie will uns ganz offensichtlich deutlich machen, dass wir durch die übernommene Sprache und ihre Weiterentwicklung fortwährend in unserem Welt- und Selbstverhalten verstehend und auslegend tätig sind. So können wir nur festhalten, dass diese philosophische Hermeneutik auch vom Verstehen des Seins, der Welt, der Dinge usw. handelt.
Ich überlasse die Frage, wie das Sein und die Welt durch uns hindurch sich selbst auslegen, den Spezialisten der Spätphilosophie Heideggers (mir scheint dies nur ein Stück säkularisierter Theologie zu sein) und mache nur darauf aufmerksam, dass die Dinge, die Natur, die Welt, das Sein – vielleicht auch Gott? – doch zumindest eine ganz andere Sorte von Interpretanda darstellen als etwa sprachliche Texte, mit denen sich die Geisteswissenschaften beschäftigen. Gadamer scheint hier keine Unterschiede und Probleme zu erkennen, denn wir lesen: „Wie die Dinge, diese durch Eignung und Bedeutung konstituierten Einheiten unserer Welterfahrung, zu Worte kommen, so wird auch die Überlieferung, die auf uns kommt, erneut zur Sprache gebracht, indem wir sie verstehen und auslegen. Die Sprachlichkeit dieses Zursprachekommens ist die gleiche wie die Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung überhaupt“ (432). Diese Identifizierung des Verstehens und Auslegens in den beiden Bereichen scheint mir nicht einleuchtend zu sein. Halten wir uns, was die Dinge angeht – um in Gadamers Nähe zu bleiben –, vorerst an die Beispiele Heideggers, so haben „Tisch, Tür, Wagen, Brücke“ eben doch wenig Ähnlichkeit mit den Texten der Geisteswissenschaften.25 Jene Dinge – um mit Gadamers Hermeneutik zu argumentieren – werden wir doch kaum immer anders verstehen müssen, wenn wir sie überhaupt verstehen wollen, werden sie auslegend nicht überzeichnen usw. Texte sind selbst Sprache – die Dinge aber sind Gegenstände der Sprache; Texte kann man vorlesen – Dinge nicht; aus Texten kann man Teile (Wörter und Sätze) in die eigene Rede übernehmen, zitieren – aus Dingen nicht.
Allerdings wären Tisch, Tür, Wagen und Brücke z. B. auch schon bei A. Boeckh Gegenstände des hermeneutischen Verstehens – jedoch nicht, weil sie selbst oder ihre Auslegung sprachlich, sondern weil sie bewusste Produkte des Menschen sind und sich seinen Zwecksetzungen verdanken. Deshalb fällt bei Boeckh zwar die gesamte Kultur, nicht aber die Natur in den Bereich der Hermeneutik. Das ist bei Heidegger und Gadamer anders. Die Unterscheidung von Natur und Kultur wird von ihnen zu unterlaufen gesucht, da solche Trennung erst das Ergebnis der Wissenschaften sei (vgl. 245).26 Das bedeutet nicht, dass ihre Hermeneutik die ältere Metaphysik der Natur erneuert, nach welcher diese als Sprache des göttlichen Geistes gelesen und verstanden werden kann. Zwar hat Gadamer den älteren Topos vom „Buch der Natur“ kurz erwähnt, aber mit keinem einzigen Argument als noch immer sinnvoll erwiesen. Nein, der Grund für die Gleichstellung von Texten und Dingen scheint nur in der unbestreitbaren Tatsache zu liegen, dass eben auch die Phänomene der Natur sprachlich artikuliert werden und solche Sprache den Wissenschaften schon vorausgeht. An die Stelle der Unterscheidung Kultur – Natur tritt bei Gadamer die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Sprache, zwischen dem wissenschaftlich „Vorhandenen“ einerseits und dem sprachlich ausgelegten Sein (oder Seienden) andererseits (426 ff.). Und da z. B. Wolken und Gedichte sowohl wissenschaftlich als auch sprachlich thematisiert werden können, erscheinen Wolken und Gedichte in gleicher Weise als etwas, das entweder wissenschaftlich beherrscht und „berechnet“ oder in und mit der Sprache „verstanden“ und „ausgelegt“ werden kann. Also nur, weil die Sprache alles umgreift (382), man über alles sprechen kann und es sogar für das „Unaussprechliche“ und „Unverständliche“ Wörter gibt – eben diese beiden –, hat es unsere Hermeneutik mit allem zu tun, mit Kultur und Natur, mit der Welt und uns selbst. Deshalb ist man versucht, Gadamers Position in dem Satz zusammenzufassen: „Ich spreche, also verstehe ich.“
Den Grund dafür finden wir m. E. schon in Heideggers „Sein und Zeit“, wo dargelegt wird, alles Verstehen sei ein Verstehen als …27 Im Zeichen dieses berühmten „hermeneutischen“ und dann „apophantischen Als“ wird erstens alles Verstehen gleich: Ein Funke am Nachthimmel wird als Stern und ein Steingebilde als Mauer verstanden genauso wie dieser Text als Gesetz und jener als Gedicht. Und zweitens kann im Zeichen dieses Als das Verstehen sogleich in Sprache übergehen, ja enthält sie schon: Die Wörter „Stern“, „Mauer“ usw. sind von jenem Verstehen impliziert. – Diese heideggersche Explikation des Verstehensbegriffs wurde nicht nur von Gadamer aufgenommen (z. B. 86), sondern ist fast zum Dogma geworden. Dennoch scheint mir skeptische Vorsicht geboten. Denn wenn in diesem Sinne etwas als etwas verstanden und ausgesagt wird, handelt es sich um die Subsumtion unter einen Begriff oder zumindest um die Einfügung des Interpretandums in die eigene Sprache. Diese Prozedur aber ist im kommunikativen Verstehen erst die halbe und nicht die erste Wahrheit. Denn wenn XY sagt, er verstehe sich als Künstler, so benutzt zwar er selbst das apophantische Als, aber vom Hörer ist fürs Verstehen gar kein weiteres Als erfordert, er versteht schlicht die Rede des Sprechers. Dies Verstehen, das sich im Rahmen der Sprache des Interpretandums bewegt, ist auch das fundamentale Verstehen in den Geisteswissenschaften. Oder habe ich Hegels Texte schon verstanden, wenn ich sie nicht als Dichtungen, sondern als Philosophie auffasste? Und ist wirklich alles Verstehen auch Auslegung (366) und geht deshalb stets in auslegende Rede über? Vollendet sich das Verstehen eines Wortspiels, eines Witzes, einer Sonate oder einer mathematischen Gleichung erst in der Auslegung, die sich im Verstehen als … schon verbirgt? In der heideggerschen Explikation des Verstehens scheint mir durch das apophantische Als das Wichtigste, nämlich der bestimmte individuelle Sinn einer Aussage oder eines Textes übersprungen und ausgeklammert zu sein. Eben deshalb ist sie für die Geisteswissenschaften auch viel weniger fruchtbar als die ältere Hermeneutik, die gerade den bestimmten Sinn von Texten zu verstehen helfen wollte. Und deshalb kann die Philosophie der Postmoderne der Hermeneutik – worunter sie ganz selbstverständlich die von Heidegger und Gadamer versteht – auch mit einigem Recht vorwerfen, sie unterjoche alles den Begriffen und Entwürfen des Interpreten.28 Im Hinblick auf die Disziplin, die vor Heidegger und außerhalb seiner Schule „Hermeneutik“ heißt, ist dieser Vorwurf ganz sinnlos.
Deshalb dürfte es geraten sein, das Verstehen keineswegs am eigenen Reden festzumachen, und man sollte das Verstehen von Texten deutlich unterscheiden vom Verstehen der Welt, der Natur usw. Es ist aufschlussreich, zu dieser Frage die Ansicht Diltheys einzuholen. Denn auch er sprach schon vom Verstehen und Auslegen der Welt, nicht nur von Textinterpretationen. Aber die Interpretation der Welt war bei ihm Sache von Sprache, Poesie, Metaphysik und Mythos29 – die Auslegung von Phänomenen der Kultur aber Sache der Geisteswissenschaften.30 Fielen jene aus dem Bereich der Wissenschaft heraus, weil es für sie keine Methoden und in ihnen keine verbindlichen Einsichten gab, so waren in der Wissenschaft Argumentationen und bewährte Verfahren im Hinblick auf richtige Aussagen möglich. Damit ist Dilthey m. E. sowohl den Wissenschaften als auch deren Gegenständen gerechter geworden als Gadamer. Denn die Geisteswissenschaften legen eben z. B. nicht Wolken aus, sondern Gedichte, und für sinnvolle Aussagen der Literaturwissenschaft gibt es im Unterschied zu poetischen Naturinterpretationen gewisse Kriterien. Der Willkür des geisteswissenschaftlichen Interpreten werden durch die intentio auctoris (oder durch die intentio operis)31 Grenzen gesetzt – die Poesie aber kann alle solche Grenzen überschreiten. Gegen verzerrende Interpretationen wird sich der Autor, wenn er will und kann, zur Wehr setzen – die Natur aber hat gegen keine Lyrik oder Metaphysik je Einspruch erhoben. Produkte der Kultur werden einer kritischen Beurteilung unterzogen – die Natur nicht. Deshalb ist denn auch die Verstehensleistung, wenn man davon sprechen will, in beiden Bereichen verschieden, und eine Weltinterpretation ist etwas ganz anderes als eine Textinterpretation. Wenn Gadamer solche Unterschiede überspielt, so stellt sich die Befürchtung ein, dass er die Geisteswissenschaften eigentlich überwinden und an ihre Stelle wieder Mythos und Sage, Metaphysik und Poesie gebracht wissen möchte; sollen doch die Wissenschaften offensichtlich wieder das „wahre Wesen des Hörens“ lernen, nämlich „daß der Hörende auf die Sage, den Mythos, die Wahrheit der Alten zu hören vermag“ (438) (wobei dieses Hören natürlich in das auslegende Sprechen übergeht).
Indem diese Hermeneutik – wie die heideggersche – das Verstehen zur Seinsweise des Daseins erklärt und an die sprachliche Auslegung bindet, scheint nichts übrig zu bleiben, was ihr entzogen wäre. Aber durch diese weite Perspektive entgehen ihr erstens die Unterschiede ihrer Gegenstandsbereiche und zweitens berücksichtigt sie nicht das, worauf sonst die Hermeneutik immer ausgerichtet war: den bestimmten, individuellen Sinn des Interpretandums, sei es ein Text, ein Kunstwerk oder eine Handlung.
V. Resümee und Ausblick
Gadamers Hauptwerk ist eine von Heidegger initiierte Hermeneutik neuen Typs, die keine Kunst- oder Methodenlehre mehr sein möchte, sondern die Bedingungen des Verstehens aufweisen will (279). Aber auch als eine Art Transzendentalhermeneutik (vgl. 249) muss sie ihren Gegenstandsbereich berücksichtigen. Ähnlich wie z. B. Kants transzendentale Logik auf die Erkenntnis der Erscheinungswelt zugeschnitten ist, wie sie von der Physik konstituiert wird, so kann und will auch Gadamers philosophische Hermeneutik ihren Gegenstand auch gar nicht ausklammern, sondern im Gegenteil: Sie will diesen neu und sogar besser als die bisherigen Theorien der Geisteswissenschaften zur Geltung bringen. Dazu gehört, dass die „Gegenstände“ nicht als tote „Objekte“ gekennzeichnet werden, sondern als das, was zu uns spricht.
Fragt man aber genauer, welches Verstehen diese Hermeneutik im Auge hat, gerät man in Schwierigkeiten und Widersprüche. Diese resultieren – wie unsere Perspektive zeigt – u. a. aus Unstimmigkeiten zwischen den spezifischen Gegenstandsbereichen einerseits und den allgemeinen Aussagen zum Verstehen andererseits. Hatte man Kant vorwerfen können, er habe mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ noch keineswegs alle wissenschaftliche Erkenntnis grundgelegt – es musste ja schon für die organische Natur die „Kritik der Urteilskraft“ hinzutreten –, so passen doch transzendentale Logik und physikalische Natur sehr wohl zusammen. Eine solche Konsistenz aber scheint mir bei Gadamer zu fehlen. Ja bedenkt man, dass diese Hermeneutik, welche die Universalität des Verstehens zur Geltung bringen möchte, das Verstehen von Handlungen ganz ausklammert, das Verstehen von Gefühlsausdruck nur streift und es ebenso wenig überzeugend begründen kann wie das Verstehen von nicht-sprachlicher Kunst, von Geschichte, ja sogar von Rede im Dialog und von Phänomenen fremder Kulturen, dann fragt man sich, ob der große philosophische Aufwand, mit dem Heideggers „temporale Interpretation des Seins“ (94) weiterentwickelt wurde, sich überhaupt gelohnt und nicht nur unnötige Schwierigkeiten heraufbeschworen hat. Eine philosophische Hermeneutik, welche nach den Verstehensbedingungen fragt, sollte jedenfalls gerade jene von Gadamer an den Rand gedrängte Formen des Verstehens im Auge behalten und deshalb besser z. B. an W. von Humboldt anknüpfen, der hinter den divergenten Sprachen die eine Natur und die eine Vernunft des Menschen wirksam fand,32 und sodann natürlich an die vielfältigen Überlegungen Diltheys und seiner Schule.
Bemerkt man die Schwierigkeiten von „Wahrheit und Methode“, wird leicht plausibel, warum der Autor – anders als z. B. Kant – sein Hauptwerk nicht überarbeitete: Die Schäden waren irreparabel. Wenn es in Gadamers späterer Selbstkritik z. B. heißt, er hätte die „Andersheit des Anderen“ stärker herausarbeiten sollen,33 so fügt sich diese Absicht doch nicht in sein durchgängiges Bemühen ein, an die Spätphilosophie Heideggers anzuknüpfen, wie es an seinen Ausführungen zur Wirkungsgeschichte, zum Sprachgeschehen, zur Sprache, die uns spricht (439), deutlich ist. Man kann nicht den Weg von der Subjektivität zur Substantialität (286) einschlagen und dabei zugleich die Subjektivität des anderen Subjektes in den Vordergrund rücken wollen. Aber sein Werk wurde und wird ja auch ohne Umarbeitung gelesen und zitiert. Diese erstaunliche Rezeption bedarf allerdings der Erklärung, und dafür sind sicherlich mehrere Aspekte zu berücksichtigen: Den Szientisten kam das Buch gelegen, da es zu bestätigen schien, dass alle Hermeneutik ein Irrweg ist und extram scientiam exactam nulla salus. Die Anti-Szientisten aber fanden vieles, was sie interessieren musste: eine Rechtfertigung der „Lebensbedeutsamkeit“ der Geisteswissenschaften und eine Kritik an der Herrschaft der Naturwissenschaften; eine Philosophie der Endlichkeit und das Versprechen der Orientierung durch Tradition; eine Verbindung der – sonst für unvereinbar gehaltenen – Philosophien von Hegel und Heidegger und darin den Zauber des Geheimnisvollen: Wer sogar weiß, dass das Sein ein Sprachgeschehen ist und dass die Dinge eine Sprache führen (451), hat der nicht vielleicht die tieferen Einblicke, die uns fehlen?
Eine berechtigte inhaltliche Faszination aber dürfte vor allem in der Verzahnung von Traditionsverstehen einerseits und sprachlichem Welt- und Selbstverstehen andererseits liegen. Hier ist Gadamer ein getreuer Schüler Heideggers, dessen erste Intuition zu einer eigenen Hermeneutik ja gerade in solcher Verbindung bestand: Das Verständnis der aristotelischen Philosophie setzte für ihn ein richtiges (authentisches) Selbstverständnis voraus, und Aristoteles konnte umgekehrt diesem auch dienlich sein.34 Dadurch wurde die Philosophiegeschichte für die Gegenwart relevant und die Gegenwart mit der Vergangenheit verbunden. Gadamer hat mit seinem Insistieren auf der „Anwendung“ des Interpretandums und der Situationsbedingtheit allen Verstehens (280) jenes Prinzip nachdrücklich zur Geltung gebracht: Die Überlieferungsbestände sollen keine toten Gegenstände sein, sondern dem Verständnis des Daseins und der Orientierung in der Gegenwart dienen, wie umgekehrt das schon immer verstandene Dasein die Textinterpretation bestimmt. Während allerdings beim jungen Heidegger noch der Akzent auf der phänomenologischen Explikation des Daseins lag, hat Gadamer den Akzent verschoben: Das Dasein kann sich nur im Kontext der Überlieferung angemessen verstehen, es ist sich ohne diese selbst gar nicht zugänglich. Und daran bemerkt man den Einfluss des späten Heidegger, der von der Daseinsanalyse abrückte und eine „Wende“ vollzog: hin zu Sprache, Mythos, Dichtung und Kunst, worin oder wodurch das Sein sich „lichtet“.
Jenes Verhältnis zwischen Überlieferung und gegenwärtigem Dasein zeigt Ähnlichkeit mit einer schon älteren Figur. Schleiermacher begann seine Vorlesung über Geschichte der Philosophie mit den Worten: „Wer die Geschichte der Philosophie vorträgt, muß die Philosophie besitzen […], und wer die Philosophie besitzen will, muß sie historisch verstehen.“35 Der Grund dafür ist klar: Ohne Kenntnis der Philosophie wird man nicht einmal die philosophische Literatur von anderer unterscheiden und sie kaum angemessen verstehen können, und ohne philosophiegeschichtliche Kenntnisse wäre die eigene eine sehr enge und dilettantische Privatphilosophie. Aber wenn bei Schleiermacher das Philosophieren und das historische Verstehen der Tradition sich wechselseitig voraussetzen, werden eben beide Seiten nach wie vor deutlich getrennt, und Schleiermacher hat – anders als Heidegger und Gadamer – sowohl an der Idee richtiger Interpretationen festgehalten und eine entsprechende Hermeneutik konzipiert als auch eine eigene systematische Philosophie ausgebildet. Und dies scheint mir der bessere Gedanke zu sein, denn hier wird dem erwähnten Unterschied zwischen richtigen Interpretationen und richtigen Aussagen zur Sache Rechnung getragen, beide werden schließlich ganz anders begründet. Selbst noch bei Paul Yorck von Wartenburg, der den Unterschied zwischen dem Systematischen und dem Historischen in der Philosophie zu einem veralteten metaphysischen Rest erklärte36 und deshalb als Wegbereiter der neuen hermeneutischen Philosophie gelten kann, zeigt sich Schleiermachers Unterscheidung als sinnvoll und richtig. Denn Yorck hat in seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte eine eigene Lebensphilosophie und eigene Begriffe ausgebildet, die keineswegs aus der Geschichte nur aufgelesen sind oder sich durch diese von selbst aufgedrängt hätten. Auch den Zusammenfall von Systematischem und Historischem kann man nur dann behaupten, wenn es einerseits Philosophie (mag diese nur darin bestehen, dass man eine der Philosophien begründet bevorzugt) und andererseits eine genaue Kenntnis der Philosophiegeschichte und eine entsprechende Hermeneutik gibt. Denn wie anders sollte aus der Tradition etwas zu lernen sein? Schleiermachers Unterscheidung gilt aber nicht nur für die Philosophie, sondern in ähnlicher Weise für alle Geisteswissenschaften: Sie müssen sich sowohl über ihre theoretischen Annahmen und Voraussetzungen im Klaren sein als auch ein möglichst genaues Verstehen zu erreichen suchen – und einem solchen hat die Hermeneutik stets dienen wollen, welche Heidegger und Gadamer verabschiedeten.