Читать книгу Bildung an ihren Grenzen - Группа авторов - Страница 25

1. Bildung: Begriff und Erfahrung

Оглавление

Die Geschichte des Bildungsbegriffs ist reich und weist mit unterschiedlichen Facetten bis in die Antike. Eine Erörterung des metaphorischen Gehalts von Bildung ist unverzichtbar, um ein Verständnis für die komplexen Traditionslinien und Bedeutungsschichten zu erlangen (vgl. MEYER-DRAWE 1999). Daneben verbleibt allerdings die Frage nach dem begrifflichen Gehalt von Bildung, nach dem Verhältnis von begrifflichen Fähigkeiten und der Möglichkeit von Erfahrung. Begriffliche Fähigkeiten gehören zum Kern, zum Gehalt von Bildung. Sie wurzeln in konkreten Lebenspraxen und sind nicht von dieser Verwendung und ihrer Ausformung im Kontext der Erfahrung zu trennen.1 Es sind die Fähigkeiten, der Welt reflexiv und rational, das heißt, mit Überzeugungen und Gründen zu begegnen. Erst durch sie besitzt der Mensch eine grundsätzliche Empfänglichkeit für Fragen nach Sinn und Bedeutung (vgl. hierzu McDOWELL 2012, S. 102)2 sowie eine Sensorik für das Mögliche (Noumenale) und nicht nur Faktische (Empirische). Diese gleichsam aktive Empfänglichkeit für das Begriffliche gehört nach Immanuel Kant zur natürlichen Ausstattung des Menschen.3 Es gibt gute Gründe, die Bildungstradition mit Brüchen zu versehen, die vermeintliche Kontinuitäten der großen Erzählung aussetzen. Ein solcher bis heute folgenreicher Bruch findet durch die explizite Konzeption von Bildung statt, also durch die Beschreibung von Erfahrungsprozessen durch den Begriff Bildung. Der Bildungsgedanke wendet sich von metaphysischen Tendenzen ab und gründet sich auf eine kritische Philosophie der Erfahrung in der Nachfolge Kants. Bildung markiert das reflexive Moment der Erfahrung, durch das die Erfahrung selbst zum Tribunal des Denkens werden kann (vgl. QUINE 1979, S. 45; hierzu auch McDOWELL 2012, bes. S. 12ff.). Als eine begriffliche Fähigkeit ist sie immer schon Teil der Erfahrung und bliebe ohne Anbindung an sie schlichtweg unverständlich. Wilhelm von Humboldt bezieht daher folgerichtig in seinem Fragment zur Theorie der Bildung des Menschen die für die Erfahrung konstitutive Wechselwirkung von Spontaneität (Selbsttätigkeit) und Rezeptivität (Empfänglichkeit) auf den Bildungsbegriff (vgl. HUMBOLDT 2002a; vgl. hierzu auch DÖRPINGHAUS/POENITSCH/WIGGER 2013a). Begriffliche Fähigkeiten der Spontaneität entstehen nur in der Wechselwirkung mit der Welt, und genau diese Wechselwirkung verbindet Humboldt mit dem Prozess von Bildung. Zugleich betont Humboldt ebenfalls, dass die Wurzeln dieses Prozesses in den natürlichen Kräften des Menschen zu finden sind. Begriffe sind also Ausdruck einer natürlichen sprachlichen Fähigkeit oder Kraft, die von der sinnlich-vernünftigen Existenz des Menschen nicht trennbar ist. Bildung kann daher für Humboldt nicht etwas sein, was neben der Erfahrung, neben der Wechselwirkung von Spontaneität und Rezeptivität, aus einem unbekannten Reich zur Erfahrung hinzukäme. Vielmehr muss sich das Verständnis von Bildung aus der Erfahrung selbst herleiten, und zwar aus dem Verhältnis ihrer Rezeptivität und Spontaneität. Es kann keinen sinnvollen Begriff von Bildung geben, der nicht gleichzeitig anzugeben wüsste, wie er auf die Erfahrung anzuwenden wäre (vgl. STRAWSON 1992, S. 13). Wiederum kann es keinen sinnvollen Gebrauch des Erfahrungsbegriffs geben, wenn nicht die Art der begrifflichen Fähigkeiten, die ihm den Status eines Reflexionsurteils zuschreiben und die Bildung des Menschen ausmachen, beschrieben werden können.

Durch die Bindung an die Erfahrung kann Bildung selbst nicht Teil eines empirisch-nomologischen Bereiches sein. Die Erfahrung, das macht sie aus, gehört in einen reflexiven Raum des Sinns und der Bedeutung, der nicht mit dem Empirisch-Nomologischen kompatibel ist. Doch verweist gerade die Erfahrung auf den empirischen Gehalt von Bildung. Mit anderen Worten: Der Raum des Sinns, der in der Kantischen Tradition als Raum des Intelligiblen, Noumenalen und Begrifflichen verstanden wird, ist keineswegs ein Gegenentwurf zum Empirischen, wie es auf den ersten Blick und verkürzt den Anschein haben könnte. Vielmehr wird durch ihn eine spezifische Form des Empirischen im Noumenalen, im reflexiven Raum von Sinn und Bedeutung durch die Erfahrung ausgewiesen. Ohne Erfahrung durchzöge den Bildungsbegriff eine gänzlich unplausible Dualität von Intelligiblem und Empirischem, von Begrifflichem und Sinnlichem: In einer Trennung des Sinnlichen vom Intelligiblen, bei gleichzeitiger Reduktion des Sinnlichen auf den Raum eines Empirischen, der nur noch nach naturwissenschaftlichen Gesetzen formiert denkbar wird, bleibt das Intelligible zwangsläufig auf sich allein gestellt, es hätte keine lebensweltlich-sinnliche Anbindung. Zugleich gehörte aber auch die Sinnlichkeit im Raum des Empirischen nur noch zu einem nomologischen Reich des Reizes und der Reaktion, das dann wiederum keinerlei Bedeutung mehr für die Reflexivität des Denkens und den Bildungsprozess hätte (vgl. hierzu auch im Anschluss an McDOWELL/HONNETH 2003, S. 112). Ein Ort von Bildung, der sich außerhalb der Erfahrung befände, ist nicht begründbar, weder als Ort reiner Reflexion oder Subjektivität noch als einer der reinen Rezeptivität oder Weltgegebenheit. Als begriffliche Wesen leben Menschen in einer Welt des Sinns und der Bedeutung, die sich von einer nomologischen Welt unterscheidet, in der Menschen schlichtweg nicht leben. Bildung ist eine natürliche Fähigkeit des Menschen, sie ist eine begriffliche Leistung, die in der Erfahrung wirksam ist. Ihr Ort ist der Raum von Sinn und Bedeutung, für den sie als eine begriffliche Fähigkeit empfänglich ist.

Bildung an ihren Grenzen

Подняться наверх