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Wahrheit in der Postmoderne: Verschüttungen und Neuaufbrüche

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1. Postmoderner Plural: Abwesenheit des Einen, Einenden

Wahrheitsskepsis ist ein klassisches Thema der Philosophie und begleitet sie zwillingshaft seit ihren Anfängen – wurde doch Sokrates’ Apologie des Wahren provoziert durch die Abhebung von der sophistischen Relativitätsbehauptung der Erkenntnis des Wahren. Gegenwärtig aber drückt sich solche Skepsis spezifisch aus: als Behauptung durchgängiger Abwesenheit von Wahrheit, nicht einfach in klassischer Relativierung oder Negation, sondern als Abwesenheit im Sinne von Weggegangensein, Sich-Verbergen. „Absence ardente“ nannte Rilke in den 20er Jahren diese Weise des brennend Vermissten.

Es handelt sich gleichsam um ein Drama des Entzugs, an dessen Stelle nur Erinnerungen an das Verlorene treten. Dabei geht es sogar weniger um das Problem theoretischer Verifizierbarkeit; diese wird ja im Pragmatismus durch Ausscheiden von Falsifikationen „umkreist“. Vielmehr verliert jene lebenspraktische Wahrheit, die bisher mit dem Wort „Sinn“ bedacht war, ihren Sinn (um es tautologisch auszudrücken). Wahrheit lässt sich weder mehr einfachhin auf wahre Hermeneutik des Daseins noch einfachhin auf wahres Tun1 (in der Bedeutung von sinnvoller Korrespondenz von Sollen und Sein) übersetzen. Wie kommt es zu diesem Entzug?

Betrachten wir die entscheidenden Begriffsbildungen über Wahrheit aus der philosophischen Tradition. Wahrheit wurde im Rückgriff auf die Antike grundsätzlich als „Wahrheit der Dinge“ oder Seinswahrheit2 bestimmt; davon abgeleitet wurde sie korrespondenztheoretisch gefasst als formale Übereinstimmung von Satz, Aussage oder Urteil mit jener ontologischen Wirklichkeit.3 Beide Bestimmungen hängen insofern untrennbar zusammen, als das Sein bzw. die Seinsweise selbst den Gegenstand für ein wahres Urteil abgeben muss. Zudem kann das Sein, in der Antike wie in der Scholastik, theozentrisch verankert werden. Denn Sein wie Erkennbarkeit treffen in jener Allgemeinheit (aristotelisch) oder Idealität (platonisch) zusammen, die als allem Geschaffenen vorgängige ewige Einheit in Gott zu fassen ist.

Daraus ergeben sich philosophiegeschichtlich weitere Distinktionen: Die Urteilswahrheit lässt sich unterscheiden in notwendige Vernunftwahrheiten von apriorischem, widerspruchsfreiem und zeitlosem Charakter und kontingente Tatsachenwahrheiten von zufälligem, einmaligem und nicht widerspruchsfreiem Charakter – welch letztere seit dem 18. Jahrhundert auch historische Wahrheiten genannt wurden.4 Unabhängig von ihrem sekundären Status gilt auch für sie die Isomorphie zwischen Aussage und geschichtlicher Tatsache (freilich wird die Frage nach dem Zustandekommen einer Tatsachenbehauptung komplex). Schließlich wird, seit der Aufklärung und verstärkt seit Historismus und Weltanschauungsphilosophie des 19. Jahrhunderts, auch die Unterscheidung von objektiver und subjektiver Wahrheit üblich, welch letztere geltungstheoretisch „für mich wahr“ ist (mit der Bandbreite zwischen objektiv irrig und perspektivisch zutreffend).5

Postmodernes Denken lehnt jene korrespondenztheoretische Wahrheit programmatisch ab, die auf dem Einen und Ganzen des Seins basiert. In dieser Rückführung liege die intrinsische Selbstzerstörung der Vernunft, ablesbar an den systemisch unterlegten Totalitarismen der jüngsten Vergangenheit. Stattdessen gehe es kritisch um perspektivische Wahrheiten, denn entweder die Auslegungen oder die Wirklichkeiten ließen sich durchaus widersprüchlich pluralisieren. Solche Plurale haben entscheidungslos stehenzubleiben, sind dem aspekthaften Gebrauch des Subjekts oder einer partiellen Kultur zu überlassen – was sogar den Charakter einer ethischen Verpflichtung annimmt: Geltenlassen als neues Ethos.

Solches Denken hat eine aufweisbare Herkunft. Die Postmoderne, vor allem in ihrer französischen Form, hatte seit den 70er Jahren die Abwesenheit, l‘absence, thematisiert, die Abwesenheit von wahrem, verpflichtenden Sinn nämlich, der das Heterogene, in vielerlei zielloses Wissen Zerfallende zu einem Ganzen verbinden könnte. Postmoderne ist – nach dem berühmten Aufsatz La Condition Postmoderne (1979) von Jean-François Lyotard (1924– 1998) – bestimmt als das Zulassen von Mehrzahl: Mehrere, viele, alle Lebenswelten, Kulturen, Andersheiten, Differenzen wirken zugleich, wertungsfrei und hierarchiefrei; ihnen fehlt und sollte fehlen die Glättung durch Verallgemeinerung, aber auch die Über- und Unterordnung durch Wertungen. Das Verbindende, die „Leitkultur“ steht vielmehr unter dem Verdacht zu nivellieren, das Fremde einzuheimsen, wenn nicht zu vergewaltigen, wie es der europäischen Denktradition (zwischen Platon und Heidegger6) vorgeworfen wurde, weil sie nur aus dem Einen, Gemeinsamen denke. Eurozentrisch sei uni-zentrisch: immer derselbe Sündenfall des Geistes, abgewandelt vom „Monon“ der Griechen über den Monotheismus Israels und das Christentum bis zur deutschen Identitätsphilosophie vom Schlage Hegels, ja bis zum Islam als der transeuropäischen Variante.7

Lyotard erklärte den Aufstand gegen die (homogenisierenden) „meta-récits“, „grands récits“ der Moderne: Entwürfe wie Fortschritt, „Techno-Wissenschaft“, unaufhaltsamer Aufstieg der Vernunft, Befreiung führten zu einer gewalttätigen Uniformität. Philosophische Totalität verenge sich tendenziell und historisch zu totalitärer Gewaltherrschaft. All dies ließe sich lesen – so der Verdacht – als Monopolismus einer Wahrheit über die Götter, die Menschen, die Dinge; diesem Wahrheits-Monopol dienten die Entwürfe einer Seinslehre ebenso wie die Frage nach einem „Wesen“ der Dinge, aber – verblüffend – auch die aufklärerische, alles betreffende, alles erklärende Vernunft. Gerade das Zeitlos-Gültige, die angebliche Globalität, das Begrifflich-Allgemeine, das Denken aus dem scheinbar einen Ursprung grenze ein „Anderes“ immer aus. Aber auch die aufklärerische Vorstellung des mündigen, selbstverantwortlichen Subjekts sei Selbstdurchsetzung: Das Ich schließe herrisch von der eigenen vernunftgemäßen, daher als wahr betrachteten Position auf ein Du. Denken habe vielmehr zukünftig einen Verzicht zu erklären: den Verzicht auf den geschlossenen Diskurs innerhalb eines anonymen und zwingenden Gedankensystems, das zum tödlichen Ausschluss der Andersdenkenden führe. Dagegen stehen neue „Grundbilder“: Mehrfachkodierungen, Vielfalt von Rationalitätstypen, Übergänge „transversaler“ Vernunft.8 In „Le Différend“9 wird auch die Sehnsucht nach einer Metaregel im zu befürchtenden oder zu erhoffenden Dissens von Lyotard unterlaufen: Widerstreit muss die Aufklärungsideale von Freiheit und Gerechtigkeit vor ihrer eigenen totalisierenden Durchschlagskraft sichern.

Die lebensweltlich dennoch griffige Überzeugungskraft solcher Pluralität oder Multioption, auch und gerade für das eigene, ständig zu ändernde Leben, soll daher rühren, „daß überkommene Muster zunehmend nur noch Miseren erzeugen und zum Koma führen. Die Moderne hat eine solche Erfahrung mit sich gemacht. Als Postmoderne sucht sie sich davon zu befreien. Die Vision, der ihre Hoffnung gilt, ist die der Pluralität. Niemand kann für ihren Erfolg garantieren. Aber ihre Versprechen sind nicht grundlos.“10 Der Dialektik selbstzerstörerischer Aufklärung wird so Rechnung getragen, indem dem Terror einheitlichen Denkens ein nur mehr regionaler Konsens, ein ad hoc gewonnener Spielraum für die jeweils und auf Widerruf daran Beteiligten gegenübertritt.

Jeder Singular wird als solcher verdächtig. Entsprechend fehlt nicht nur das Eine, Verbindliche im postmodernen Lebensstil; es fehlt damit auch der Eine: Gott. Er zieht sich nur als „Spur“, als Negativabdruck eines Fußes im Wüstensand, durch die Geschichte (des 20. Jahrhunderts). Gott ist abwesend (nicht nicht-existent): Es bleibt unentschieden, ob und wie es „ihn“ gibt oder ob er nur eine „Spur“ im menschlichen Denken hinterließ, Denken, verstanden als rationales Korrelat zu Traum und Sehnsucht des Menschen. Um so weniger lässt sich Wahrheit theozentrisch sichern.

2. Erschütterungen jenseits des Verstehbaren: das Ereignis, das Erhabene, das Neue

Andererseits: Lyotard kennzeichnete die Postmoderne durch Einbrüche, die gedanklich nicht „gebändigt“, aber auch nicht weggedeutet werden können: durch das Ereignis und das Erhabene. Beide zerstören die Selbstsicherheit der Vernunft, erlauben aber auch keine beliebige Auslegung. Im Ereignis liest sich, auch theologisch, unschwer noch das Geschichtsdenken des Judentums, dass menschliche Geschichte nicht ein naturhaft-gleichmütig ablaufendes Geschehen sei. Geschichtlich strukturiertes Geschehen bestehe vielmehr aus Ereignissen, aus dem Unvorhergesehenen, dem Nicht-Kausalen. Das Ereignis setzt Lyotard zwar nicht religiös an; aber es enthält doch eine bemerkenswerte Analogie zur Grundfigur der negativen Theologie: Das Ereignis als Ereignis sei philosophisch nicht systematisierbar, es bleibe unbestimmt im Sinne des Undarstellbaren. Das zeigt eine Weigerung an, überall „vernünftige“ Zusammenhänge zu setzen – und Lyotard ist ein entschiedener Gegner von Habermas‘ „vernünftigem Diskurs“. Das Ereignis finde vielmehr gerade außerhalb der Logik statt. Es brauche weder vernünftig zu sein, noch brauche es einhellige, eindeutige Sprache aufzuweisen, noch weniger müsse man sich darauf konsentisch einigen – gerade der „Widerstreit“ ist mit dem Einbruchscharakter des Ereignisses vorgegeben. Auf das Ereignis einigt sich niemand; es findet statt.

Es gibt also in der kulturell aufgebauten Daseinssicherung Sprengungen, und zwar Sprengungen durch Wirklichkeit, für die das autonome, aber auch das pluralisierte Subjekt keine Regeln kennt. (Der Mauerfall von 1989 und der ominöse 11. September 2001 scheinen im vorhinein illustriert.)

Dazu tritt „le sublime“ (welcher Begriff auf Kant zurückgeht): Im Ereignis zeigt sich ein Erhabenes, freilich nicht, indem es als Gott identifiziert wird. Aber dennoch so, dass das Erhabene nicht eingeht in die vorhandenen Kategorien (was wörtlich – es sei daran erinnert – „Anklagen“ heißt). „Es gibt zwei Kennzeichen des Sublimen. Das Sublime ist jenes einbrechende Neue, Unvorhergesehene, jene Wirklichkeit, die sich plötzlich unseres Denkens und unserer Kategorien bemächtigt.“ Es ist ein unerklärt, unangekündigt Machtvolles, das kommt. Das Erhabene ist nicht reine Lust; „es ist eine Mischung aus Lust und Schmerz“.11

Lyotard führt philosophiekritisch aus, dass der Schmerz zum Dasein hinzugehört, und dass Philosophie, solange sie nur die Empfindung von Schmerz thematisiert – also die subjektive Reaktion –, in der regulierten Wahrnehmung, in der Selbstbeobachtung des eigenen Gefühls, im Distanziert-Ästhetischen bleibt. So sei das Gefühl des Erhabenen bei Schleiermacher zunächst ein angenehmes Gefühl: Es bewirke im Ich Ehrfurcht, Frieden und so fort. Aber die Wirklichkeit, wenn sie wirklich werde, beinhalte eine Schmerzerfahrung, die über die pure ich-gebundene „Empfindung“, etwa des Angenehmen, weit hinausgehe. Denn im Erhabenen ist laut Lyotard eine „Monstrosität“, eine Un-Form oder Form-Losigkeit, die sich dem Denken formal entzieht. Das Denken kann nachträglich daran arbeiten; aber es kann nicht daran arbeiten, solange es währt. Wenn die Vernunft Form schafft – Überblick, argumentative, kausale Bezüge –, dann wird sich das Erhabene so monströs gegen eine Verarbeitung sperren (monströs im Sinne von „monstrare“ = sich selber zeigend), dass es vom Verstand nur fassungslos wahrgenommen werden kann. Lyotard denkt in eine ursprüngliche Fassungslosigkeit gegenüber der Wirklichkeit zurück; auch die menschliche Sprache versagt vor dem Monströsen. Philosophie und Kunst werden eben darin „Brüder“ im Scheitern des Undarstellbaren.12 Für Lyotard ist daher der abgleichende Diskurs, die konsensuelle Wahrheit ein Selbstbetrug des Sprechens, das Mittelmaß der Mittelmäßigen. Das eigentliche Problem beginnt vielmehr da, wo die Sprache, auch der künstlerische Ausdruck vor dem Monströsen, dem Unfasslichen verstummt.

So gibt es in der postmodernen Welt – in der Welt des Philosophischen, ausstrahlend auf die Welt des Politischen, des öffentlichen Raumes – auch ein postsäkulares Denken; freilich keine Stelle, an der das Heilige unmittelbar vorkäme. Aber es kommt vor in seiner Abwesenheit, in seiner verschlüsselten Spur, im Widerspruch gegen die pure Autonomie des sich selbst besitzenden, sich selbst verstehenden Subjekts. Philosophisches Denken ist zurück in einer Fassungslosigkeit, von der sich die Autonomie-Formel der Aufklärung nichts hat träumen lassen. Lyotard ist in solchen Analysen Sprachrohr gesamtkultureller „Erdbeben“.

Weiterführend sprechen heutige Phänomenologen wie Jean-Luc Marion vom Sinnereignis als jenem Einbruch in das intentionale gegenstandsbezogene Bewusstsein, der als „Gegen-Intentionalität“ ausgelegt werden kann. Dies bedeutet eine nicht kausal abzuleitende Sinnvorgabe, die offenbar nicht einer Sinngebung durch das intentionale Bewusstsein selbst entspringt. Im Gegenteil: Anstelle solcher Erwartungen prägt sich unvermutet ein Neues aus, das überraschend oder sogar verstörend in die Phänomenanalyse eindringt. Mit dem Begriff Sinnereignis wird grundsätzlich Neues denkbar, das sich nicht als immer schon (latent) präsent erweist.13

Darauf haben schon Husserls Phänomenologie der Passivität, aber auch Levinas‘ Aufweis der Rezeptivität gerade der wichtigen Erfahrungen des Daseins verwiesen: rezeptiv erfahren, ja erlitten werden der Tod, die Liebe, der Sohn.14 An die Stelle der schon antiken Resignation „Nichts Neues unter der Sonne“ tritt vielmehr ein schmerzlich oder glückhaft Neues: Ein Anderes bringt sich plötzlich zur Sprache, wird unerwartetes, vielleicht unerwünschtes, vielleicht befruchtendes Ereignis. Passion also, im Doppelsinn von Leiden und aufspringender Leidenschaft, „In-Ohnmacht-Fallen-des-Seins“ wird Grundvollzug von Erkennen und Sprechen.15

3. Rückgewinn der Wahrheit: Reflexion über Leben als absolute Gabe

Von der Erschütterung des Subjekts aus deckt der französische Phänomenologe Michel Henry (1922–2002)16 den Anspruch mehr als pluraler und subjektiver Wahrheit auf, und zwar im Gegenzug gegen Edmund Husserls basale Kennzeichnung von Phänomenologie. Husserl hatte Denken als immer schon intentional bestimmt (ich erkenne immer „etwas“), also grundsätzlich gegenstandsbezogen. Mit diesem „Etwas“ transzendiert Erkennen in ein „Außen“. Dabei verlässt es sich bzw. erfährt sich nur in einem Sein-bei, in seiner Selbstdistanz. Dies deckt aber seine andere, vorgängige Qualität zu: daß Denken zunächst in seiner eigenen Lebendigkeit bestehe und dort aufzusuchen sei, wo es sich zu sich selbst verhalte. Dieser lebendige, radikale Grund des Denkens „sieht“ sich nicht, sondern vollzieht sich ursprünglich, unreflexiv. Im Sichtbarwerden eines Gegenstandsbezugs verbirgt sich dieser Grund, die unanschauliche „Nacht“ der Selbstaffektion.

Henry sieht dieses Selbstverhältnis des Denkens im Selbstverhältnis des Lebens begründet: Denken wurzle in der „Selbstaffektion“ des Lebens, in seiner Selbstgegebenheit (donation de soi) in radikaler oder absoluter Immanenz. Auf der Spur des Denkens als Selbstvollzug gelangt die Überlegung also auf die Ipseität des Lebens. Zwar wird auch das Leben seiner selbst nur wiederum im Außen ansichtig; dennoch kommt es aus dem nächtigen Innen der Unmittelbarkeit, aus einem Selbsterweis, einem Ankünftigsein bei sich, eben aus einem Sich-Gegebensein, in welchem es sich beständig „affiziert“. Was heißen will, dass es nicht nur „ist“ (Henry sieht „das Sein“ als unzureichende Bestimmung des Grundes), sondern sich verhält. Das setzt ein „ich“ und ein „sich“ voraus – eine Grundspannung, die eben das Lebendige ausmache und die zugleich dem statisch verhältnislosen Sein mangle.

Darin zeigt sich der Doppelcharakter des Lebens: Einerseits ist es sich gegeben, und zwar in der Weise nicht selbstgemachter Lebendigkeit. Leben lässt sich überhaupt nicht „machen“, sondern nur weitergeben. Selbst wenn – in dem hässlich-verqueren Ausdruck – die Eltern ein Kind „machen“, geht der Vorgang des Zeugens und Empfangens weit über ein biologisches Verfertigen hinaus: Auch Eltern müssen das Kind erst (unabschließbar) kennenlernen; es ist gerade nicht ihr gezieltes „Produkt“. Selbst In-vitro-Fertilisation, selbst Klonen bedient sich schon vorhandener lebendiger Materialien. Die Kette des Lebens reicht durch die Generationen hindurch, wird nicht jeweils von ihnen aus neu installiert. Leben ist Vor-Gabe, selbst unbegriffen, uneingeholt.

Andererseits ist Leben als gegebenes dennoch selbständig: Es ist autonome, absolute Gabe; anders: Gabe der Autonomie. Im Bild: Wenn eine Kerze eine zweite entzündet, brennt die zweite Flamme aus sich heraus, obwohl sie sich der ersten verdankt. Ebenso ist verliehenes Leben dennoch selbst unmittelbares Leben, in einer Bewegung, die sich selbst erhält und ständig neu bei sich „ankünftig“ wird. Es gehört zur Größe dieser Vor-Gabe, dass sie die eigene Mitwirkung freisetzt. Sich-Gegebensein und Autonomie schließen sich nicht aus: Gerade Selbstand ist verdankt.

Leben veräußerlicht sich im Lebensvollzug, entfaltet sich in Welt und muss dies auch tun. In der Regel vergisst man aber dabei die Rückbindung an die ursprüngliche Ipseität (ich beziehe mich auf mich selbst) und an die „pathische Unmittelbarkeit“ (ich besitze mich selbst). Eben dieses Selbstverhältnis wird verborgen, auch vor sich selbst, wenn das Ich sich dem Raum der Welt öffnet: Vom Ich als „Mich“ wandelt es sich zum Ich als „Ego“, zum Bezugspunkt von Welt-Dingen, zum „Außer-Sich“, in der Bewegung der „Sorge“.17 Das darf nicht als Bewegung eines „Abfalls“ verstanden werden (etwa wie bei Heidegger als „Uneigentlichkeit“), vielmehr gehört diese Bewegung zum Realisieren des Lebens. Allerdings verstellt das Leben im Außen intentional seinen eigenen Ursprung, seinen Selbstbezug, an den immer wieder rückbindend erinnert werden muss.

4. Wahrheit als absolute Gabe

In vielen zeitgenössischen Diskursen führt die Frage nach Wahrheit für Henry in einen unvermeidlichen Skeptizismus. Entweder wird sie positivistisch festgemacht an der Wahrheit von Tatsachen (wie in der Geschichtswissenschaft) oder eher naiv an der Wahrheit von empirischen Fakten (wie in den Naturwissenschaften) oder formal am logischen Wahrheitsbegriff (Wahrheit als Widerspruchsfreiheit) oder, alle Ebenen zusammenfassend: an der Wahrheit der Semantik. Diese wird jedoch nicht mehr korrespondenztheoretisch aufgefasst (wie oben entwickelt: am Widerlager einer Wirklichkeit), sondern als Konstrukt des jeweiligen Sprachspiels, anders: der Selbstreferenz von Zeichen. Außerhalb der Festlegung von „Zeichen für Zeichen für Zeichen“ könne Wahrheit nicht mehr kommuniziert werden, insbesondere nicht als Wahrheit in Bezug auf vorgegebene Wirklichkeit. Postmodernes Denken habe Wahrheit und Wirklichkeit nurmehr auf den Bereich mentaler Zuschreibung verschoben, auf Weltentwurf, genauer noch auf Weltenentwürfe, die ausschließlich im Radius des Subjekts oder subjekthaft aufgefasster Kulturen und deren „Kommunikation“ bleiben.

Für Henry können diese Versuche, Phänomene auf Zeichen antwortloser Wirklichkeit zurückzuführen, ein letztes Phänomen nicht auflösen: das Phänomen des Lebens selbst. Leben zeigt sich selbst immer als lebendig, ist seine eigene Offenbarung, Selbst-Offenbarung. Über Leben zu sprechen meint nicht, über etwas zu sprechen, denn Leben ist kein distanziertes Etwas, es ist eben es selbst. Dieser Kontext eröffnet den elementaren Charakter von Wahrheit: Wahrheit ist Selbstoffenbarung des Lebens. Sie zeigt sich selbst, erleuchtet sich selbst, spricht von sich selbst, kann nicht von außen „bewiesen“ werden. Wahrheit teilt die Selbstevidenz des Lebens; vielmehr: sie ist diese Selbstevidenz. „Die Wahrheit der Welt läßt jedes Ding sehen, indem sie es außerhalb von sich versetzt, so daß es die Außenheit oder die Exteriorität des ‚Außer-Sich‘ ist, die sehen läßt, das heißt: die Phänomenalität ist. [...] Nur dann ereignet sich die Trennung im Wahrheitsbegriff, nämlich der Unterschied zwischen der Wahrheit selbst und dem, was sie zeigt, was sie wahr sein läßt.“18 Es ist derselbe Unterschied wie zwischen dem, was das Auge sieht, und dem Auge selbst, das sich nicht sieht. „Sehen ist nur in einer ‚Welt‘ möglich. [...] Sehen setzt die Distanzierung des zu Sehenden voraus, und damit dessen Außenwerden, genauer gesagt, [...] das Außenwerden des ‚Außen‘ selbst, das heißt die Bildung des Welthorizonts.“19 Denken als intentionales Denken ist immer schon „von dieser Welt“ und lässt in deren Horizont oder Lichtung die Dinge sehen. Aber Welt wirft die Dinge „außer sich“, weil deren lebendiger Ursprung in ihrem Rahmen nicht zur Darstellung kommen kann. So verschiebt sie die Wahrheit des Lebens zu einer Wahrheit der Dinge. Und dies in einer Abwandlung der Korrespondenztheorie: Bezugspunkt der Dingwahrheit ist nicht mehr das Sein, sondern das semantische Konstrukt.

Vor diesem Hintergrund provoziert das Jesus-Logion „Ich bin die Wahrheit und das Leben“ (Jo 14, 6), indem es beides ursprungshaft, dingfrei zusammensieht. Das Logion kann weder über Geschichte noch über einen anderen Sinnzusammenhang „von außen“ eingeholt werden, sondern allein aus seiner Selbstdarstellung, aus dem Selbsterweis des Inhalts. Das bedeutet nicht, an den Sprechenden zu glauben, um dann von dorther die Wahrheit seiner Worte zu erschließen. Es ist umgekehrt: Er selbst erschließt die Wahrheit sprechend und bringt damit zum Glauben. Daher ist in Henrys Ausführung das Johannes-Evangelium Zeugnis eines radikalen und nicht eines semantischen Wahrheitsbegriffes. Grundsätzlich: Wenn die Bibel vom „lebendigen Gott“ spricht, so bezieht sie sich nicht auf ein von der Welt oder anderem Leben her ausweisbares Leben, sondern der Lebendige bedarf keiner Affirmation von außerhalb, er ist selbst Zugang zu sich selbst. Über dieses Urleben zu sprechen meint nach Henry, den Ursprung allen Lebens und zugleich die Selbstaffektion allen Lebens zu thematisieren (falls man nicht den Zirkel des unendlichen Regresses vorzieht). „Ich bin die Wahrheit“ manifestiert so den phänomenologischen Selbstausdruck des Lebens. Wahrheit ist nichts Abstraktes, Verbalisiertes, sondern ist evidente Performation des Lebens (anstelle von Information darüber). Wahrheit ist der normalerweise „nicht erinnerte“ (immémorial) Ursprung des Lebens. Wahrheit ist Kommunikation – nicht in Worten, sondern im Lebendigen selbst. „Es ist im Gegenteil diese Wahrheit, und sie allein, die uns den Zugang zu ihr selbst verschafft und damit gleichzeitig zum Text [des Neuen Testaments], um uns denselben, dem sie anvertraut ist, verstehen zu lassen und um sie in diesem wiederzuerkennen. [...] Daß die absolute Wahrheit, die sich an sich selbst offenbart, ebenfalls dem sich offenbart, dem es gegeben ist, sie zu verstehen, bedeutet, aus dem, der sie versteht, den Sohn dieser Wahrheit zu machen, den Sohn Gottes [...] Aber was die Wahrheit dieser äußersten These betrifft, so ist es keinem Text gegeben, sie ins Leben zu rufen oder zu verstehen. [...] Die Sprache gilt als das vorzüglichste Kommunikationsmittel, eben als das Mittel, Wahrheit mitzuteilen und weiterzugeben. Aber dies ist ihre größte Illusion, wenn die einzige Wahrheit, die sie weitergeben kann, eine Wahrheit ist, die bereits existiert und sich schon offenbart hat, und zwar offenbart hat an sich selbst durch sich selbst, unabhängig von der Sprache, vor dieser.“20

Die exteriore Anschaulichkeit des Lebens in den Dingen verführt aber die Wissenschaften, insbesondere jene der Natur, zur Simulation des vorgängigen, unzugänglichen Lebens. Da es nicht wirklich erreicht werden kann, wird es nachgestellt. Hier nimmt die Analyse Henrys apokalyptische Züge an. „Stellen wir uns jetzt vor, dieses Simulieren wäre in der technisch-wissenschaftlichen Welt ein Verfahren geworden, das nicht nur auf den militärischen Bereich angewandt würde, sondern auf die sozialen Beziehungen, wie beispielsweise auf das erotische Verhältnis von Mann und Frau. [...] Der Schein eines Frauenkörpers wird vor ihm nach und nach seine verschiedenen Aspekte entfalten, aber nicht wie auf einer Filmwand, sondern unter seinen Fingern, so daß sich bei jeder Bewegung seiner Hand oder seines Körpers eine neue Stelle des weiblichen Körpers enthüllt und dessen Bewegungen entspricht [...] während in ihm die spurenhaft vorgezeichneten Abfolgen erogenen Begehrens und Empfindens erwachen. [...] Unter den Berührungen beginnt der weibliche Scheinleib zu erzittern, die Augen verhüllen sich, der Mund verdreht sich und fängt an zu seufzen, alle Zeichen der Lust sind da. Das Standbild des Tieres wird wieder lebendig, sein fiktives Leben vermengt sich mit dem Leben des Kabinenbenutzers. Wie die Geheime Offenbarung 13,15 sagt, handelt es sich darum, ‚dem Standbild des Tieres Leben zu verleihen, so daß es sprechen konnte‘. [...] Sie werden außergewöhnliche Maschinen herstellen, die all das machen werden, was die Menschen tun, was die Männer und Frauen tun, und zwar, um diese Männer und Frauen glauben zu machen, daß sie selbst nur Maschinen sind. [..] Die ‚Wahrheit‘ ist das ‚Leben‘. Das Wunderwerk: das Simulieren des ‚Lebens‘. Das Böse: überall dort, wo dieses Simulieren stattfindet. [...] Wenn in der Erotikkabine jener, welcher eine Frau umschlingt, sein Leben dort erprobend erfahren will, dort, wo dieses Leben sich selbsterprobend erfährt, in seinem lebendigen ‚Sich‘ – nur die Leere, die reine ‚Abwesenheit‘, das radikal Böse umschlingt: NIEMANDEN.“21

Stattdessen ist Wahrheit die absolute Gabe des Lebens: ein unergründliches Sich-zu-sich-selbst-Verhalten, das sich dem Urlebendigen verdankt und dennoch selbsteigen ist. Wahrheiten im Plural entspringen aus dieser Selbstoffenbarung der absoluten Wahrheit und bleiben an sie rückgebunden, auch wenn sie gegenstandsbezogen operieren. „Vergessen“ sie diesen Ursprung, geraten sie allerdings tendenziell in die Peripherie des Todes, der bloßen, technisch rekonstruierbaren Faktenhaftigkeit.

In der Konsequenz heißt das, dass Wahrheit wieder denkbar ist: zum einen als Rückbindung des Sehens, Denkens, Sagens an die Phänomene in ihrer sich selbst aussagenden Lebendigkeit (oder abgewiesen im Gegenbild der Lüge als simulierter Lebendigkeit). Diese Wahrheit wird allerdings nicht einfach mehr als unmittelbare Seinswahrheit oder „Wahrheit der Dinge“, auch nicht mehr als Übereinstimmung von Sprachzeichen und Wirklichkeit gefasst, sondern bestimmt als Teilhabe an der Phänomenalität, als mittelbare Wahrheit des Gezeigten. Und es gibt zum anderen die erstrangige unmittelbare Wahrheit des Sich-Zeigens: Sie ist das Sich-selbst-Bezeugen des Urlebens. Das Logion „Ich bin die Wahrheit und das Leben“ fordert nicht einfach einen positiven Glaubensakt ein, sondern die Selbst-Transparenz des phänomenologischen Denkakts.

Dazu tritt als zweiter Gedankengang, dass das eine Leben ins Fleisch der endlichen Vielheit ausdifferenziert ist, geradezu sich entäußernd, in der Kenose des „einen unter den Vielen“22, mehr noch: des einen für die Vielen. Anders: Dass Leben sich, weil lebendig, verausgabt. Zugleich aber ursprünglich verausgabt, denn das gezeugte Leben ist wiederum sich selbst gehörig (und kann sich selbst daher geben). So geschieht die Weitergabe von Leben nicht tautologisch = als autistische Wiederholung, sondern unter dem Zeichen des Selbstverlustes, der Selbstverbergung im anderen Leben.

Hieran schließt sich ein Freiheitsverlust – freie Hingabe eigener Freiheit – johanneisch gedacht an. Leben im Vollzug seiner Lebendigkeit führt genau auf jenen Prozess, in welchem das Leben nicht „wie ein Raub“23 an sich festhält, sondern sich überhaupt nur in der Entäußerung manifestiert. In der Sprache des Johannes-Evangeliums ist der Sohn in seinem Anderssein zum Vater – in seiner Rezeptivität ihm gegenüber – der Weggegebene, der die Liebe des Vaters als entäußerte empfängt und sie entäußert sowohl ihm wie den „Vielen“ weitergibt. Freiheit besteht hier ausschließlich in der Zustimmung zu diesem Prozess lebendiger Weitergabe und Weiternahme durch das Leben. Leben selbst, in dieser Prozessualität, ist die bezwingende Macht des lebenfordernden Antlitzes. Solange Leben sinnvoll als Selbstgabe und Annahme der Gabe phänomenologisch zu deuten ist, solange wird Leben als Verpflichtetheit, aber auch als Freudigkeit solcher Entäußerung anzusehen sein.

5. „Die Wahrheit wird euch freimachen.“ (Joh 8, 32) Eine johanneisch inspirierte Reflexion

Die Wahrheit, die das Leben ist, entbindet von der Sterilität der Selbstsicherung zur Fruchtbarkeit des Sichverschwendens. Diese Wahrheit führt gleichzeitig auf die Spur der Freiheit. Denn ist der Freie „die Ursache seiner selbst“, wie Thomas von Aquin formuliert, so ist er es in der Zustimmung zur Selbstverschwendung seines Lebens. „Die Wahrheit wird euch freimachen“ lässt sich lesen als: Die Wahrheit eigener Lebendigkeit (gebend und genommen) wird freimachen zum Geben und Sich-Nehmen-Lassen von anderer Lebendigkeit.

Das Johannes-Evangelium geht über diese allgemeine Struktur hinaus, oder besser: Es hatte sie an einer personalen Struktur abgenommen. Es hatte den „Sohn“ zugleich als Wahrheit in Person, als lebendige Wahrheit, erfasst und ihn so dem Leben und Nach-Denken aufgetragen. Es hat ihn zugleich als den sich selbst Verschwendenden, als Lamm, als Wehrlosen gezeigt: frei in seiner Unterwerfung. Hier liegt die Quelle für eine mögliche reflexive Öffnung nicht nur auf das Wahre, sondern auf den Wahren, nicht nur auf das Freie, sondern auf den Freien (sich Verschwendenden). Ein solches Sich-Offenhalten für die antlitzhafte Gestalt als Mitte und Lehrstück von Lebendigkeit ist nur begrenzt lehrbar und keineswegs zwingend weiterzugeben. Genauer: Mitteilbar ist wohl der eigene Weg, das eigene Angerührtsein, das Zeugnis im eigentlichen Sinn. Gleichzeitig ist dieser Weg von sich her nicht einfach wiederholbar, schematisch in eine Methode zu gießen. Zu wiederholen wäre allein die Öffnung der eigenen Existenz auf diese konkrete Wahrheit, konkrete Freiheit. Alle werkzeughafte Methodologie zur Erfassung des Lebendig-Wahren, des Lebendig-Freien ist nicht logisch, sondern „pneumatisch“, geisterfüllt anzuwenden.

Ausweis der Näherung an den „Sohn“, gerade wenn er konkret kenotisch, verleiblicht geglaubt wird, wird die gewonnene Einsicht, das Sehen-Können seiner Spuren auch im Horizont vielfältiger Weltdeutung, mithin in der Freiheit der Auslegung und des Auslegenlassens. Es könnte dem Christentum im Blick auf den „Sohn“ und im Blick auf die Polymorphie anderer Weltsichten gut anstehen, die Wahrheit des Sohnes an solcher Freiheit zu verdeutlichen. Sie könnte bis zur Freude daran wachsen, dass die Wahrheit polyphon ist,24 dass der lebendig Eine einen solchen Reichtum wahrer Hinweise auf sich angelegt hat. Ist die Wahrheit als Person so tief ansprechend in die eigene Existenz und in die eigene Tradition eingedrungen, dann besteht freilich auch der Anspruch, Fragen an die Welt zu stellen, im Zweifelsfall ihre Lügen offenzulegen. Dies geschieht aber nicht als Besserwissen, sondern als ein „Richten“, das im ursprünglichen Wortsinn ein Geraderichten meint. Aber dieses Richten behält seine Gerechtigkeit nur mit dem Einsatz eigener „Lebenskraft“, eigener Berührung vom Wahren, eigenen Ausgesetztseins vor seinem Angesicht. Überzeugung von Wahrheit könnte auch für jene anhörenswert, anziehend werden, die die Erfahrung dieses Wahren (noch) nicht teilen, die aber die verborgene Glut dieser Berührung spüren in einer ebenso aufrichtigen wie aufrichtenden Geste des Freilassens, denn: „Wer die Wahrheit sucht, sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht.“ (Edith Stein)

Anders:

„EIN DRÖHNEN: Es ist die

Wahrheit selbst

unter die Menschen

getreten

mitten ins

Metapherngestöber.“25

Glaube und Gesellschaft

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