Читать книгу Glaube und Gesellschaft - Группа авторов - Страница 7
„Meine Wahrheit – Deine Wahrheit...“: Verlangt der gesellschaftliche Pluralismus Abstinenz von Überzeugungen oder ihren Wettbewerb?
Оглавление„Meine Wahrheit – Deine Wahrheit...“. So lautet die postmodern begütigende Schlichtungsformel im Streit darum, ob bestimmte Erkenntnisse wahr sind und Regeln, die sich daraus ergeben, unbedingt gelten, oder ob Erkenntnisse und Regeln nur gelten sollen, soweit sich die Beteiligten mehrheitlich darauf verständigen. Das Begütigende liegt in dem generösen Zugeständnis dem gegenüber, der an Wahrheit festhält: Ja, für dich ist es wahr, für mich aber nicht. Subjektive Wahrheitsüberzeugung wird eingeräumt. Im Klartext heißt das aber: Wahrheit gibt‘s nicht. Die Berufung auf Wahrheit gilt als repressiv. Wahrheit verlangt Unterwerfung. Sie schränkt die Optionen ein. Auch die Optionen der Mächtigen. Die relativierende Frage „Was ist Wahrheit?“ eröffnete schon Pilatus die „Freiheit“, ein politisch korrektes Fehlurteil zu fällen.
Anders verhält es sich mit der Meinungsvielfalt. In der Zivilgesellschaft sind Meinungs-, Interessen-, Gestaltungsvielfalt legitim und wünschenswert. In der demokratisch verfassten „offenen Gesellschaft“ (Popper) machen gerade sie das Offene aus. Es herrscht Wettbewerb. Deshalb Meinungsfreiheit, Gestaltungs- und Wettbewerbsfreiheit: gesellschaftlicher Pluralismus. Auch Bekenntnisvielfalt hat in der Zivilgesellschaft ihren Platz: Deshalb Gewissens- und Religionsfreiheit! Obwohl Glaubensgemeinschaften selbst konstitutiv nicht pluralistisch sind.
Glaubensgemeinschaften leben aus dem gemeinsamen Bekenntnis zu vorgegebenen Glaubensinhalten. In ihnen geht es im Kern um gemeinsame Wahrheitsüberzeugung. In der politischen Gemeinschaft hingegen geht es vornehmlich um zeitgebundene Sachfragen. Es gehört zur Natur zeitgebundener Sachfragen, dass es nie nur eine Lösung oder Antwort gibt. Nur totalitäre Systeme verkünden politische Dogmen und schreiben sie als Einheitsmeinung vor. Der Versuchung mögen auch Politiker unterliegen, die Politik als Religionsersatz betreiben.
Konflikte werden in der Demokratie durch Dialog gelöst. Zeitgebundene Sachfragen erlauben fast stets einen Kompromiss. Wahrheitsfragen können nur mit Ja oder Nein beantwortet werden. Säuberlich zu trennen ist das Bedingte vom Unbedingten aber nicht. Wenn jedoch Wahrheit bloße Illusion und alles relativ ist, bleibt wenig, über das zu diskutieren sich noch lohnt. Zudem sind Bürger ohne unbedingte Überzeugungen leicht politisch manipulier- und beherrschbar.
Insofern ist es folgerichtig, dass Staat und Kirche verschieden verfasst sind: der moderne Staat demokratisch und z.B. die katholische Kirche hierarchisch. Demokratie verweist auf menschliche Veranstaltung, Hierarchie wörtlich auf „heiligen Ursprung“, der unverfügbar ist. Einer Glaubensgemeinschaft gehört jemand allerdings freiwillig an, während er zwangsläufig Bürger des Staates ist.
So wünschenswert es ist, dass in der zivilen Gesellschaft Pluralismus herrscht, es gibt Grenzen, jenseits deren er ideologisch verkommt, sei es zur naiven Multikulti-Euphorie, zum Orientierungsverlust, zur Überzeugungslosigkeit als Bildungsideal oder zu jenem „Rollenpluralismus“, zu dem unsere mediale Welt verleitet. Ein Freund, Unternehmer – sagen wir Herr Weber – gestand mir einmal, er sehne sich danach, dass der Unternehmer Weber, der Familienvater Weber, der Kirchgänger Weber und der Kommunalpolitiker Weber ein und derselbe Herr Weber seien. Der Druck zu öffentlicher (Selbst-) Darstellung bringt heute nicht selten ein und denselben Akteur dazu, in seinen verschiedenen Rollen schon eine veritable pluralistische Gesellschaft zustande zu bringen.
Pluralismus und Demokratie
Im Namen der Demokratie wird einerseits der Pluralismus unentwegt beschworen: je mehr, um so demokratischer. Andererseits ist auch unter demokratischer Herrschaft ein politischer Hang zur Homogenisierung gesellschaftlicher Verhältnisse nicht zu übersehen, zur Vereinheitlichung oder Gleichstellung von durchaus Verschiedenem.
In unserer politischen Gesellschaft scheint hier und da etwas mehr Pluralismus schon wünschenswert zu sein. Beispiel Bildungswesen: In Deutschland gibt es nur rund fünf Prozent Privatschulen. Und sie heißen Ersatzschulen, schwimmen also im Kielwasser des staatlichen Systemführers. Das ermutigt kaum, kreativ andere Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. Beispiel Familienpolitik: Die Politik drängt zur Fremdbetreuung der Kinder statt Eltern chancengleiches Wahlrecht einzuräumen zwischen häuslicher Erziehung und Kita. Beispiel Geschlechterverschiedenheit: Statt die Gleichwertigkeit von Mann und Frau herauszustellen, betreibt die Politik mit „gender-mainstreaming“ die Aufhebung des Geschlechterunterschieds. Beispiel Gesundheitswesen: Statt auf das Berufsethos der Ärzte zu setzen und die ärztliche Gewissensbildung zu fördern, sucht die Gesundheitsökonomie und -politik zunehmend die ärztliche Tätigkeit zu uniformieren, selbst um den Preis der Relativierung des Lebensrechts.
Zum Widerstand gegen diesen letzteren Trend aus Treue zur ärztlichen Berufung ermutigte in den USA schon vor Jahren der Arzt und Philosoph Edmund Pellegrino. Der Pluralismus, so verstand er, lade Ärzte und Krankenhäuser zum Wettbewerb ein. Und diesen Wettbewerb um das Vertrauen der Patienten werde selbst eine gegenwärtige Minderheit mit eindeutigem Bekenntnis zum Vorrang des Arzt-Patient-Verhältnisses und zum Lebensschutz auf Dauer gewinnen.1
Auch unter demokratischen Verhältnissen gibt es also nicht nur Pluralismusdefizite sondern offenbar sogar politische Angst vor Pluralismus. Woher sonst kommt der politische Hang zur Vereinheitlichung des Verschiedenen?
Nicht von ungefähr zeigen die Beispiele Schule, Kindererziehung oder Arztberuf Lebensbereiche an, über die nicht nur Meinungen ausgetauscht werden. In ihnen führen grundsätzlichere Überzeugungen und Lebenseinstellungen zu Auseinandersetzungen. Eltern oder Ärzten, die an Überzeugungen festhalten, die sie für wahr oder moralisch unverrückbar halten, wird von Gesellschaft und Politik entgegengehalten, Wahrheit und Moral seien den Zeitentwicklungen anzupassen, also veränderlich und folglich relativ. Woran man sich zu halten habe, entscheide die jeweilige Mehrheit. Und das gelte für alle. Die Minderheit habe zu gehorchen. So verlange es die Demokratie. Über bloße Meinungen hinaus haben Menschen aber auch Haltungen und Einstellungen von prinzipiellerer Natur. Unbedingte Überzeugungen sind für die Betreffenden Teil ihrer Identität, ohne die sie als Personen nicht ernstgenommen werden. Das gilt zumal für ihre religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse und sittlichen Überzeugungen.
Legitimer gesellschaftlicher Pluralismus
Unter legitimem gesellschaftlichem Pluralismus versteht sich zunächst das friedliche Zusammenleben von Bürgern mit unterschiedlichen Meinungen, Interessen und Überzeugungen. Die größere Herausforderung bleibt – die Diskussion um die multikulturelle Gesellschaft macht das wieder deutlich – das friedliche Zusammenleben von Bürgern unterschiedlichen religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses.
Mit den Konfessionskriegen nach der Reformation hat die europäische Moderne schlechte Erfahrungen gemacht. Das dann folgende Prinzip „cuius regio eius religio“ (wessen Herrschaft, dessen Bekenntnis) hat sich nicht bewährt. Solche Untertänigkeit ist nicht mehr nachvollziehbar. Und im 20. Jahrhundert haben die weltanschaulichen und politischen Gleichschaltungsversuche und die gewaltsame Abschaffung der Religion in Katastrophen geführt. Der demokratische Rechtsstaat hat das friedliche Miteinander von Bürgern unterschiedlichen Bekenntnisses bislang noch am besten gelöst: Der Staat ist selbst religiös und weltanschaulich neutral. Ein in der Verfassung verankertes Regelwerk gewährleistet gesellschaftlichen Pluralismus und begrenzt ihn zugleich. Sinnlos ist es allerdings, den Regeln, die das friedliche Nebeneinander unterschiedlicher Wahrheitsüberzeugungen und Bekenntnisse in der zivilen Gesellschaft erlauben, die Religions- und Bekenntnisgemeinschaften selbst unterwerfen zu wollen.
Pluralismus ist ein negativ definierter Begriff. Er ist selbst inhaltslos. Er setzt voraus, dass jeder seinen Inhalt mitbringt. Zum Pluralismus kann man sich also nicht eigentlich „bekennen“, es sei denn in dem Sinn, dass man das Recht anderer anerkennt, anderer Überzeugung zu sein.
Nur oberflächlich betrachtet scheinen Religion und Weltanschauung dem gesellschaftlichen Pluralismus – i.S. friedlichen Zusammenlebens – im Wege zu stehen. Daher die verbreitete Meinung, unbedingte Überzeugungen störten den Frieden, gefährdeten die Demokratie. Damit der Pluralismus das friedliche Zusammenleben von Bürgern unterschiedlichen Bekenntnisses und verschiedener unbedingter Überzeugung ermöglichen kann, müssen erstens die Bürger tatsächlich solch unbedingte Überzeugungen und einen religiösen oder weltanschaulichen Standort haben. Und zweitens bedarf es bei solch überzeugungsstarken Bürgern mindestens des gemeinsamen Willens zum friedlichen Zusammenleben mit Andersdenkenden. Dieser Wille ist aber bereits Ausdruck des gemeinsamen Bekenntnisses zur gleichen Würde aller. Tatsächlich wurzelt, positiv formuliert, die Demokratie im gemeinsamen Bekenntnis zur Achtung jedes einzelnen, Religionsfreiheit und Freiheit der Gewissen eingeschlossen.
Dieses gemeinsame Bekenntnis liegt nicht in der Verfügungsmacht des Staates. Er muss es vielmehr voraussetzen – als unverzichtbar für die Erziehung tauglicher Bürger. Der demokratische Rechtsstaat ist zwar weltanschaulich neutral, aber nicht wertneutral. Er gründet auf Werten und ist auf Erziehung der Bürger zu diesen Werten angewiesen. Weil der Staat konkrete Werte nicht religiös oder weltanschaulich verwurzeln kann, vermag er ihre Verbindlichkeit – ihre unbedingte Geltung – nicht zu begründen. Diese Werte gründen entweder in Wahrheiten – Wahrheiten über den Menschen; dann dürfen Religion und Weltanschauung dem Staat nicht gleichgültig sein. Oder sie sind beliebig; dann erhebt der Staat die Demokratie zur zivilen Religion, zu deren totalitärem Glaubensinhalt er selbst wird.
Der gesellschaftliche Pluralismus kann nur unterschiedliche Bekenntnisse erlauben, weil und solange er selbst keines ist. Der Begriff ist, wie erwähnt, inhaltsleer und aufnahmebereit für die Überzeugungen der Bürger. Leer bleibt der Hohlraum aber nie. Was er aufnimmt, stellt der Staat frei – in Grenzen. Eine Religion, die verlangt, Witwen zu verbrennen, würde wohl zu Recht verboten. Eine gewisse Kohärenz religiös-weltanschaulicher Gebote mit den Wertbekenntnissen des Rechtsstaates scheint demnach unverzichtbar. Wenn die pluralistische Gesellschaft unterschiedliche Bekenntnisse als gleich gültig behandelt, erklärt sie damit nicht für gleichgültig, was jemand glaubt, sondern achtet und schützt die Personen verschiedenen Glaubens gleichermaßen. Adressat des Toleranzgebots ist also nicht jemandes Glaube, Überzeugung oder Meinung, sondern die Person, auch wenn sie eine noch so skurrile Wahrheitsüberzeugung hat.
Vordergründig verneinte der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts von 19952 das Recht des Staates, sich mit einem christlichen Symbol, dem Kruzifix, zu identifizieren, weil er damit ein bestimmtes Bekenntnis, die christliche Religion, privilegiere. Der evangelische Theologe Rolf Schieder bemerkte scharfsinnig, dass in dem Streit weder die katholische noch eine evangelische Kirche als Partei oder sonst unmittelbar beteiligt war.3 Vielmehr kämpften zwei Verfassungsorgane des Staates um das richtige Selbstverständnis. Der Freistaat Bayern beanspruchte das Recht, zur Darstellung seiner eigenen Kulturidentität ein christliches Symbol zu verwenden. (Niemand hat übrigens gefragt, ob die Landesregierung dazu eigentlich einer kirchlichen Lizenz bedarf. Für die Kirche ist nämlich das Kruzifix viel mehr als ein Kultursymbol. Was wiederum die Richter in dem Urteil mit dem „Apellationscharakter“ des Kruzifixes aufgriffen und gegen das „Kultursymbol“-Argument des Freistaates Bayern einwandten.) Das Bundesverfassungsgericht bekannte sich zu einem Pluralismus-Verständnis, das laut erstem Grundsatz des Urteils im wörtlichen Sinne die leere Wand verlangt. Demnach sollen die Kinder in der staatlichen Schule so glaubens-„frei“ wie möglich erzogen werden. An nichts zu glauben, ist aber auch ein Glaube. Mit der leeren Wand privilegiert das Urteil in Wirklichkeit einen weltanschaulichen Nihilismus. Der Freistaat Bayern führte dagegen die vom Grundgesetz vorausgesetzte Werte-Erziehung ins Feld, die ohne konkrete Orientierung nicht möglich sei.4
In der politischen Philosophie seit Platon taucht denn auch immer wieder die Erkenntnis auf, dass der Staat von sich aus dazu neigt, die Menschen als Bürger total zu vereinnahmen. Es bedarf neben dem Staat anderer Institutionen, die den Menschen aufgrund seines Menschseins würdigen. Sie nehmen ihn vor einer solch totalen Inanspruchnahme durch den Staat in Schutz. Zu diesen Institutionen gehören vor allem die Familie und die Religion. Tatsächlich haben moderne totalitäre Systeme die Familie und die Religion bekämpft. Umgekehrt bewahrt der Staat die Menschen vor einseitiger Spiritualisierung und erinnert sie an ihre irdisch-leibliche Existenz. Das ansehnliche Maß an persönlicher und politischer Freiheit im modernen Rechtsstaat ist in Europa wohl auch eine Frucht der geschichtlichen Spannung zwischen Kirche und Staat.
Nicht nur die Tatsache, dass zwei mal zwei vier ist, und die Frage, ob Gott existiert, entziehen sich jeglicher Abstimmung. Es gibt auch Wahrheitsüberzeugungen des Staates, die der Mehrheitsentscheidung und richterlicher Verfügung entzogen bleiben. Deshalb sind die Grundrechte in der Verfassung festgeschrieben, was grundsätzlich heißt: Sie gelten nicht als meinungsabhängig, sondern unbedingt. Nimmt man als Beispiel das Recht auf Leben und seine Relativierung in öffentlichen Diskussionen bis hin zu höchstrichterlichen Urteilen, wird allerdings in unseren Gesellschaften ein dritter Pluralismus – jenseits von Meinungs- und religiösem Pluralismus – sichtbar, der sogenannte Pluralismus der Werte, oder aktueller ausgedrückt: der ethische Relativismus. Einer rechtsstaatlichen Ordnung setzt er Grenzen, die zunehmend offen zutage treten.
Die Zuversicht der Väter des Grundgesetzes, dass es zur Freiheitssicherung aller, auch der Minderheiten und Schwachen, genüge, das, was nicht zur Disposition steht, in der Verfassung zu verankern, ist heute einer Desillusionierung gewichen. Selbst das Verfassungsgericht gerät unter Druck. Karin Graßhof, Richterin am BVerfG, II. Senat, sprach kurz nach dem Urteil vom 28. Mai 1993 zu 218f. StGB bei einem Colloquium im Lindenthal-Institut in Köln von einem „juristischen Spagat“, zu dem das Gericht sich genötigt gesehen habe. Das Problem habe darin bestanden, so wörtlich, „dass effektiver Lebensschutz gewährleistet werden soll in der sozialen Wirklichkeit, wie sie sich nun einmal entwickelt hat.“5 Heißt das, dass letztlich die gesellschaftliche Wirklichkeit, wie sie sich nun einmal entwickelt, auch das Verfassungsrecht bestimmt? Kurz vor dem Urteil hatte Jürgen Busche von der Süddeutschen Zeitung bei einem Colloquium pointiert geäußert, letztlich seien wohl die Juristen auf die Rolle von „Notaren des Zeitgeistes“ verwiesen.6 In dem Maße, in dem die ursprünglichen Sinngehalte grundrechtlicher Verfassungsgebote aus den Bekenntnissen und Überzeugungen der Menschen verdunsten, werden auch kodifizierte Rechtsnormen umgedeutet. Und wohl auch Ideologien in Gesetzestexte gegossen.
Als Instrument der Friedenssicherung kann der Pluralismus wahre Faszination ausüben. Sie kann voreilig und unbedacht statt zur Achtung der Personen zur Gleichgültigkeit gegenüber ihren Überzeugungen verleiten. Der legitime gesellschaftliche Pluralismus steigert sich schleichend zu einem ideologischen Hyperpluralismus oder Relativismus, der jeglichem Wahrheitsgehalt und jeder normativen Unbedingtheit misstraut. Wird der per se inhaltsleere Pluralismus zum – zudem einzig geltenden – Bekenntnisinhalt, folgt daraus als Bildungsideal die Überzeugungslosigkeit. Dem Geltungsanspruch des so verstandenen Bekenntnisses zum Pluralismus hat jede andere Wahrheitsüberzeugung zu weichen. Sie kann allenfalls als Privatsache toleriert werden, darf aber in der Öffentlichkeit keine Rolle spielen. Gesellschaftliches oder gar öffentliches Handeln, etwa eines Politikers, kann mit derlei privaten Ansichten und Überzeugungen nicht gerechtfertigt werden.
Theoretiker dieser Ideologie erklären, dass es so etwas wie objektive Erkenntnis oder gar Wahrheit nicht geben kann. Oder dass Wahrheit nicht zugänglich ist. Selbst in der Wissenschaft gelte, was gilt, weil sich die scientific community darauf geeinigt hat. Soziologen und Politologen warnen, dass unbedingte Überzeugungen, zumal der Glaube an religiöse Wahrheiten, den Frieden bedrohen. Wem noch wirklich etwas heilig und über jede Diskussion erhaben ist, gilt als Fundamentalist. Was gut und was böse ist, liege nicht fest, sondern werde im offenen Diskurs bestimmt. Diskurse werden dann nicht nur tendenziell endlos, sondern vor allem auch zwecklos, liegt doch ihr Ergebnis – oder genauer: ihre Ergebnislosigkeit – ohnehin im vorhinein fest: Deine Wahrheit gegen meine Wahrheit. Als Konsens gilt dann, worauf sich eine Mehrheit einigt. Wie in der Politik.
Politiker, die die Moral vom notwendigen gesellschaftlichen Konsens abhängig machen, halten allerdings auch Festreden auf die Männer des 20. Juli. Sie trafen jedoch höchst einsame moralische Entscheidungen – gegen jeden gesellschaftlichen Konsens.
Die unheilige Allianz zwischen Demokratie und ethischem Relativismus höhlt die staatliche Rechtsordnung aus und stellt den Rechtsstaat zur Disposition. Deshalb widmet ihr Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Evangelium vitae“ sehr betroffene und besorgte Abschnitte7 und Papst Benedikt der XVI. warnte bereits vor Antritt seines Pontifikats vor einer „Diktatur des Relativismus“.8