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Toleranz – Relativismus – Political Correctness

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Zur Toleranz-Position von Rainer Forst und Jürgen Habermas1

Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal ins Rheinland kam, nahm mich ein Kölner zur Seite; er wollte mir einen Satz mitgeben, der mir helfen könne, die Mentalität der Leute hier besser zu verstehen: „Jeder Jeck ist anders, aber Jecken sind auch Menschen.“ Heute denke ich, dass der Satz hilfreich war und zutreffend ist. Das Wort „Jeck“ ist mehrdeutig – schillernd, wie die Kölner nun mal gerne sind: in extremer und negativer Lesart mit „verrückt“ zu übersetzen, aber doch meist spielerisch gemeint im Sinne von „eigen“, „speziell“ bis hin zu „lustig“. Wenn „jeder Jeck anders“ ist und sich möglicherweise auch noch (fast) jeder Kölner als „Jeck“ versteht, ist damit auf eine erhebliche Bandbreite von Mentalitäten und Verhaltensweisen angespielt, auf bisweilen weite Abweichungen von einer klar definierten Norm – ganz nach dem schönen Motto „Leben und leben lassen“. Aber ein Gespür dafür, dass das auch Grenzen hat und eine Verankerung braucht, hat man in Köln schon. Deshalb wohl auch der zweite Halbsatz „aber Jecken sind auch Menschen“ – sie haben Menschenwürde unabhängig davon, wie weit sie von einer (wie auch immer definierten) Norm abweichen. Dass Rheinländer (meist) tolerante Menschen sind, wird so noch einmal offensichtlich. Köln ist mithin ein guter Ort, nochmals über Toleranz nachzudenken: Was ist Toleranz und warum ist sie offensichtlich so wichtig, dass sie auch am Anfang dieses Bandes über „Wahrheit – Pluralismus – Relativismus“ steht?

„Menschen töten Menschen. Weil dem Leben Gewalt droht, benötigt der Mensch Schutz. Diesen Lebensschutz sicherzustellen ist die grundlegende, die erste Stufe der Toleranz.“2 Das zeigte sich in der historischen Perspektive, als – um nur einen Meilenstein zu erwähnen – mit dem Mailänder Dekret von 313 die Zeit z. T. harter Christenverfolgungen zu Ende ging und im Römischen Reich volle religiöse Toleranz für alle Religionen eingeführt wurde.3 Das zeigte sich dann mit neuer Schärfe seit der Konfessionsspaltung, also durchgehend vom 16. Jahrhundert an, auch heute, da in jeder religiös und kulturell pluralistischen Gesellschaft der Toleranz eine bedeutende Aufgabe zukommt: „Wir sollen im Anderen auch dann den Mitbürger achten, wenn wir seinen Glauben oder sein Denken für falsch und einen entsprechenden Lebenswandel für schlecht halten. Toleranz bewahrt eine pluralistische Gesellschaft davor, als politisches Gemeinwesen durch weltanschauliche Konflikte zerrissen zu werden“, so reißt Jürgen Habermas in der für ihn typischen – letztlich auf die Gesellschaft bezogenen – Blickweise dieses vielschichtige Thema auf4.

Zum folgenden Text: Nicht selten bekommt Toleranz eine relativistische Konnotation. Wie es dazu kommt, gilt es zu erörtern am Ende von Teil I, der der Toleranz sowohl auf der persönlichen Ebene als auch in ihren gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen gewidmet ist. Teil II behandelt kurz das vielschichtige Phänomen des Relativismus sowie ein Symptom des Relativismus, das uns als Political Correctness geläufig ist. Abgeschlossen wird dieser Beitrag mit einem kurzen Ausblick (Teil III).

I. Toleranz

1. Paradoxien und Spannungen des Toleranzbegriffs

Toleranz kann nur jemand üben, der „subjektiv überzeugende Gründe für die Ablehnung von Andersgläubigen hat“. Die Ablehnungsgründe, die Toleranz erfordern, dürfen nach Habermas nicht nur subjektiv für gut gehalten werden, sondern müssen auch öffentlich als legitim gelten dürfen, wozu Vorurteile nicht zählen. „Von Toleranz darf nur dann die Rede sein, wenn die Beteiligten ihre Ablehnung auf eine vernünftigerweise fortbestehende Nicht-Übereinstimmung stützen können.“5

Schon durch diese Habermas‘schen Zeilen scheinen die der Toleranz innewohnenden Paradoxien durch: Kann es – und vor allem: wie kann es – moralisch richtig oder gar geboten sein, das moralisch Falsche oder Schlechte zu tolerieren? Wie kann man Überzeugungen ablehnen und sie zugleich tolerieren?

Klären wir zuerst, was die aus dem lateinischen Verbum „tolerare“, das sich mit „dulden“ oder „ertragen“ übersetzen lässt, abgeleitete Toleranz ist. In seinem ursprünglichen Wortsinn bezeichnet es das geduldige Ertragen von abweichenden Auffassungen und damit auch das Hinnehmen von Beeinträchtigungen, die sich im Zusammenleben von Einzelnen oder Gruppen dann ergeben, wenn unterschiedliche Überzeugungen aufeinander stoßen.6 Das erklärt aber noch nicht, warum es zur Toleranz kommt. Um das zu verstehen, hilft uns das hier verwendete Toleranz-Konzept, wie es Rainer Forst skizziert,7 und das aus zwei, eigentlich aber aus drei Komponenten besteht: 1) Da die tolerierten Überzeugungen oder Praktiken in einem normativ gehaltvollen Sinne als falsch angesehen bzw. als schlecht verurteilt werden, gibt es eine Ablehnungskomponente. 2) Etwas abzulehnen impliziert, dass man in derselben Materie eine eigene Überzeugung (oder Praktik) hat. Es erscheint nicht nur aus didaktischen Gründen sinnvoll, diese „Überzeugungskomponente“ zu explizieren (was Forst nicht tut), denn sie stellt eine notwendige Bedingung für Toleranz dar.8 3) Die Akzeptanzkomponente: Die tolerierten Überzeugungen (oder Praktiken) werden nicht in einem solchen Maß als falsch oder schlecht verurteilt, dass nicht andere, positive Gründe für ihre Tolerierung sprechen. Dabei müssen die positiven Gründe die negativen insofern übertrumpfen, dass sie höherer Ordnung sind, die Ablehnung aber bestehen lassen.

Auf den Punkt gebracht: „Respektiert wird die Person des Anderen, toleriert werden seine Überzeugungen und Handlungen.“9 Toleranz bedeutet mithin nicht Achtung vor der Überzeugung eines Anderen, sondern Achtung vor ihm, der diese von mir abgelehnte Überzeugung hat, also Achtung vor seiner Person. Wir werden später sehen, weshalb die Präzisierung wichtig ist, dass Achtung und Respekt nicht dem Inhalt einer Überzeugung, sondern der Person gilt, die diese Überzeugung äußert.

Schon die obige Definition mit ihren drei Komponenten macht deutlich, welcher Spannungsbogen damit aufgebaut ist: „Ohne Fremdheit hätte Toleranz keinen Sinn, kein proprium.“ Toleranz brauche Distanz und Differenz. Genauso wichtig sei die Abgrenzung zur anderen Seite, zur Indifferenz: Toleranz sei „mehr als gleichgültiges Nebeneinander; sie relativiert Wahrheits-Behauptungen nicht, sie reibt sich an den Unterschieden, ja hält sich an ihnen lebendig.“ Und zusammenfassend: „Toleranz ist, im Licht dieser Abgrenzungen, die bewegliche Mitte zwischen Distanz und Nähe.“10

2. „Auf gleicher Augenhöhe“? Zu drei Konzeptionen der Toleranz

Wo hat Toleranz ihren Platz? Nicht nur bei den großen religionspolitischen Fragen, die ggf. Rechtsetzung und Rechtsanwendung betreffen, sondern auch in den kleinen und größeren Problemen des Alltags: vom Wochenendprogramm oder der Feriengestaltung in der Familie über die schulische und religiöse Erziehung der Kinder, das Durchleiden der vielen Merkwürdigkeiten in der Pubertätsphase der eigenen Jugendlichen bis hin zu Lebensentscheidungen der erwachsenen Kinder, wie etwa die Wahl – oder Nicht-Wahl – des Ehepartners. Auch in vielen Situationen unter Eheleuten ist es oft nötig, Toleranz zu üben, am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft ohnehin. Die Ablehnungskomponente ist meist schnell gefunden – die Akzeptanzkomponente aber auch? Im familiären Umfeld liegen die die Ablehnung übertrumpfenden Gründe höherer Ordnung wohl in den familiären Banden, die besondere Liebe, ja Selbstverleugnung und manchmal sogar Aufopferung für den anderen stimulieren sollten und oft auch wirklich stimulieren. Worauf jedoch gründet Toleranz am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, aber auch in den großen religionspolitischen Fragen? Toleranzbasis sei, so Habermas, das Bewusstsein, einer „Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger anzugehören, in der einer dem anderen für seine politischen Äußerungen und Handlungen Rechenschaft schuldet.“11 Mithin ist Toleranz zu üben:

1 zwischen gleichberechtigten Bürgern, also „auf gleicher Augenhöhe“;

2 zwischen Bürgern, die sich zuerst einmal als Menschen ernstnehmen. Für Forst bedarf es „keiner weiteren Gründe für die Achtung des Anderen“. „Der Begriff ‚Mensch‘ muss selbst einen gewissen normativen Sinn gewinnen“12, Toleranz also in der Menschenwürde verankert sein.

3 In der „inklusiven Bürgergesellschaft“ müssten sich, so Habermas, „staatsbürgerliche Gleichheit und kulturelle Differenz auf die richtige Weise ergänzen“13.

Damit befinden wir uns mitten in der gesellschaftspolitischen Dimension der Toleranz. Forst unterscheidet drei Situationen, die er Konzeptionen nennt.14 Da Toleranz unter gleichberechtigten Bürgern geübt werden soll, hat sie mehr zu sein als nur eine Erlaubnis. In einem solchen Fall gibt die Autorität (oder Mehrheit) der Minderheit die Erlaubnis, ihren Überzeugungen gemäß zu leben, solange sie die Vorherrschaft der Autorität nicht in Frage stellt (so 1598 im Edikt von Nantes durch den französischen König Heinrich IV. zugunsten der Hugenotten, das 1685 widerrufen wurde) oder die „Grenzen des Erträglichen“ überschreitet. Toleranz wird eingesetzt als Mittel der Konfliktvermeidung und zur Verfolgung eigener Ziele. Die Toleranzsituation ist nicht-reziprok, denn die Minderheit ist gezwungen, die Machtposition der Autorität hinzunehmen. Diese Situation – Erlaubnis von oben herab – dürfte Goethe zu dem bekannten Diktum inspiriert haben: „Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“15 In der Tat: Diese Form der Erlaubnis mag zwar ein Fortschritt gegenüber früheren Situationen darstellen, sie bleibt aber noch eine rudimentäre Form der Toleranz.

Ebenfalls rudimentär ist Toleranz, der eine Koexistenz-Situation zugrunde liegt: Ungefähr gleich starke Gruppen stehen sich gegenüber, die einsehen, dass sie um des sozialen Friedens und ihrer eigenen Interessen willen Toleranz üben sollten. Da der wesentliche Grund für Toleranz wegfällt, sobald sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ändern zugunsten einer Gruppe, führt das nicht zu einem stabilen sozialen Zustand. So geraten Minderheiten, die im Machtspiel zu schwach sind, in Gefahr, übervorteilt zu werden.

Das ist anders, wenn Toleranz aus Respekt geübt wird: Dann achten sich die tolerierenden Individuen bzw. Gruppen wechselseitig als gleichberechtigte Mitglieder einer Gemeinschaft. Obwohl ihre ethischen Überzeugungen und kulturellen Praktiken oft inkompatibel seien, so Forst, anerkennen sie sich gegenseitig „als moralisch und rechtlich Gleiche“ in dem Sinne, dass in ihren Augen „die allen gemeinsame Grundstruktur des politisch-sozialen Lebens“ von Normen geleitet werden sollten, die „alle Bürger gleichermaßen akzeptieren können und die nicht eine ‚ethische Gemeinschaft‘ (z.B. eine Religionsgemeinschaft) bevorteilen. Grundlage hierfür ist der Respekt der moralischen Autonomie der Einzelnen und ihres ‚Rechts auf Rechtfertigung‘ von Normen, die reziprok-allgemeine Geltung beanspruchen.“16

3. Wann können tolerante Bürger ihre eigenen (ethischen) Überzeugungen durchsetzen?

Was bedeutet das „Recht auf Rechtfertigung“?17 „Handlungsfreiheiten oder -beschränkungen, insbesondere jede Ausübung von Zwang, zumal Rechtszwang, sind rechtfertigungsbedürftig“. Anders gewendet: „Zentral ist die Einsicht, dass man anderen, die andere ethische Überzeugungen als man selbst haben, Gründe schuldet, die auch sie akzeptieren bzw. nicht vernünftigerweise zurückweisen können.“ Die Frage nach dem Wie einer solchen Rechtfertigung beantwortet Forst mit den Kriterien „reziprok“ und „allgemein“: Bürger seien folglich dann tolerant, wenn sie „den Bereich des wechselseitig Forderbaren und Verbindlichen auf das reziprok und allgemein zu Rechtfertigende beschränken.“

1) Reziprok bedeutet für Forst: Niemand dürfe bestimmte Ansprüche auf die Geltung von Normen oder auf Rechte erheben, die er anderen verweigert, und niemand dürfe den Anderen die eigene Perspektive, die eigenen Wertsetzungen, Überzeugungen oder Interessen einfach unterstellen, indem man beansprucht, im „eigentlichen“ Interesse der Anderen zu sprechen. Dieses Kriterium fordere Gründe ein, die teilbar sind. Eine klare Verletzung der Reziprozität liege, so Forst, bspw. dann vor, wenn „der Anhänger einer bestimmten Religion es für wechselseitig zumutbar hält, anderen (in der Form bestimmter rechtlicher Regelungen) Werte aufzuzwingen, die er für wahr hält, die anderen aber nicht. Denn seiner Meinung nach wäre er an deren Stelle glücklich, zur Wahrheit gezwungen zu werden. Diese Person stellt folglich ihre nicht teilbare Auffassung ethischer Wahrheit über das Prinzip reziproker Rechtfertigung – und erfüllt damit nicht das Kriterium der Begründbarkeit wechselseitiger normativer Forderungen.“18 Anders gesagt: „Wer tolerant ist, darf einerseits das eigene Ethos nur in den Grenzen dessen, was allen gleichermaßen zusteht, realisieren. Andererseits muss er auch das Ethos der anderen in diesen Grenzen respektieren.“19

2) Allgemein: Dieses andere Kriterium bedeutet für Forst, „dass eine normative Lösung die Ansprüche einer jeden Person bedenken muss und nicht zwischen zwei gesellschaftlich dominanten Parteien – etwa zwei Konfessionen – allein ausgehandelt werden kann. Eine jede Person hat demnach ein moralisches Vetorecht reziprok-allgemeiner Einwände.“20 Hier kann auf eine kritische Anmerkung nicht verzichtet werden, denn die rigide Formulierung dieses Kriteriums überrascht: Wenn „jede Person“ ein „moralisches Vetorecht“ haben soll, stellt sich schon die Frage, wie in großen Gesellschaften jemals die Hürde dieses Kriteriums übersprungen werden könnte – oder ob es sich nicht letztlich um ein unerreichbares Ideal handelt21.

Toleranz fordere es gerade dann, wenn man die eigenen ethischen Überzeugungen nach wie vor für wahr und richtig hält, diese Überzeugungen nicht ohne entsprechende Rechtfertigung durchsetzen zu wollen. Gelingt es diesen Wertüberzeugungen nicht, die Grenze von Reziprozität und Allgemeinheit zu überschreiten, „bedeutet dies keinesfalls, dass sie nicht länger als wahr oder richtig angesehen werden können und ethisch ent-wertet sind, sondern dass sie – zumindest in dieser Situation – keine hinreichende Begründung für eine allgemeine normative Regelung darstellen. Dies ist die entscheidende Einsicht der Toleranz. Eine tolerante Person wird weiter nach ihren Überzeugungen leben und ggfs. für sie werben, aber sie wird sie nicht anderen, die diese Überzeugungen reziprok und allgemein zurückweisen können, vorschreiben.“22 Nach den eigenen Überzeugungen zu leben und sie auch offensiv zu vertreten, für sie zu werben, steht mithin einerseits nicht im Widerspruch zur Toleranz, sondern ist gerade ein Ausdruck von Toleranz: Die anderen wie auch die Gesellschaft insgesamt lassen einem die Freiheit dazu. Andererseits würden diese Überzeugungen jedoch nicht in einer Gemeinschaft oder Öffentlichkeit wirksam und dominant werden können, sich mithin nicht durchsetzen und zu allgemein geltenden Normen werden.

Mithin unterscheidet Forst „zwischen a) allgemein geltenden Normen und b) Überzeugungen und Werten, welche nicht in der oben beschriebenen Weise gerechtfertigt werden können und müssen.“23 Allgemein geltende Normen bezögen sich „allein auf das intersubjektiv, kontextübergreifend Verbindliche“, bei dem „der Respekt für den Anderen und die Beachtung der Grenze von Reziprozität und Allgemeinheit normativen Vorrang hat“. „Ethische Werte“ hingegen scheiterten zwar an dieser Grenze von Reziprozität und Allgemeinheit, seien aber in vieler Hinsicht größer und tiefer als die allgemeinen Normen: Hier fänden sich Wertüberzeugungen und religiöse Überzeugungen, anhand derer Personen ihr Leben ausrichten und bewerten. Das heiße nicht, dass ethische Werte rein privater oder subjektiver Natur seien; sie „können vielmehr – man denke an religiöse Überzeugungen – Gemeinschaften verbinden und Kulturen übergreifen“, könnten „auch ‚höchste‘ Werte umfassen, welche sich auf die gesellschaftliche Ordnung insgesamt und (auf) ‚letzte Fragen‘ beziehen; die Debatten über den Beginn und das Ende des Lebens sind dafür ein Beispiel“. Damit sei keineswegs gemeint, dass „ethische Fragen ‚Privatsache‘ seien und ethische Werte in der Öffentlichkeit, zumindest der politischen, keine Rolle spielen dürften. All dies ist nicht der Fall.“ Vielmehr seien auch „ethische Wertüberzeugungen Teil der öffentlichen und der politischen Diskussion.“ Das gelte auch für religiöse sowie für „metaphysische Überzeugungen, die die Vernunft übersteigen (ihr nicht gravierend widersprechen)“ und „in einem bestimmten Sinne ‚jenseits‘ der Vernunft (was nicht heißt, dass sie nicht diskussionsfähig sind)“ liegen und „nicht widervernünftig“ seien. Auf den Punkt gebracht: Solche Überzeugungen sollen auch in der öffentlichen Debatte wahrgenommen, dürfen aber nicht in der Öffentlichkeit dominant werden.

4. Zu Unschärfen in der Konzeption von Forst

Da auf Forst vielfach Bezug genommen wurde, sollen einige weitere24 Unschärfen seiner Konzeption nicht unerwähnt bleiben. Auf eine weist er selbst hin: Forst folgend könne kein Zweifel daran bestehen, dass auf der Ebene der allgemeinen Normen „Dissense darüber zu erwarten sind, wie die Kriterien von Reziprozität und Allgemeinheit im Einzelnen anzuwenden sind“. Entscheidend sei nur, dass sich „die Beteiligten ihrer Fehlbarkeit in diesen Fragen bewusst sind“ und eine „bestmöglich vertretbare Lösung suchen – die auch wieder revidiert werden kann. Gerade weil Menschen keine Moralanwendungsmaschinen sind, bedarf es dieser gegenseitigen Toleranz.“ Auch dort „scheint die Unterscheidung zwischen reziprok-allgemein geltenden Normen und ethischen Werten eindeutig an eine Grenze zu stoßen, wo die ethischen Hintergrundannahmen selbst den Kern der Moral, die Definition der moralischen Person, bestimmen und in den Konflikt hineinziehen. In den Diskussionen über die Abtreibung, den legitimen Umgang mit Embryonen und um die Frage der Sterbehilfe scheinen Probleme dieser Art vorzuliegen.“25 In einer möglichen „Einigung auf eine Nichteinigung bleibt das Prinzip der Rechtfertigung als normatives leitend, und die Toleranz ergibt sich diesmal in der Tat nicht aus einer klaren Trennlinie zwischen Ethik und Moral, sondern aus dem Bewusstsein, dass diese Trennung selbst an ihre Grenze stoßen kann.“26

So theoretisch rund und glatt die Konzeption von Forst insgesamt erscheint: Neben den gerade aufgezeigten Unschärfen und immanenten Grenzen führt sie auch meist zu einer sehr weiten Dehnung der Toleranzgrenzen, wie sich bei seiner Anwendung dieser Konzeption auf Toleranzkonflikte wie etwa das „Kruzifix-Urteil“, die verschiedenen Kopftuch-Fälle, die Teilnahme von Muslima an koedukativem Sportunterricht oder der rechtlichen Gleichbehandlung homosexueller Paare27 allzu oft zeigt. Dabei bleibt auch das Argument einer gewachsenen (christlich-abendländischen) Kultur (fast) durchgängig ausgeblendet.28 Es wird zudem deutlich, dass für jedes dieser Themen neben einer vernünftigen Anwendung des Toleranz-Konzepts auch viele verfassungsrechtliche Überlegungen eine Rolle spielen, weshalb auch im Rahmen dieser Ausführungen darauf verzichtet wird, derartige Toleranzkonflikte speziell zu behandeln.

5. Die Zumutung der Toleranz entkoppelt fortbestehenden Dissens von der sozialen Ebene ...

Wie anspruchsvoll Toleranz ist, wird nochmals mit einem Blick auf die tolerante Person deutlich: „Toleranz mag zugleich als Stärkung und als Kränkung des Selbst wahrgenommen werden.“ Sie halte folglich „die rechte Mitte zwischen zuviel Selbstzweifel und zuviel Selbstvertrauen in die eigene ethische Wahrheit“, müsse mithin „die geforderte Selbsteinschränkung als Ausdruck eigener Stärke“ ansehen.29 Da ja jede tolerante Person eigene Überzeugungen hat, muss sie „die Gewalt des Überzeugtseins oder vielmehr die Gewalt im Überzeugtsein in Zaum halten“30. In diesem Sinne ist Toleranz auch Zumutung, denn sie fordert die „Überwindung von Ansprüchen vollständiger Herrschaft der eigenen Überzeugung“ und „verlangt das Eingeständnis eigener Relativität“.31

Worin besteht die von der Toleranz aufgeladene „Bürde“ oder Zumutung? Für Habermas32 ergibt sie sich zutreffend „nicht aus einer Relativierung eigener Überzeugungen, sondern aus der Einschränkung ihrer praktischen Wirksamkeit.“ Hier sind zwei zu unterscheidende Aspekte aufgeführt: Einerseits werden die Handlungsfolgen der unterschiedlichen Überzeugungen zwischen Gläubigen, Andersgläubigen und Ungläubigen neutralisiert, der fortbestehende Dissenz wird von der sozialen Ebene entkoppelt. Andererseits könnte auf einer anderen Ebene – vor allem bei Ungläubigen, wie Habermas selbst ausführt – die Gefahr bestehen, dass die Relativierung von Überzeugungen zum Indifferentismus und zur Beliebigkeit führt; denn „für das säkulare Bewusstsein (besteht) keine Schwierigkeit anzuerkennen, dass ein fremdes Ethos für den anderen dieselbe Authentizität hat und denselben Vorrang genießt wie das eigene Ethos für einen selbst. Wer hingegen sein ethisches Selbstverständnis aus Glaubenswahrheiten gewinnt, die universale Geltung beanspruchen, kann diese Konsequenz nicht ziehen.“ Denn wenn „das fremde Ethos nicht nur eine Frage der relativierbaren Wertschätzung, sondern eine von Wahrheit und Unwahrheit ist, bedeutet die Forderung, jedem Bürger unangesehen seines ethischen Selbstverständnisses und seiner Lebensführung die gleiche Achtung entgegenzubringen, eine Zumutung. Anders als die Konkurrenz von Werten nötigt deshalb der Widerspruch zwischen ethischen Wahrheiten zu Toleranz.“ Bei einer solchen Konfliktsituation für den Einzelnen hat z.B. das II. Vatikanische Konzil geraten: „Man muß unterscheiden zwischen dem Irrtum, der immer zu verwerfen ist, und dem Irrenden, der seine Würde als Person stets behält, auch wenn ihn falsche oder weniger richtige religiöse Auffassungen belasten.“33

6. ... und schafft so Raum auch für Religionsgemeinschaften und Religionsfreiheit

Wie nun kann der Staat mit dem von Habermas aufgezeigten Widerspruch politisch umgehen? „Die politische Lösung für eine gleichberechtigte Koexistenz der sich befehdenden Glaubensmächte bestand in einer Toleranzkonzeption, die auf den absoluten, also nicht-verhandelbaren Charakter der Geltungsansprüche religiöser Überzeugungen Rücksicht nahm. Denn Toleranz darf nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden.“ Somit erkennt der Staat „die Legitimität des fortbestehenden Dissenses“ an. Das sichere, so Habermas, den Religionsgemeinschaften „erst die Bewegungsfreiheit, um sich aus der Binnenperspektive ihrer eigenen, in der Substanz unangetasteten Doktrinen sowohl zu den Glaubensrichtungen anderer Religionsgemeinschaften wie auch zu den Denk- und Verkehrsformen ihrer säkularen Umwelten in ein kognitiv einleuchtendes Verhältnis zu setzen.“ Dies diene der „Selbstbehauptung der Religionsgemeinschaften in einer sich fortwährend modernisierenden Gesellschaft.“34 Das ist eine für Habermas bemerkenswerte Position, für die sich im Schwerpunkt seines Werkes vor 2001 kaum greifbare Anhaltspunkte finden.

Diese Habermas‘sche Position ist – wenn man statt der verschiedenen Religionsgemeinschaften die ihnen angehörenden Einzelnen betrachtet – im Ergebnis nicht weit entfernt von der der Erklärung über die Religionsfreiheit des II. Vatikanischen Konzils: Nicht mehr von Rechten und Pflichten des Staates, Wahrheit zu definieren und durchzusetzen, ist nunmehr die Rede, sondern von Rechten und Pflichten der Person,35 also vom Einzelnen, der seiner moralischen Pflicht folgt, die Wahrheit zu suchen, sein Gewissen zu bilden und diesem zu folgen. Auch ist die Rede vom „Fehlen des Rechtes eines Anderen, zumal des Staates“, auf den Einzelnen „Zwang auszuüben, mich also an meinem Glauben und dessen verschiedenen Vollzügen zu hindern.“36 Aus der Würde des Menschen als Grundlage jeden Rechts des Menschen auf religiöse Freiheit folge:37 Jeder einzelne sei von seinem „eigenen Wesen gedrängt“, gerade auch im Bereich der Religion die Wahrheit zu suchen. Demnach sei „das Recht auf religiöse Freiheit“ im „Wesen (der Person) selbst begründet“, denn der Glaubensakt sei „seiner Natur nach ein freier Akt“. Die bemerkenswerte Schlussfolgerung daraus: „So bleibt das Recht auf religiöse Freiheit auch denjenigen erhalten, die ihrer Pflicht, die Wahrheit zu suchen und daran festzuhalten, nicht nachkommen, und ihre Ausübung darf nicht gehemmt werden, wenn nur die gerechte öffentliche Ordnung gewahrt bleibt.“38 Auch wenn hier terminologisch nicht von Toleranz die Rede ist, wird sie doch der Sache nach vertreten.

Es erscheint wie eine Fortführung dieser Überlegungen, wenn Benedikt XVI. 2006 in München ausführte: „Die Toleranz, die wir dringend brauchen, schließt die Ehrfurcht vor Gott ein – die Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist. (...) Wir drängen unseren Glauben niemandem auf“, denn „der Glaube kann nur in Freiheit geschehen. Aber die Freiheit der Menschen rufen wir an, sich für Gott aufzutun.“39

7. Wie Toleranzgrenzen festlegen ...?

Solange die Toleranzgrenze autoritär, also einseitig gezogen werde, trage eine Tolerierung den Makel der willkürlichen Ausschließung. „Erst die Konzeption gleicher Freiheiten für alle“, so Habermas, „und eine Festlegung des Toleranzbereichs, die alle Betroffenen gleichmäßig überzeugt, kann der Toleranz den Stachel der Intoleranz ziehen. Die möglicherweise Betroffenen müssen den Perspektiven der jeweils anderen Rechnung tragen, wenn sie sich gemeinsam auf die Bedingungen einigen sollen, unter denen sie, weil alle den gleichen Respekt verdienen, gegenseitig Toleranz üben wollen.“40 Unter welchen Bedingungen kann das Zusammenleben verschiedener Religionsgemeinschaften dann gelingen? Habermas nennt zwei Voraussetzungen: „in erster Linie der Verzicht auf politische Zwangsmittel zur Durchsetzung von Glaubenswahrheiten sowie eine Freiheit der Assoziation, die auch den Gewissenszwang gegen eigene Mitglieder ausschließt. Normen dieser Art können nur dann, wenn sie über konfessionelle Grenzen hinweg intersubjektive Anerkennung finden, Gründe liefern, welche die subjektiv vernünftigen Gründe für eine Ablehnung fremder religiöser Überzeugungen und Praktiken übertrumpfen.“ Wie kann das auf der Ebene des Staates funktionieren? Habermas vertraut – als Diskurstheoretiker nicht zum einzigen Mal – sehr stark dem Prozess demokratischer Willensbildung: Die Bürger könnten „die Grenze einer reziprok zugemuteten Toleranz nur einvernehmlich spezifizieren, wenn sie ihre Entscheidungen von einem Modus der Beratung abhängig machen“, der die „Parteien zur gegenseitigen Perspektivenübernahme und gleichmäßigen Interessenberücksichtigung anhalten. Genau dieser deliberativen Willensbildung dienen aber die demokratischen Verfahren des Verfassungsstaates.“

Ob hier das demokratische Diskurs-Verfahren nicht etwas zu „hoch gehängt“ wird? Denn zu Recht lässt sich kritisch einwenden:41 „Da über die Richtigkeit von Auffassungen nur im Diskurs“ entschieden werden könne, „müssen zu ihm zunächst alle Auffassungen zugelassen werden, um über sie diskutieren zu können. Auch das Abwegige, Schädliche oder Gefährliche kann nur im Diskurs, aber nicht von ihm ausgeschlossen werden. So formuliert, kann die Diskurstheorie möglicherweise zwar Toleranz begründen – aber im Grunde keine Einschränkungen von Toleranz, die etwa über das Millsche Schadensprinzip“ – das besagt, Freiheit könne überhaupt nur aus dem Grund beschränkt werden, um Schaden von anderen abzuwenden – hinausreichen. Demzufolge drohten die Toleranzgrenzen sehr weit gezogen zu werden.

8. ... auch für den Umgang mit Feinden der Demokratie?

Wie tolerant jedoch darf oder muss die Demokratie mit den Feinden der Demokratie umgehen, wie kann sich eine Toleranz gewährende Verfassung präventiv gegen die Feinde dieser Verfassung schützen, zu denen ja neben unterschiedlichen politischen Gruppierungen auch solche Religionsgemeinschaften zählen könnten, die in wichtigen Punkten Lehren vertreten, die nicht verfassungskonform sind? Habermas: „Im Verfassungsfeind kehrt der ursprünglich religiös konnotierte Staatsfeind wieder – sei es in der säkularisierten Gestalt des politischen Ideologen, der den liberalen Staat, oder in der Gestalt des Fundamentalisten, der die moderne Lebensform als solche bekämpft. Aber wer definiert den Feind der Verfassung, wenn nicht die Organe des Verfassungsstaates?“ Das schaffe ein Problem, denn: Der Verfassungsstaat „muss sich gleichzeitig der Feindschaft existentieller Gegner wie des Verrats an den eigenen Prinzipien erwehren – der in dieser Situation stets lauernden Gefahr des selbstverschuldeten Rückfalls in die obrigkeitliche Praxis der einseitigen Festlegung der Toleranzgrenzen.“42 Forst sieht das dadurch gelöst, dass für demokratische Verhältnisse gefährliche Gruppen keine Toleranz im Rahmen der Respekt-Konzeption verlangen könnten, sofern sie „das grundlegende Recht auf Rechtfertigung“ verneinen („es mag aber andere Gründe geben, sie zu dulden“).43

Die streitbare Demokratie dürfe nicht, so Habermas, die Substanz ihrer freiheitlichen Grundordnung durch eine Verkürzung der Freiheit sichern. Als noch innerhalb der „Grenze der politischen Toleranz einer rechtstaatlich verfassten Demokratie, die sich nicht-paternalistisch gegen ihre Feinde wehrt“, hält Habermas „den Widerstand von Dissidenten (für tolerabel), die nach Erschöpfung aller Rechtswege legitim zustande gekommene Entscheidungen bekämpfen, allerdings mit dem Vorbehalt, dass die ‚ungehorsamen‘ Bürger ihren Widerstand plausibel aus Verfassungsgrundsätzen rechtfertigen und gewaltfrei, also mit symbolischen Mitteln ausüben.“44 Bei dieser ohnehin sehr weiten Grenzziehung beinhaltet die erste der beiden Bedingungen, dass die „legitim zustande gekommenen Entscheidungen“ gegen Verfassungsgrundsätze verstoßen – ein hoffentlich seltener Fall – oder dass diese „ungehorsamen“ Bürger „höheren Einsichten“ folgen (wie es wohl in den „68er Jahren“ formuliert worden wäre)... Innerhalb dieser weiten Grenze dürften auch solche Religionsgemeinschaften Platz finden, die sich mit einigen ihrer Ansichten für Habermas eher am Rande – für andere wohl deutlich außerhalb desselben – bewegen.

Aus verfassungsrechtlicher Sicht wäre hinzuzufügen,45 dass das Grundgesetz bewusst den Versuch einer Synthese unternommen habe zwischen dem Prinzip der Toleranz gegenüber allen politischen Auffassungen einerseits und andererseits dem Bekenntnis zu gewissen unantastbaren Grundwerten des Staates. Als „streitbare Demokratie“ habe das Grundgesetz „auch präventive Vorkehrungen gegen Bestrebungen getroffen, die sich in aktivkämpferischer Weise gegen die Funktionsbedingungen der freiheitlichen Demokratie richten. Gleichwohl verfährt das Grundgesetz nicht nach dem simplen Prinzip ‚keine Toleranz den Feinden der Toleranz‘, mit dem die freiheitliche Demokratie sich selbst untreu werden müsste. Die Verfassung schränkt zwar den Grundsatz politischer Toleranz um seiner Erhaltung willen ein, begegnet aber auch den Feinden der Freiheit, deren politische Betätigung sie beschneidet, nur mit rechtsstaatlichen Mitteln und mit einem Höchstmaß an verfahrensrechtlichen Sicherungen.“ Etwa ein Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG ist bekanntlich aufwendig und muss vor dem Bundesverfassungsgericht geführt werden. Zudem: Die Losung „keine Toleranz gegenüber der Intoleranz“ kann man nicht als „Patentrezept für die Lösung aller Probleme“ ansehen, sondern sie ist allenfalls „die Formel für den Verteidigungsfall, nicht für den Normalfall“.46

9. Zur relativistischen Konnotation von Toleranz

Kommen wir noch einmal zurück zum Toleranz-Begriff. Wie kommt es, dass – trotz dessen begrifflicher Klarheit – nicht nur in Teilen der Öffentlichkeit, sondern auch durch nicht wenige wissenschaftliche Autoren Toleranz stark relativistische Züge bekommt? Hier wird eine fünffache Antwort zu geben versucht:

a) Die oben erwähnten Toleranz-Paradoxien führen eo ipso zu einer Relativierung – allerdings ohne Relativismus47 – wenn man Toleranz, begrifflich klar gefasst, richtig anwendet: Höherrangige positive Akzeptanzgründe übertrumpfen die fortbestehenden negativen Ablehnungsgründe. Wenn jedoch im speziellen (und eher seltenen) Fall – ebenfalls bei korrekter „Anwendung“ von Toleranz – die positiven und die negativen Gründe auf der selben Ebene liegen und gleich stark sind, entfällt die für Toleranz notwendige Ablehnungskomponente (mathematisch gesprochen wäre der Saldo Null); dann wäre Toleranz in Gleich-Gültigkeit transformiert. Sollten jedoch die positiven Gründe stärker sein als die negativen und beide ebenfalls auf gleicher Ebene liegen, müsste man schon von Wertschätzung reden. Wir werden noch sehen, dass Gleichgültigkeit und Relativismus enge Beziehungen pflegen, eine große gemeinsame Schnittmenge besitzen.

b) Ist die im Toleranz-Konzept verankerte Überzeugungskomponente nicht vorhanden, sondern liegt statt der eigenen Überzeugung Gleichgültigkeit vor – diese Gefahr sah ja Habermas für das „säkulare Bewusstsein“48 –, könnte man schon deshalb nicht von Toleranz, sondern müsste eher von einer relativistischen Position sprechen.

c) Ist die im Toleranz-Konzept verankerte Ablehnungskomponente nicht vorhanden, hätte man es ebenfalls nicht mit Toleranz, sondern mit Gleichgültigkeit bzw. Indifferenz oder mit vollständiger Bejahung zu tun.49

d) Öfter jedoch dürfte sich eine relativistische Position aus nicht korrekter Anwendung des Toleranz-Begriffs ergeben. Toleranz zu beschreiben mit Formeln wie „gegenseitige Duldung von Personen, Meinungen und Handlungen“,50 verkennt, dass Duldung, Achtung bzw. Respekt nicht dem Inhalt einer Überzeugung, Meinung oder Handlung gilt, sondern der Person, die diese Meinung äußert oder die Handlung begeht. Wenn – in einem anderen Beispiel – schon zu Beginn der Ausführungen gefragt wird, ob und in welchem Sinne Toleranz oder Intoleranz „Attribute christlichen Glaubens“ sein könnten,51 dann gilt bereits im Ansatz Toleranz nicht einer Person, sondern einem Inhalt, hier dem eines Glaubens. Dass dieser Autor dann 35 Seiten später bei der „Pluralistischen Theologie der Religionen“52 – im Ergebnis ein relativistischer Ansatz53 – als Königsweg aus der selbstgestellten Falle landet, ist bei ihm nicht wirklich überraschend.

e) Oft wird der Weg einer relativistischen Aufladung der Toleranz erkenntnistheoretisch beschritten. Weder ein einzelner Mensch noch eine menschliche Gemeinschaft könne „irgendeinen Anspruch auf absolutes Wissen oder absolute Wahrheit erheben“, sondern „sowohl die menschliche Erkenntnis als auch die aus dieser entspringende Wahrheit“ bleibe „allemal relativ“.54 – In ähnlicher Weise hat die berühmte Ringparabel im „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing gar nicht Toleranz zwischen verschiedenen Anschauungen zum Gegenstand, sondern verlangt von allen Beteiligten, ihre religiösen Überzeugungen „soweit zu relativieren, dass jeglicher Grund für Konflikte entfällt“; ein solcher „Überzeugungsverzicht“ erscheine „als zu hoher Preis für gesellschaftliche Harmonie“.55 In diesen Kontext gehört der Ausspruch des Königs Friedrich II. von Preußen, „jeden nach seiner Façon selig werden zu lassen“, denn „alle Religionen sind gleich gut“ und „ein jeder kann bei mir glauben, was er will, wenn er nur ehrlich ist.“ In der Tat: „Toleranz ist hier nicht nur Gebot der Staatsklugheit, sie ergibt sich aus einer konfessionellen Indifferenz, die nur eine ‚Religion der Menschlichkeit‘ anzuerkennen gewillt ist.“56 – Auf eine solche Weise käme man auch schnell zu der Auffassung, Toleranz erfordere, „dass unseren Überzeugungen kein größerer innerer Wert oder keine größere Glaubwürdigkeit zukommt als den Überzeugungen anderer“, womit man zu einem „radikalen Relativisten“ geworden wäre.57 Es ist mehr als nur eine „Schlaffheit“ gegenüber der Wahrheit, die diese und ähnliche Positionen kennzeichnet. Zugrunde liegt „eine Art falscher Demut“: Man hält es für anmaßend zu behaupten, dass „die eigene Überzeugung, und sei sie ein religiöser Glaube, uneingeschränkt zutrifft und deshalb ihr widersprechende Überzeugungen als unzutreffend abzulehnen sind.“ Dabei werde übersehen, dass „die Tugend der Toleranz kein Anlass ist, seine Überzeugungen zu relativieren.“58

10. „Europas Seele ist die Toleranz“?

Toleranz, die immer aus freien Stücken geübt werden muss59 – das Erdulden oder Ertragen von Praktiken, gegen die man machtlos ist, zählt also nicht zur Toleranz –, ist eine Haltung bzw. Tugend.60 Als Tugend sollte sie oft geübt werden, damit sich die entsprechende Gewohnheit einstellt. Nicht zuletzt wegen der Akzeptanz-Komponente – um positive Gründe höherer Ordnung zu ringen, die die Ablehnungsgründe übertrumpfen – ist Toleranz anspruchsvoll. Das bemerkte im Januar 2007 auch die damalige EU-Ratspräsidentin Angela Merkel. In ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament ließ sie sich nach dieser Erkenntnis zu dem Satz verleiten: „Europas Seele ist die Toleranz“. Mit „Europas Seele“ meinte sie ganz zutreffend, „was Europa im Innersten zusammenhält“,61 mithin Lebensprinzip und höchster Wert ist. Ob sie dabei die Warnung Robert Spaemanns vor Augen hatte, der bereits 2001 schrieb: „Wo hingegen Toleranz zum höchsten Wert hinaufstilisiert wird, da wird sie grundlos und hebt sich selbst auf. Die Forderung, andere Überzeugungen zu achten, wird zur Forderung, keine Überzeugungen zu haben, auf Grund derer man gegenteilige für falsch hält“62? Wenn Toleranz zum Lebensprinzip und höchsten Wert eines Kontinents wird, wenn also alles Toleranz wird – sozusagen „Toleranz total“ –, gäbe es in der Gesellschaft gar keinen Stabilitätskern mehr, sondern nur noch ein Totum von Minoritäten – die toleranzfähige Randzone würde total.63 Für viele sei, so Spaemann, Überzeugungen zu haben bereits Intoleranz. So verwandele sich die Toleranzforderung „in eine intolerante Dogmatisierung des Relativismus als der herrschenden Weltanschauung, die den Menschen schrankenlos disponibel macht für jede Art von kollektiver Zumutung.“64

II. Relativismus und Political Correctness65

1. „Diktatur des Relativismus“?

Damit sind wir bei einem Begriff angekommen, der 2005 vermutlich nicht nur die deutsche Öffentlichkeit aufgeschreckt hat: „Diktatur des Relativismus“! Was meinte der damalige Kardinalsdekan Joseph Ratzinger damit? „Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ‚vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-Lassen‘, als die heutzutage einzig zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.“66

Inwiefern ist Relativismus problematisch? Ganz gut den kritischen Punkt trifft der Ausspruch: „Es ist ja doch alles relativ.“ Einer Aussage, dass vieles relativ sei, könnte man nicht widersprechen – die Alltagserfahrung in vielen Bereichen zeigt das. Zudem entsprechen solche Relativitäten und Güterabwägungen geradezu der Argumentationsstruktur verschiedener Wissenschaften, z.B. der Ökonomie.

Bereits 1984 jedoch hatte Ratzinger auf ein Erkenntnisproblem hingewiesen, das er in seiner Regensburger Rede 2006 aufgriff: Die Methode, nur die im Zusammenspiel von Mathematik und Empirie sich ergebende Form von Gewissheit als einzigen Maßstab von Wissenschaftlichkeit zu akzeptieren, verkürze den Radius von Wissenschaft und Vernunft. Zudem schließe die Methode als solche die Gottesfrage aus, indem sie sie als unwissenschaftlich oder vorwissenschaftlich erscheinen lasse.67 Sowohl der erkenntnistheoretische als auch der ethische Relativismus leugnen die Fähigkeit, wahre und universal gültige Aussagen über sich selbst zu machen68.

In der Philosophie ist Relativismus vor allem in Form des Kontextualismus69 anzutreffen: Je nachdem, in welchen Kontext eine Aussage, Erkenntnis oder Einsicht gestellt wird, verändert sich ihre Gültigkeit; sie ist nur im Rahmen eines bestimmten Kontextes oder von einem bestimmten Standpunkt aus zutreffend, aber nicht allgemein, weshalb von Wahrheit nicht geredet werden könne. Selbst Werte verlieren in einem solchen Gedankengebäude jede Grundlage. Mithin kennt ein Relativist keinen übersubjektiven Maßstab, der es erlauben würde, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden70 oder zwischen einem intakten oder einem irregeleiteten Gewissen.71

Seit langem ist der Relativismus auch in die christliche Theologie eingedrungen.72 Ratzinger zeigt für die Dogmatik wie für die Moral auf, dass die Theorie, nach der die Religionen – und inzwischen auch Agnostizismus und Atheismus – „alle als gleichartig anzusehen“ seien, einem Denkfehler unterliegt:73 Bei der Frage nach dem Gewissen und der Wahrheitsfähigkeit des Menschen sage Paulus nicht: „Wenn Heiden sich an ihre Religion halten, ist es gut vor dem Gericht Gottes. Im Gegenteil, er verurteilt den Großteil der religiösen Praktiken jener Zeit. Er verweist auf eine andere Quelle – auf das, was allen ins Herz geschrieben ist“. Hier stünden sich allerdings heute „zwei konträre Gewissensbegriffe gegenüber, die freilich meist einfach ineinander geschoben“ würden. „Für Paulus ist das Gewissen das Organ der Transparenz des einen Gottes in allen Menschen“, in der Gegenwart hingegen erscheine das Gewissen „als Ausdruck für die Absolutheit des Subjekts, über das hinaus es im Sittlichen keine Instanz mehr geben kann. Das Gute als solches ist nicht wahrnehmbar.“ So sei „im neuzeitlichen Gewissensbegriff das Gewissen die Kanonisierung des Relativismus, der Unmöglichkeit gemeinsamer sittlicher und religiöser Maßstäbe“. Mit der Unterscheidung der zwei Gewissensbegriffe zeigt Ratzinger mithin eine entscheidende Weggabelung in der Theologie auf – mit erheblichen Folgen auch für die Anthropologie: Wenn im heutigen Denken das individualistische Subjekt selbst gut und böse setzt – also sein eigener Gott wird –, hat es natürlich auch die Macht, seine eigenen Setzungen beliebig wieder zu ändern. Es dürfte nicht überraschen, dass das heutzutage weitreichende Folgen etwa für das Bindungsverhalten vieler mit sich bringt.

2. Relativismus – Demokratie – Menschenwürde-Garantie

Für viele gilt heutzutage Relativismus als Voraussetzung, geradezu als das Prinzip einer Demokratie. Denn in der Politik könne niemand für sich in Anspruch nehmen, den allein richtigen Weg zu kennen. Ist eine freiheitliche Gesellschaft nicht immer eine relativistische Gesellschaft?

Eine verbreitete Meinung beschreibt die Demokratie ausschließlich als System von Spielregeln zur Mehrheitsfindung. Demnach wäre der einzige Maßstab, nach dem Recht geschaffen werden kann, die Mehrheit der stimmberechtigten Bürger, so der amerikanische Rechtsphilosoph Richard Rorty.74 Dass dabei die mit Mehrheit beschlossenen Ergebnisse inhaltlichen Kriterien wie bspw. der Sicherung der Menschenrechte oder dem „bonum commune“ genügen, ist jedoch keineswegs sichergestellt. Wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts (und vorher etwa die der französischen Revolution) gezeigt hat, ist die Mehrheit verführ- und manipulierbar. Wenn jedoch, so Ratzinger, die Mehrheit „immer Recht hat, dann muss das Recht mit Füßen getreten werden. Dann zählt im Grunde zuletzt die Macht des Stärkeren, der die Mehrheit für sich einzunehmen weiß.“

Eine wertneutrale Verfassung zu etablieren, die nur das demokratische Verfahren selbst absichert,75 aber keine Rechtsziele angibt, genügt demnach nicht. Entsprechend werden auch durch die Verfassungen in den meisten Staaten die Grundrechte der Bürger geschützt.76 Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte (Art. 1 GG) stellt einen, wenn nicht gar den wesentlichen Bestandteil des Schutzguts der freiheitlich demokratischen Grundordnung dar. Jedoch erwecken verschiedene Interpretationen der letzten Jahre den Eindruck, dass das Vertrauensfundament des Gemeinwesens77 bebt, denn: „Der Fluch des Relativismus hat die Interpretation der Menschenwürde eingeholt.“78 Nicht zuletzt deshalb ist Wert zu legen auf die Rekonstruktion der historischen Grundentscheidung: Nur so gewinne die „Unantastbarkeitsgarantie“ des Art. 1 Abs. 1 GG Konturen, werde sichtbar, „was die Väter und Mütter des Grundgesetzes unabstimmbar stellen wollten“ und dass sie mit der „Würde des Menschen“ einen „operablen Rechtsbegriff, ein durch Ge- und Verbote umhegtes Rechtsgut im Sinn“ gehabt hätten.79 Diese Methodik verstärkt anzuwenden, könnte einen Anker gegen relativistische Verfassungsinterpretationen darstellen – jedoch einen nur begrenzt wirksamen. Denn entscheidend komme es darauf an, „wer die Interpretationshoheit gewinnt oder behält, was ‚herrschende Meinung‘ ist, bleibt oder wird. Verfassungsrecht setzt sich nicht von selbst durch. Es bedarf treuer Diener und Vollstrecker.“ Nur eine „metapositive Verankerung könnte die grundgesetzliche Ordnung unverfügbar machen; denn Naturrecht gilt in der Tat zeitlich und räumlich unbeschränkt, ist in diesem Sinne unverbrüchlich.“ Aber selbst „für die Bürgschaft dessen fortwährender Interpretation im Sinne des naturrechtlichen Ursprungs kommt es wieder auf die politische Durchsetzungskraft an, die in einer Demokratie nur die Mehrheit besitzt.“80 Da mithin auch „Unabstimmbares“ letztlich von Mehrheiten geschützt werden muss,81 erscheint gerade vor diesem Hintergrund der Versuch interessant, die Menschenwürde wieder stärker aus dem Naturrecht zu begründen82.

Sowohl die juristische Interpretationsfreiheit als auch die politische Freiheit gründet mitnichten in der relativistischen Idee, gemäß der alle Auffassungen über das Wohl des Menschen dieselbe Wahrheit oder denselben Wert besitzen. Deshalb sei jeder Christ gehalten, „sich von einer Auffassung des Pluralismus im Sinn eines moralischen Relativismus zu distanzieren, die für das demokratische Leben selbst schädlich ist. Dieses braucht wahre und solide Fundamente, das heißt ethische Prinzipien, die auf Grund ihrer Natur und ihrer Rolle als Grundlage des sozialen Lebens nicht verhandelbar‘ sind.“83 Auch im politischen Bereich kommt man also mit einem „totalen“ Relativismus nicht zu Rande: Man kann zwar in diesem Bereich „dem Relativismus ein gewisses Recht nicht absprechen. Das Problem beruht darauf, dass er sich selbst grenzenlos setzt.“84

3. Political Correctness

Viele der Strukturelemente des Relativismus finden sich auch in einer Denk- und Sprechweise, die in der öffentlichen Diskussion in vielen Ländern des Westens gebraucht wird: Political Correctness.85 Marcello Pera sieht hierin „eine Form der Selbstzensur und Selbstbeschränkung.“ Sobald man etwa „Kulturen oder Zivilisationen in eine Rangordnung bringen oder auch nur nach dem Kriterium ‚besser – schlechter‘ einordnen“ wolle, so Pera,86 schnappten „Redeverbot und sprachliche Handschellen“ zu, führten in einen „Käfig von Unaufrichtigkeit und Heuchelei“. Diese Form „sprachlicher ‚Umerziehung‘“ habe „lähmende Konsequenz“ für das Denken, Reden und Handeln vieler.

Auch Ratzinger stellt fest, dass der Relativismus – je mehr er zur allgemein angenommenen Denkform werde – zur Intoleranz tendiere und in einen neuen Dogmatismus umschlage. Die Political Correctness wolle „die Herrschaft einer allein gültigen Weise des Denkens und Sprechens aufrichten. Ihr Relativismus erhebt sie scheinbar über alle die großen Einsichten des bisherigen Denkens; nur so darf man noch denken und reden, wenn man auf der Höhe der Gegenwart sein will.“ So werde der relativistische Standard zur Pflicht erhoben. Es gebe Zeichen dafür, dass der Relativismus „sich als eine Art neuer ‚Konfession‘ zu etablieren beginnt, die den religiösen Überzeugungen ihre Grenzen zieht und sie alle dem Über-Dogma des Relativismus zu unterwerfen sucht“87, erwartet Ratzinger.

Die Frage stellt sich, wer diesen „relativistischen Standard“ setzt, wer in der Öffentlichkeit die (sprachlichen) Tabu-Zonen etabliert – und über die Öffentlichkeit auch Tabu-Zonen im Denken vieler Menschen. Die Antwort kann wohl nur lauten: wer die Macht dazu hat. Gelegentlich macht man sogar vor gesetzgeberischen Maßnahmen nicht halt – ein Beispiel dafür ist die konträre Behandlung des Genozids an den Armeniern (1915–17) durch zwei Staaten, die in der EU sind bzw. in sie wollen88 –, meist geht es aber um die Macht über die öffentliche Meinung und die Medien, die hierfür Schlüssel-Funktionen ausüben. Hier genügt es festzuhalten, dass es sich letztlich um eine Machtfrage handelt. Ratzingers Begriff von der „Diktatur des Relativismus“89 erscheint keineswegs übertrieben.

III. Ausblick

Wie kann man Toleranz fördern? Da sie im Willen (und im Fühlen) der handelnden Menschen gedeiht, kann der Staat eine solche Haltung nicht erzwingen, verfügt aber über die Mittel der Überzeugung – damit beginnend, keine „toleranzfreien Zonen“ entstehen zu lassen, „gerade auch nicht in der Schule“ – sowie der Bildung.90 Da fast alle Länderverfassungen ausdrücklich oder sinngemäß Toleranz zum Erziehungsziel erheben, sollte der Staat über seinen Erziehungsauftrag darauf hinwirken, dass Toleranz als wichtige Grundlage seiner Verfassung in den nachfolgenden Generationen lebendig bleibt.91 Bei der Erziehung zur Toleranz92 soll auch die öffentliche Schule den Eindruck vermeiden, sie versuche a) den Wahrheitsanspruch unterschiedlicher ethischer oder religiöser Überzeugungen zu relativieren oder b) deren Gleichwertigkeit zu propagieren oder c) divergierende Überzeugungen als „unterschiedliche Verwirklichungsformen gemeinsamer ‚Werte‘“ darzustellen. Die in der Schule zu vermittelnde Toleranz setze „eine Haltung der Achtung gegenüber der Person und ihrer ethischen Freiheit voraus“, die „mit einem entschiedenen Festhalten an den eigenen Überzeugungen vereinbar“ sei.93

Gibt es ein Halten gegen den Relativismus, einen Anker für das „Boot des Denkens“, von dem Ratzinger sprach? Hier nur so viel: Sowohl die methodischen als auch die inhaltlichen Ansatzpunkte94 sind letztlich mit den Begriffen „Person“ und „Wahrheit(ssuche)“ verknüpft.

Eine Schlussbemerkung: Mehr und entschiedener als bisher ist daran zu arbeiten, relativistisches Denken in allen Bereichen als solches zu kennzeichnen, seine Schwächen aufzuzeigen und auf die aus ihm erwachsenden Gefahren hinzuweisen. Nur mit dem Anker – dem ständigen Bezug auf die „Natur des Menschen“95 – wird „das kleine Boot des Denkens“ den nötigen Halt finden. Das wird auch dazu beitragen, die Folgen vieler gesellschaftlicher Fehlentwicklungen klarer zu sehen und sie argumentativ mit der nötigen Präzision anzugehen.96 Schließlich geht das Denken ja dem Handeln voraus – zumindest sollte es das.

Glaube und Gesellschaft

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