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ОглавлениеStéphane Hessel
"Deutschland muss mehr tun"
Widerstandskämpfer und Erfolgsautor Stéphane Hessel (Philippe Wojazer/Reuters)
Der französische Bestseller-Autor bewundert Kanzlerin Merkel in der Krise, wünscht sich aber trotzdem eine linke Regierung
Er war bereits 93 Jahre alt, als er mit seiner Streitschrift "Empört euch" weltberühmt wurde: Der Deutsch- Franzose Stéphane Hessel, Sohn des Schriftstellers Franz Hessel, fordert in dem Pamphlet eine Rückkehr zu den Idealen der französischen Résistance- Kämpfer und ruft die junge Generation zum Widerstand gegen den Finanzkapitalismus auf. "Empört euch" verkaufte sich allein in Deutschland über 500.000 Mal. Nach zunächst euphorischen Reaktionen wurde auch Kritik laut. Während die einen Hessel vorwarfen, sich zu Unrecht als Mitverfasser der UN- Menschenrechtscharta auszugeben (tatsächlich betreute er sie nur als Sekretär bei den Vereinten Nationen), hielten ihm andere eine Passage zu Israel vor: Dort verteidigt Hessel den palästinensischen Terror als "leider verständlich". Der 94- Jährigen über die Zukunft Europas, falsche Empörung und Israel.
Herr Hessel, wir erleben gerade eine besondere Form der Empörung in Griechenland. Dort echauffieren sich die Griechen über das angebliche deutsche Spardiktat. Für Sie nachvollziehbar?
Stéphane Hessel: Ich finde diese Empörung leider ganz natürlich. Die Hilfe für Griechenland geht einher mit einem Druck auf die sozialen Möglichkeiten der Griechen. Europa hat noch keine Vision für eine Sanierung der Wirtschaft. Wir werden immer noch von der Vorstellung getrieben, wir müssten die Schulden bezahlen, anstatt einmal zu überlegen, wie man mehr investieren und mehr für die Armen tun kann. Was hat Europa schon für Griechenland getan? Es hat ihm geholfen, seine Schulden abzubezahlen. Aber es hat ihm nicht geholfen, seine Armen reicher zu machen. Das ist eine richtige Gefahr. Die Empörung der Griechen wird nicht zu einer Balance beitragen.
Der Niedergang Griechenlands hat viel mit selbst verursachten Missständen zu tun. Können Sie die Empörung der Bürger in Deutschland und Frankreich nachvollziehen, die sagen: Warum müssen wir so tief dafür in die Tasche greifen -und dann wird es uns nicht einmal gedankt!
Erstens: Wir greifen nicht sehr tief in die Tasche, sondern nur ganz leicht.
Ganz leicht? Allein das erste Hilfspaket war 130 Milliarden schwer!
Was ist das schon! Andererseits gibt es Dankbarkeit natürlich nicht, wenn das Resultat für den einzelnen Griechen so schlimm aussieht wie jetzt. Ein so reiches Land wie Deutschland müsste mehr dazu beitragen, als es augenblicklich tut.
Sie gelten vielen als der Vater der Wutbewegung. Wir erleben gerade, dass einige dieser Bewegungen sich deformieren. In Stuttgart konnten die S-21-Gegner teilweise keine demokratischen Entscheidungen mehr akzeptieren, andere Bewegungen verpuffen oder verändern ihren Charakter. Macht Ihnen das keine Sorge?
Ich halte die Empörung der Stuttgarter für völlig gerechtfertigt. Der neue Bahnhof ist eine Schande.
Es ist abgestimmt worden.
Aber von wem und unter welchen Bedingungen? Hat man wirklich darüber nachgedacht, was aus dem schrecklichen Bahnhof wird, wenn die Bäume alle abgehauen werden?
Was ist demokratischer als eine Volksbefragung?
Die Bevölkerung ist falsch befragt worden. Ihr wurde vorher gesagt, dass, wenn der Bahnhof nicht kommt, Arbeitsplätze verloren gehen. Auf lange Sicht sind es die Empörten, die recht haben.
Wir haben in der Vergangenheit eine Neuauflage der Achse Paris-Berlin erlebt, man sprach von Merkozy. Ist es nicht das, was Europa jetzt bräuchte?
Diese Zusammenarbeit ist enorm wichtig: Beide Länder sind für Europa zentral, repräsentieren gemeinsam mehr als ein Drittel des europäischen Wirtschaftswachstums in Europa. Mir persönlich wäre es natürlich lieber, wenn es auf beiden Seiten zwei linke Politiker wären. Wobei das ja bei der Zusammenarbeit von François Mitterrand und Helmut Kohl sowie von Valéry Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt auch nicht der Fall war.
Das Gespann Mitterrand und Kohl war sehr erfolgreich.
Das ist richtig, aber ich hätte lieber Willy Brandt auf der anderen Seite gehabt. Deutschland und Frankreich stehen unter dem Druck der internationalen Finanzwirtschaft. Wir müssen jetzt mit Joseph Stiglitz, Amartya Sen, Jürgen Habermas und Daniel Cohn-Bendit ein anderes Europa aufbauen, als es in den letzten Jahren geschah.
Mit dem neuen Präsidenten Frankreichs, François Hollande, und seinen Plänen für die Zukunft Europas tut sich Kanzlerin Angela Merkel deutlich schwerer als mit seinem Vorgänger. Das könnte sich auch auf Europa negativ auswirken.
Für Merkel habe ich große Bewunderung: Sie hat viel für Deutschland geleistet. Aber ich wünsche mir ein rot-grünes Deutschland und ein rot-grünes Frankreich.
Sie haben scharfe Kritik an Israel geübt. Dabei unterschlagen Sie, dass die Hamas sich die Vernichtung Israels zum Ziel gesetzt hat.
Die Art und Weise, wie Israel die Palästinenser behandelt, ist inakzeptabel. Dass die Hamas immer noch die Idee von einem Land hat, aus dem Israelis verschwunden sind, ist schade. Aber Hamas und Fatah versuchen ja auch gerade, sich zu verständigen und Israel zu akzeptieren Wir brauchen einen palästinensischen Staat, deswegen darf man die Hamas nicht zu sehr kritisieren.
Man darf nicht kritisieren, dass die Hamas Israel vernichten will?
Nein, davon muss die Hamas Abstand nehmen. Aber Israel kann niemand zerstören. Ich habe für diesen wunderbaren Staat eine große Bewunderung. Er hat viel geleistet, aber die aktuelle Regierung finde ich schlimm.
Wen halten Sie heute für ein Vorbild?
Barack Obama, auch wenn er nicht so viel geleistet hat, wie ich erhoffte. Auf europäischer Seite sehe ich niemanden. Es gab Leute wie Jacques Delors, Mitterrand, Willy Brandt, für die ich große Bewunderung hatte. Aber heute ist da niemand. Deswegen brauchen wir eine junge, engagierte Generation. Der Einzige, den ich noch sehr wichtig finde, ist Dany Cohn-Bendit.
Damit dürften Sie selbst in Frankreich allein dastehen ... Der französische Regisseur Tony Gatlif hat Ihnen mit seinem halbdokumentarischen Empörungsfilm "Die Wertlosen" ein Denkmal gesetzt. Sehen Sie den Film als eine Art Vermächtnis?
Ja! Er ist ein Film des Empörens. Ich finde sehr wichtig, dass wir verstehen, wie unglücklich viele Menschen in Europa leben, und dass wir noch nicht genügend für mehr Gerechtigkeit in Europa beigetragen haben. Dafür ist dieser Film ein wunderbares Beispiel.
Das Interview führten Miriam Hollstein und Claudia Ehrenstein. Es wurde am 15. Juni 2012 veröffentlicht.