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Ist Günter Grass ein Antisemit? Woher kam der Zorn der Gruppe 47 auf Axel Springer? Ein Gespräch zwischen dem Schriftsteller Martin Walser, Verlagschef Mathias Döpfner und "Welt"-Herausgeber Thomas Schmid
ОглавлениеEine Woche vor dem 100. Geburtstag Axel Springers trafen sich der Schriftsteller Martin Walser und der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer AG, Mathias Döpfner, zu einem Gespräch über den Verleger und den von ihm gegründeten Verlag. Moderiert wurde die Diskussion von Thomas Schmid, dem Herausgeber der "Welt"- Gruppe. Wir veröffentlichen im Folgenden Auszüge aus dem Gespräch.
Martin Walser möchte zu Anfang einen Auszug aus seinem Tagebuch aus dem Jahr 1978 vorlesen, der sich mit Axel Springer befasst -ein Text aus einer anderen Zeit.
Martin Walser:
Ja, der kommt bei mir im Tagebuch auch vor, also kann ich das von 1978 auch mal vorlesen. Aber ich muss sagen, ich bin in der Zwischenzeit im Fernsehen absichtslos in einen Film über Springer hineingekommen. Fazit: Ich habe diesen Springer nicht gekannt - also die Person, die Temperatur, die Atmosphäre, die Gefühlsart, die Bewegungen. Davon habe ich nie etwas erfahren, von diesem Menschen, der da gezeigt wurde, sondern ich habe eben nur diesen veröffentlichten Springer wahrgenommen. Was ich da im Tagebuch geschrieben habe, ist ein unschuldiger Versuch, auf eine zeitgeschichtliche Größe zu reagieren. Denn wenn man das schreibt, denkt man überhaupt nicht daran, dass man das je veröffentlicht. Also: Am 19.4.1978 war ich auf Lesereise, wie immer. Und ich habe in Gießen in der Pension "Betty Dornberger" im dritten Stock gewohnt, neben einer Apotheke, die auch den Dornbergers gehörte, in der Selterstraße. Im Reiseplan war der nächste Tag das Hotel "Dornberger Hof". Und dann habe ich, weil ich noch Zeit hatte, etwas geschrieben. Da heißt es dann:
"Der wahrhaft kühne Versuch, sich vorzustellen, wie A. C. Springer, R. Mohn, Gruner und Jahr und Abs auf einen Kafkatext reagieren. - Lächeln sie? Können Herrschende lesen? Herrschende können beten. Das konnten sie immer schon. Ich stelle mir vor: A.C.S. betet so: Lieber Gott, Gott sei Dank bist du ein lieber Gott, sonst wäre es nicht auszuhalten in dieser Welt. Du bist wirklich ein lieber Gott. Du lässt die Bolschewisten leben. Ich habe Geduld mit deiner Geduld, lieber Gott. Irgendwann wirst du ihnen schon alle Haare vom Kopfe fallen lassen, dass sie dann ein wenig frieren. Ich bin ein Sünder, lieber Gott, du weißt es, trotzdem schlägt dein Blitz nie in meinen Jet. Du bist eben ein derart erhabenes Prinzip, lieber Gott, dass es dir gleichgültig ist, ob ich mit meinem Jet unter dir herrase oder ob ich barfuß, die Sandalen in der Hand, durchs abendliche Watt wandere. Du findest es gut, dass es die, Bild’-Zeitung gibt. Ich auch. Mein Gott, lass auch Wallraff ruhig schlafen. Verzeihe den bösen Linken, sie wissen wieder einmal nicht, was sie tun. Ich will jetzt noch eine Seite Kafka lesen, lieber Gott, weißt du, so eine Seite, auf der die Prosa bis zum Exzess nach Gerechtigkeit strebt. Ich finde, Kafka war sehr streng, vor allem gegen sich. Und das gefällt mir an ihm. Ich bin auch streng gegen mich. Gegen meine Umwelt aber bin ich milde. Wenn es nach mir ginge, sollte die, Bild’-Zeitung nicht in Druckereien, sondern in Gärtnereien entstehen. Überleg dir das einmal, lieber Gott, ob du die, Bild’-Zeitung nicht unter die Gewächse der Schöpfung aufnehmen könntest, dass sie gediehe wie Gurken und Tomaten und so natürlichsten Rang erhielte. Du bist ein gewaltiges Prinzip, lieber Gott, entschuldige, wenn ich mich dir als Partner anbiedere. Ich schäme mich. Ich bin eben so fromm. Manchmal hab ich das Gefühl, ich sei dein zweiter Sohn. Also verfolgt genug bin ich. Was war Pilatus gegen Wallraff? Aber bitte, tu, wie du willst. Ich gebe nur zu bedenken, dass auch du dabei gewinnen könntest, wenn die Blätter der, Bild’-Zeitung unmittelbar aus deinen Händen wüchsen. Es wäre für dich eine gute Werbung. Die du nicht brauchst. Das weiß ich. Vielleicht reden wir morgen Abend noch einmal darüber. Jetzt lese ich noch eine Seite dieses unerbittlichen Kafka. Das finde ich eigentlich ganz nett von mir. Denn nötig habe ich es wirklich nicht." Soweit 1978.
Mögen Sie das aus heutiger Perspektive und Kenntnis kommentieren?
Martin Walser:
Das kann man gar nicht kommentieren. Ein politischer Schriftsteller, der zu sein ich nie beansprucht habe, würde wahrscheinlich so über Springer nicht geschrieben haben. Für mich war das einfach ein Versuch, mich mit dieser zeitgeschichtlichen Größe und jetzt vor allem auch Macht einfach einmal per Prosa via Kafka zu beschäftigen. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können oder wollen, aber es ist ja nicht ein realistisches Verhältnis. Es ist ja kein Urteilsverhältnis, sondern ein reines Gefühlsverhältnis zu diesem Menschen, der da mit dem Jet unter Gott herrast oder mit Sandalen in der Hand durchs Watt geht. Das ist ja noch nicht einmal Satire. Man denkt einfach: Wie könnte man die "Bild"-Zeitung in diesem Kosmos unterbringen? Dann kommt es zu solchen Stimmungen.
Sie haben eben gesagt, es ist ein Gefühlsverhältnis gewesen zu Axel Springer. Warum haben zu diesem Verlag, zu seinen Publikationen, zum Verleger so viele Menschen ein reines Gefühlsverhältnis gehabt, das von Fakten nicht eingetrübt werden konnte?
Martin Walser:
Von diesen vielen Menschen haben natürlich auch sehr viele ein Urteilsverhältnis und kein Gefühlsverhältnis dazu gehabt. Ich weiß nicht, in welchem Jahr das war, als die Gruppe 47 formuliert hat: Enteignet Springer. Das war ja der Versuch, ein Urteilsverhältnis zu einer Institution, zu einer öffentlichen Macht herzustellen. Ich muss sagen: Der Hauptgrund, warum sich unsereiner so zum Springer-Verlag verhalten hat, lag - zumindest soweit es mich betrifft - in der Art, wie der Verlag Heinrich Böll behandelt hat. An einer anderen Stelle in dem Tagebuch heißt es: "Die 'Bild'-Zeitung macht für mich Böll zum Heiligen, zum Märtyrer." So haben wir das wahrgenommen: Böll wurde verfolgt wegen seines Buchs "Die verlorene Ehre der Katharina Blum". Ich könnte auch nicht mehr schildern, wie die Argumente waren. Ich weiß nur noch: Für uns, für mich war das der heilige Böll, der unter Springer leiden musste.
Mathias Döpfner, wie beurteilen Sie den damaligen Umgang des Hauses Springer mit Heinrich Böll?
Mathias Döpfner:
Ich kann nicht beurteilen, wie das Haus Springer mit Heinrich Böll umgegangen ist, weil ich damals nicht dabei war. Ich habe einiges aus den Archiven gelesen. Und ich wiederhole, was mittlerweile fast schon zu einer Floskel erstarrt ist: Ja, es gab große Fehler. Ja, es gab Eskalationen. Ja, Springer hat sich leider von seinen Gegnern in den Schützengraben treiben lassen, und Journalisten des Hauses haben Dinge geschrieben, die man besser nicht geschrieben hätte, ganz sicher auch im Umgang mit Heinrich Böll.
Aber, ehrlich gesagt, was mich jetzt mittlerweile mehr interessiert als die Frage, wie Springer mit Heinrich Böll umging, ist die Frage, wie Heinrich Böll mit Springer umging. Es gibt diesen berühmten Artikel von Heinrich Böll über das freie Geleit für Ulrike Meinhof. Er hat in diesem Artikel erstens einen Untersuchungsausschuss wegen Volksverhetzung gegen Axel Springer gefordert und ihm zweitens am Ende des Artikels gewünscht, dass er an der ihm im Halse steckenden Gräte des Weihnachtskarpfens ersticken möge. Er hat ihm also den Tod gewünscht. Das ist ganz harter Tobak. Der Anlass war ein Artikel in der "Bild"-Zeitung über einen Bankraub der RAF, bei der ein Polizist erschossen worden ist. Und die Überschrift der "Bild"-Zeitung war: "Die RAF mordet weiter". So war es auch. Zu dem Zeitpunkt der Veröffentlichung aber war noch nicht im juristischen Sinne erwiesen, dass es sich tatsächlich um einen Anschlag der RAF handelte. Es war nur mit allergrößter Wahrscheinlichkeit der Fall, und darauf wurde im Text auch hingewiesen: Es handele sich mutmaßlich um einen Anschlag der RAF. Diesen Umstand, dass in der Überschrift diese Differenzierung nicht vorkam, nahm Böll zum Anlass, Axel Springer den Tod zu wünschen.
Es gab damals Eskalationen, die aus heutiger Sicht überhaupt nicht mehr nachvollziehbar sind, vor denen ich staunend stehe und frage: Wie konnte das sein? Was mich interessiert, ist, wie wir uns heute dazu verhalten. Da interessiert mich auch, Herr Walser, wie Sie sich verhalten. Sie sind ja ein virtuoser Großmeister der Ambivalenz. Das ist für einen Schriftsteller, für einen Künstler eine legitime, vielleicht sogar die einzig richtige Haltung: Man macht sich mit nichts gemein, auch nicht mit einer guten Sache. Neben diesen wunderschönen Passagen, die Sie eben vorgelesen haben - eine Sternstunde der poetischen Ironie - gibt es noch eine andere Stelle im Tagebuch, die sich mit Axel Springer befasst. Dort heißt es, man solle doch alle deutschen Zeitungen unter dem Dach Axel Springers vereinigen, alle Zeitungen sollten ihm gehören. Dann wäre sein Expansionsstreben gedämpft, dann gäbe er endlich Ruhe, und dann richteten seine Zeitungen auch keinen Schaden mehr an. Beide Stellen sind von wunderbar spöttischer Ironie und einem subtilen Angriffsgeist getragen, aber so ganz ohne Sympathie sind sie auch nicht. Beide Texte sind ambivalent. Und dann sagen Sie, in dem Film seien Sie einem Axel Springer begegnet, den Sie sich so nie hätten vorstellen können, der mit dem Klischee so gar nichts zu tun hat. Mich würde interessieren: Hat sich Ihre Wahrnehmung Springers im Laufe der Zeit verändert? Oder ist es bei dieser schwebenden Ambivalenz geblieben?
Martin Walser:
Ambivalenz ist ja ein Fremdwort.
Mathias Döpfner:
Dann Zwiespältigkeit. Man könnte auch, negativ, Unentschiedenheit sagen.
Martin Walser:
In meinem Seelenturmgelände musste ich das halt so formulieren. Und ich habe, das muss ich sagen, an der Person nicht weiter teilgenommen. Mir hat hauptsächlich Böll leidgetan. Es hieß: Der Böll kann nicht mehr schreiben, den lähmt das. Wenn über dich das und das jeden Tag groß in der Zeitung steht, dann bist du erledigt, zumindest eine Zeit lang. Böll war für mich die Hauptleidensfigur in dieser Zeit. Und ich habe mich nicht um die politischen Einzelheiten kümmern können.
Sie haben sich sehr früh in sehr mutiger Weise für die deutsche Wiedervereinigung engagiert. Hat Sie dieses Thema damals der Figur Axel Springer nahegebracht?
Martin Walser:
Ja, gut, das habe ich auch jetzt in diesem Film erfahren und höre es jetzt wieder. Da staune ich jedes Mal. Weil, ich wäre glücklich gewesen, wenn ich gemerkt oder gewusst hätte, dass Springer das auch so will. Von Springer kam für mich nur rüber, dass er die DDR in Anführungszeichen schreiben ließ. Ich habe mich mit der deutschen Teilung nicht abfinden können, und dafür wurde ich von meinesgleichen geschmäht. Ich wäre dankbar gewesen, Axel Springer hier als Verbündeten zu haben.
Das wundert mich schon sehr. Wenn es irgendein Alleinstellungsmerkmal, wie man heute sagt, des Axel Springer Verlags gegeben hat, dann war es, dass Axel Springer -spätestens seit seiner gescheiterten Moskaureise 1958 -stets gesagt hat, dass er sich mit der deutschen Teilung nicht abfinden wird. Das konnten Sie doch nicht übersehen!
Martin Walser:
DDR in Anführungszeichen - das habe ich mitgekriegt. Komischerweise hatte ich trotzdem nicht den Eindruck, er will auch die Wiedervereinigung.
Sie schreiben in Ihrem Tagebuch auch: "Natürlich habe ich in den 60er-Jahren eingestimmt in die lauten Parolen: Enteignet Springer". Ich habe das damals auch getan. Aber warum war es natürlich?
Martin Walser:
Ich erlebte den Verlag als eine Macht, und jede Art von Macht machte einen Intellektuellen zum Gegner. Man fühlte sich immer schon vorweg angegriffen. Man wusste, die müssen sich nicht rechtfertigen für das, was sie dir tun. Aber du musst alles rechtfertigen, was du gegen sie tust. Das ist der Unterschied zwischen Macht und Ohnmacht.
Mathias Döpfner:
Das ist das erste Argument, das ich wirklich nachvollziehen kann. Es ist ein freiheitlich-antiautoritärer Grundreflex jedes frei denkenden Menschen, dass er diese natürliche Skepsis hat. Die spiegelt sich ja auch in Ihrem Traum - in der Vorstellung, wie Axel Springer da in seinem Jet über den Wolken, knapp unter Gott so vor sich hin reist. Jedoch: Bei dieser einerseits verständlichen und natürlichen Skepsis der Kleinen gegen die Großen, der da unten gegen die da oben, der Armen gegen die Reichen, der Ohnmächtigen gegen die Mächtigen übersehen Sie, was Ihnen doch auch immer so wichtig ist - den einzelnen Menschen. Wie konnte es sein, dass Ihr Reflex gegen die Institution Axel Springer Ihren neugierigen schriftstellerischen Blick auf den Menschen Axel Springer verschattet hat?
Martin Walser:
Ich habe vielleicht die Person zu wenig wahrgenommen. Ich kann das heute nicht mehr sagen. Ich weiß nur, dass - je länger, je deutlicher - die Machtposition der "Bild"-Zeitung mich bedrängt hat.
Herr Walser, Sie wissen, dass der positive Bezug zum Staat Israel und zu seinem Existenzrecht ein ganz existenzieller Punkt im Selbstverständnis dieses Verlages ist. Was halten Sie davon?
Martin Walser:
Da kann ich nur zustimmen. Das habe ich mitbekommen und habe es immer geachtet. Das ist mir wieder aufgefallen, als ich kürzlich den Film über Axel Springer sah, das hat mich sehr berührt. Wie er da in Israel gezeigt wurde - ich muss sagen, ich kenne keinen, der so glaubhaft diese Haltung verkörpert hat. Hier gibt es nicht so viel Differenz.
In der Auseinandersetzung über das jüngste Gedicht von Günter Grass haben Sie sich weithin zurückgehalten, Herr Walser. Warum?
Martin Walser:
Es ist einfach so: Ich habe vor zehn Jahren schon öffentlich gesagt, dass ich mein Leben im Reizklima des Recht-haben-Müssens verbracht habe und dass ich das endlich nicht mehr will, weil ich es für den intellektuellen Bewusstseinszustand nicht für erträglich halte, mit Meinungen zu paradieren.
Damit liege ich natürlich jenseits von dem, was Sie jetzt von mir gerne hören wollen. Das wäre sozusagen mein Freiheitsbedürfnis, keine Meinung haben zu müssen und auch dazu keine Meinung haben zu müssen. Ich habe an diesem Tag vier Zeilen notiert, Karfreitag 2012. Sie lauten: "Die Welt ist ein großes Geräusch. Danken wir denen, die es machen. Wenn es auf einmal still wär', hätten wir nichts mehr zu lachen." Das ist wirklich meine Haltung. Wir danken euch, weil ihr dieses große Geräusch macht. Das ist euer Beruf. Das sollt ihr haben. Aber, bitte schön, ich will daran nicht teilnehmen.
Mathias Döpfner:
Aber, Herr Walser, jetzt geht mir die Ambivalenz dieses...
Martin Walser:
Das ist keine Ambivalenz. Es ist eindeutig.
Mathias Döpfner:
Nein, nein, das hat aber auch was von sich Drücken. Entschuldigung. Ich finde, das ist schon ein Thema, da muss man sagen, wo man steht. Sie haben in einem Interview mit der "Zeit" gesagt, Sie wollten sich dazu nicht äußern, aber eines stehe für Sie fest, Grass sei kein Antisemit.
Martin Walser:
Ja.
Mathias Döpfner:
Jetzt möchte ich was vorlesen. Eine Ergänzung von Henryk M. Broders aktuellem Buch "Vergesst Auschwitz". Es passt so gut dazu, dass ich - als ich das in der "Zeit" gelesen habe und diesen Text kurze Zeit davor - daran denken musste.
"Der Schauspieler Michael Degen sagt, Grass sei kein Antisemit, aber ein Antiisraeli. Der Historiker Michael Wolffsohn sagt, Grass sei kein Antisemit, er habe allerdings Probleme mit den Juden und Israel. Der ehemalige israelische Botschafter in der Bundesrepublik Shimon Stein sagt, er halte Grass weder für einen Antisemiten noch für einen Feind Israels, klar sei nur, dass er sich mit der Problematik schwertut. Man müsse den Antisemitismus gezielt bekämpfen, aber nicht dort, wo es ihn nicht gibt. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sagt, es gebe keine Belege dafür, dass Grass schon immer ein Antisemit war, allerdings habe Grass in seinem Gedicht 'Was gesagt werden muss', das von der ,SZ' gedruckt wurde, den Antisemitismus ganz klar geboten. Der Talkshow-Master Michael Friedman sagt, Grass sei kein Antisemit, er spiele allerdings mit antisemitischen Klischees. Der israelische Historiker Tom Segev sagt, Grass sei kein Antisemit, nicht antiisraelisch, auf keinen Fall gegen Israel in irgendeiner Weise. Der Erziehungswissenschaftler Michael Brumlik sagt, Grass ist kein Antisemit, er bedient sich aber antisemitischer Deutungsmuster. Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse sagt, es wäre fatal, wenn man Günter Grass wegen dieser einseitigen kritischen Position zum Antisemiten erklären würde. Sigmar Gabriel, der Vorsitzende der SPD sagt, Günter Grass ist kein Antisemit."
Und später weiter: Abgesehen von wenigen, waren sich "alle Grass-Kritiker einig: Grass benutzt antisemitische Klischees. Er greift antisemitische Deutungsmuster auf. Er bedient antisemitische Ressentiments. Er hat ein Problem mit Juden und mit Israel. Er verwechselt Ursache und Wirkung. Er stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Er banalisiert die Drohung des iranischen Präsidenten gegenüber Israel. Er dämonisiert Israel auf die gleiche Art, wie früher die Juden dämonisiert wurden, als Weltbrandstifter. - Aber ein Antisemit ist er nicht. Gott behüte."
Und dann schließt der Autor: "Sehr schön auf den Punkt gebracht hat das ein Kommentar des NDR. Henryk M. Broders Vorwurf, Grass sei der Prototyp des gebildeten Antisemiten, ist schlicht eine Unverschämtheit oder einfach medienwirksam polemisch. Denn nach seiner Definition wäre ich das - mehr oder minder gebildet - auch." Von Dieter Bohlen, einem weithin unterschätzten Denker der Gegenwart, stammt der Satz: "Das Problem ist: Mach einem Bekloppten klar, dass er ein Bekloppter ist. Noch aussichtsloser ist es nur, einem Antisemiten klarzumachen, dass er ein Antisemit ist."
Ich halte Günter Grass nicht nur für einen Antisemiten, sondern für einen schlimmen Antisemiten, denn anders als bei einem Glatzkopf oder Neonazi, den jeder als solchen erkennt, hat der Antisemitismus von Günter Grass etwas Raunendes. Und ich finde diesen raunenden Antisemitismus, den man nicht greifen kann, den man nicht dingfest machen kann, gefährlicher, angsteinflößender als den Neonazi auf der Straße.
Martin Walser:
Und warum sagen Sie das mir?
Mathias Döpfner:
Weil Sie gesagt haben, er ist kein Antisemit.
Martin Walser:
Verstehen Sie, wenn man jemanden 40 Jahre kennt, Tag und Nacht gewissermaßen - beim Tisch, beim Wein, beim Bier, in der Umgebung. Und dann muss man doch in 40 Jahren, wo dauernd auch politisch diskutiert wurde, merken, ob jemand ein Antisemit ist. Alles, was Sie da aufgezählt haben, für mich sind das typische Meinungsextreme aus dem gegebenen Anlass. Gestatten Sie: Dieser Anlass interessiert mich nicht. Dieses Gedicht interessiert mich nicht. Ich kann mich nicht künstlich aufregen über etwas, was mich gar nicht anspricht, gar nicht interessiert. Das gehört gar nicht zu meinem Wahrnehmungsbereich.
Mathias Döpfner:
Günter Grass hat einen Prosatext geschrieben, den er in Zeilen gebrochen hat, in dem er eine bemerkenswerte Verkehrung vorgenommen hat, indem plötzlich Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten, die von vielen anderen Ländern bedroht wird und sich angegriffen fühlen muss, als der große Angreifer gesehen wird von einem mehr oder minder unschuldigen Land wie dem Iran, das von einem Maulhelden als Präsidenten regiert wird.
Martin Walser:
Das hab ich alles schon gehört.
Mathias Döpfner:
Ja, natürlich, aber das ist so eine groteske Verkehrung. Da können Sie nicht sagen, dazu hab ich keine Meinung.
Martin Walser:
Nein, Entschuldigung. Ich verhalte mich jedem Skandal dieser Art gegenüber vollkommen unberührbar. Kollegen wie Jurek Becker, einer meiner Lieblingskollegen früher, hat, als ich in München diese Rede gegen die deutsche Teilung gehalten habe, gesagt: "Wie der Walser da geredet hat, redet man in den Nebenzimmern des Rechtsextremismus", und: "Vielleicht müssen wir alles, was der geschrieben hat, noch mal lesen und überprüfen, ob das lupenrein ist." Verstehen Sie, ein Mann, der mich kannte. Und der war aber von diesem Gerücht und von dieser Bewegung vollkommen gegen mich eingenommen - in einer für mich ganz unverständlichen Art. Ich glaube, ihr Sachwalter der öffentlichen Meinung müsst das so machen. Ich rede euch gar nicht drein. Ich sage nur, ich bin da nicht einmal ein Kunde, nicht einmal ein Abnehmer von diesen Zeilen, die Sie da vorgelesen haben. Das nenne ich einfach Zeitgeistbewegung, Zeitgeistopportunität.
Mathias Döpfner:
Natürlich müssen Sie zu nichts auf der Welt eine Meinung haben, aber so, wie ich Sie als einen feinsinnigen Beobachter der Zeitläufte kennengelernt habe, wundert es mich, dass Sie das, was Grass sich da geleistet hat, nicht unangenehm berührt.
Martin Walser:
Ich frage Sie jetzt: Ist die Grass-Angelegenheit letzten Endes eine Frage des Rechthabens?
Mathias Döpfner:
Nein. Herr Walser, es ist wirklich reine Neugier. Sie wollen dazu nichts sagen, und das ist Ihr gutes Recht. Und wir wollen Sie auch nicht zu irgendwas verführen. Ich finde es trotzdem interessant. Und am meisten interessiert mich jetzt, warum Sie nichts sagen wollen. Haben Sie das Gefühl, das Thema ist so vermint, dass man sich nur die Finger verbrennen kann? Ist es das? Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Sie nach ihrer Paulskirchen-Rede über den Holocaust als Moralkeule und nach ihrem Buch "Tod eines Kritikers" dazu nicht irgendwas fühlen oder denken.
Martin Walser:
Ich frage noch einmal: Warum ist es nicht eine Frage des Rechthabens? Ist es das oder nicht?
Mathias Döpfner:
Nein.
Martin Walser:
Es ist dann was?
Mathias Döpfner:
Ich habe gesagt, was mich motiviert. Ich glaube, es ist eine Frage, in der es um alles geht. Es geht um den Umgang mit unserer Vergangenheit. Denn das Existenzrecht Israels kann nie ohne Bezug auf den Holocaust diskutiert werden. Um das "Nie wieder" eines zweiten Versuchs der "Endlösung der Judenfrage" zu vermeiden, ist der Staat Israel entstanden. Es geht aber nicht nur um unsere Vergangenheit, es geht vor allem um unsere Zukunft. Wenn Israel angegriffen wird, wird unser freiheitlicher, demokratischer, westlicher Lebensstil abgegriffen. Die Fundamentalisten des islamistischen Terrors sind auch die Feinde unserer Gesellschaftsordnung. Israel ist nur das erste, weil schwächste Opfer. Es geht also um alles. Und deswegen finde ich es einfach schwierig, nachzuvollziehen, dass jemand aus tiefer innerer Überzeugung dazu keine Meinung hat. Aber Herr Walser, ich will nicht mehr insistieren. Sie wollen es nicht. Das müssen wir respektieren.
Martin Walser:
"Sie wollen nicht." Es ist doch nicht so, dass ich nicht will, sondern ich sage wirklich: Ich kann nicht. Mit allem, was Sie gesagt haben über die Wichtigkeit dieser Frage für uns, bin ich völlig einverstanden. Und trotzdem kann ich bei diesem speziellen Skandal aus meinem ganzen, mich prägenden Erfahrungshaushalt nichts anderes sagen als: Nach allem, was ich mit dem Grass erfahren habe, habe ich ihn nie - weder bei Tag, noch bei Nacht - als Antisemit erlebt. Sie können jetzt noch sagen: "Ja, aber ein Antisemit ist so und so ..." Das geht mich nichts an. Ich weiß von meinem Gefühl, dass er kein Antisemit ist.
Schließen wir diesen Punkt ab. Ich will noch auf einen anderen Punkt kommen. Von Martin Walser ist in diesem Frühjahr ein Buch, "Über Rechtfertigung, eine Versuchung", erschienen. Dort heißt es: "Ich schlage vor, um die Kultur des Rechthabens wenigstens ein bisschen fortzubilden, dass wir entwickeln sollten eine Kultur der Selbstwiderlegung. Öffentlich. Im Parlament. In der Zeitung. Es sollte üblich sein, dass jemand, der etwas behauptet, das, was er behauptet, auch widerlegt. Alles, was ihm einfällt gegen das, was er behauptet, soll er genauso gründlich dartun, wie die Behauptung. Wenn er uns dann überzeugt von seinem Selbstwiderlegungsernst und es bleibt trotzdem noch etwas übrig von dem, was er behauptet hat, dann hat er uns für seine Behauptung eingenommen. Mir scheint, eine Selbstwiderlegungspraxis sei fast eine Chance, in einer auf Rechthaben gegründeten Gesellschaft eine Bewegung in Richtung Rechtfertigung zu ermöglichen."
Mathias Döpfner:
Diesen Text finde ich nicht nur ganz großartig, sondern - und ich bin froh, dass unser Gespräch jetzt hier doch eine harmonische Wende nimmt - es ist sogar so, dass ich genau auf der Basis dieser Forderung jede wichtige Entscheidung bei uns im Vorstand treffe. Es ist genau dieses dialektische Prinzip. Wir wollen dieses Unternehmen kaufen oder wir wollen das und das gründen oder wir wollen dies und jenes so machen. Und dann reden und prüfen wir, tagelang, wochenlang. Schließlich kommen wir zu einer klaren Meinung, aber bevor wir es entscheiden, sprechen wir nur darüber, dass das alles falsch und genau das Gegenteil richtig sein könnte. Nur durch diese Selbstwiderlegung kann überhaupt eine richtige Entscheidung entstehen. Wer den Mut zu dieser Selbstinfragestellung nicht hat, der muss sich seiner Sache besonders unsicher sein. Ich glaube die Selbstwiderlegung ist überhaupt für jeden Diskurs wichtig. Theodor Fontane hat gesagt: "Unanfechtbare Wahrheiten gibt es nicht. Und wenn es welche gibt, dann sind sie langweilig." Also, mit Langeweile wollen wir uns nicht beschäftigen, lieber mit anfechtbaren Sachen, die wir infrage stellen. Ich bin vollständig bei Ihnen, Herr Walser.
Martin Walser:
Aber warum nur in wirtschaftlichen Entscheidungen?
Mathias Döpfner:
Nein, überall, im Leben auch.
Martin Walser:
Aber bei Kommentaren nicht? Da nennen Sie das Mäandern.
Mathias Döpfner:
Ja, weil das nicht die Funktion des Kommentars ist.
Martin Walser:
Das Wesen des Kommentars ist nicht, recht zu haben.
Mathias Döpfner:
Der Kommentar kann gerne den Vorgängerkommentar widerlegen. Also, wenn man vorgestern das geschrieben hat, dann schreibt man heute einen Kommentar, der den Kommentar von vorgestern widerlegt.
Martin Walser:
Genau, innerhalb von ein paar Tagen.
Mathias Döpfner:
Man kann auch unrecht haben. Aber in einem Kommentar zu schreiben, einerseits ..., andererseits ..., vielleicht ist es so, vielleicht auch so, ich weiß es auch nicht genau, und im Übrigen ... nur nicht übertreiben. Also, das muss ich nicht lesen.
Martin Walser:
Entschuldigung, wie Sie mich da wiedergeben, da bin ich nicht einverstanden - einerseits, andererseits und ich weiß es auch nicht genau. Bei mir heißt der Satz: "Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr." Und ich habe damit eine längere Erfahrung, kann ich Ihnen sagen.
Mathias Döpfner:
Herr Walser, Ihre Grundbeobachtung halte ich nicht nur für zutreffend, sondern ich halte sie für unendlich wichtig. Ich möchte deshalb ein Missverständnis vermeiden. Das, was ich über einen guten Kommentar sage, dass er entschieden sein soll, dass er Position beziehen soll, dass er mutig sein soll, dass er gerne auch sogar polemisch übertreiben darf - das ist Ihnen ja auch nicht fremd, das tun Sie auch manchmal ganz gerne -, das gilt nicht für eine Zeitung insgesamt. Eine Zeitung muss sich selbst widerlegen. Das ist was ganz anderes. Wenn eine Zeitung nicht den Mut hat zur Selbstwiderlegung oder auch neudeutsch zum Binnenpluralismus, dann wird es nicht funktionieren. Wenn ein Blatt acht Wochen lang für den Beitritt der Türkei in die EU votiert, dann muss ich irgendwann auf dieser Strecke ein paar Mal eine klug geschriebene Selbstwiderlegung lesen. Denn wenn das die bisher vertretene Linie nicht aushält, dieses Maß an Selbstwiderlegung, dann taugt diese Haltung auch nix. Das heißt: Innerhalb einer Zeitung muss es unbedingt diesen Mechanismus der Selbstwiderlegung geben, aber bitte nicht innerhalb eines Kommentars.
Das Gespräch wurde am 30. April 2012 veröffentlicht.