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Dracula

USA 1931 s/w 75 min

R: Tod Browning

B: Garrett Fort, Dudley Murphy, nach einem Bühnenstück von Hamilton Deane und John Balderstone und dem Roman von Bram Stoker

K: Karl Freund

M: Peter Tschaikowsky, Richard Wagner

D: Bela Lugosi (Graf Dracula), Helen Chandler (Mina Seward), David Manners (Jonathan Harker), Edward van Sloane (Prof. van Helsing), Dwight Frye (Renfield),

»Die ältesten Vampyre, wovon wir Nachricht haben, waren bei den Griechen zu Hause«, schrieb 1791 im Taschenbuch für Aufklärer und Nichtaufklärer Carl von Knoblauch zu Hatzbach. Die neueste Kunde vom Treiben der Wiedergänger, die Bram Stokers 1895 entstandener Roman Dracula berühmt und gesellschaftsfähig machte, stammt bis heute aus dem Kino. Mehr als vierhundert Filme haben bislang die Sage aufgegriffen, der zufolge sich in einen Vampir verwandelt, wer zu Lebzeiten als Ehebrecher, Sodomit, Blutschänder und Tyrann gegen Gottes Gesetze verstieß. Nach F. W. Murnaus Stummfilmvariante Nosferatu (1922) legte vor allem Tod Brownings Dracula den Grundstein dafür, dass der Vampirfilm bis hin zu aktuellen Produktionen wie Blade (1998, Stephen Norrington), The Wisdom of Crocodiles (Die Weisheit der Krokodile, 1998; Po-Chih Leong) und Van Helsing (2004, Stephen Sommers) zu einem der vitalsten und facettenreichsten Subgenres des Horrorfilms wurde.

Was aber macht die Ausgeburt der Finsternis so unwiderstehlich fürs Kino, dass sich schon Georges Méliès ein Jahr nach Erfindung der Siebten Kunst 1896 an einer Vampirgeschichte versuchte? Wenn man will, ein Paradox, das dem Dasein der zu ewiger Wiederholung verdammten Kreatur zugrunde liegt wie den Gesetzen des Kinos. Im Kino, das den Körper zur Erscheinung zwingt, ist der unstoffliche Wiedergänger die Idealbesetzung eines medienimmanenten Horrors: Als »Rückkehr der Geister« hat Jacques Derrida die Kunst des 20. Jahrhunderts beschrieben, die den Körper zum Leinwand-Gespenst dekonstruiert und die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verwischt. Das Dunkel, in dem alle Geschöpfe des Kinos erst zu sich und zu uns kommen, ist das Element des Vampirs, das Licht seine Nemesis. So konnte das Kino seine Verwandtschaft mit dem Unheimlichen pflegen und sich zugleich der selbsterzeugten Schatten in den grellen Lichtblitzen des Expressionismus entledigen. Als erste Stoker-Verfilmung fiel Nosferatu 1922 nicht umsonst in die Hoch-Zeit des expressionistischen Stummfilms.

Inspiriert von literarischen Vampir-Geschichten wie John William Polidoris Der Vampyr (1819) oder der klassischen ›Gothic Novel‹ Melmoth der Wanderer (1820) von Charles Robert Maturin fand und überhöhte der Ire Stoker Ende des 19. Jahrhunderts die Figur, die zum Inbegriff des Vampirismus werden sollte. Dracula nimmt nicht nur die in ganz Europa, vor allem aber in Serbien weit verbreitete Überlieferung von blutsaugenden Untoten auf, sondern vermischt damit das historisch verbürgte Leben des in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der rumänischen Walachei herrschenden Fürsten Vlad Ţepeş (gesprochen ›Zepesch‹). Dessen Vater Vlad war seit 1431 Ritter des christlichen Drachenordens, dem Kaiser Sigismund vorstand; sein Beiname »Dracul« geht auf das rumänische Wort für den Drachen zurück, das aber auch ›Teufel‹ bedeutet. Als »Dracula« ging die zusätzliche Bezeichnung auch auf seinen Sohn Vlad junior über. Dieser verdiente sich seinen Beinamen Ţepeş« (›der Pfähler‹) als grausamer Kriegsherr im Winter 1461, im Kampf gegen den Eroberer von Konstantinopel Sultan Mehmed II. Die Verstümmelung von Sexualorganen, die puritanische Abstrafung junger Frauen, die vorehelichen Geschlechtsverkehr hatten, fügen sich ebenso ins Bild eines impotenten Sadisten, der den Körper als prinzipiell strafwürdig und den Menschen als Folterbank wahrnimmt, wie seine Vorliebe, die Mahlzeiten zwischen den von ihm Gefolterten einzunehmen.

Viele der Motivstränge, die Stoker mit den balkanischen Sagen über blutrünstige Untote verband, finden sich im narrativen Fundus des Kinos: beispielsweise ›Boy meets Girl‹, nur dass der Junge hier »ein besonders unreifes Wesen« (Seeßlen) aufweist. Zwei grundlegende Merkmale sind dem Subgenre eigen und kommen in den verschiedenen Verfilmungen und Bearbeitungen in unterschiedlicher Ausprägung und Stärke zum Tragen: Erlösungsbedürftigkeit und der Thrill einer angstbesetzten, einer tabuisierten Sexualität. Das Blut, das ihm gegeben wird, erlöst den Vampir, der verdammt ist, ewig zu nehmen – die Anklänge ans christliche Abendmahl sind nicht zu übersehen. Nicht umsonst steht in einem Buch über Vampire, das in Nosferatu die Runde macht, »es bedürfe einer Frau reinen Herzens, um den Vampir bis zum Morgengrauen festzuhalten«. Und eben dieses Buch ist Murnaus Mina-Figur Ellen verboten wie für Eva die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Natürlich liest sie es dennoch. Ohne Sündenfall keine Erlösung, Blut und Leib gibt sie fort. Bei Browning erfüllt dieses Selbstopfer »in seiner doppeldeutigen Zuwendung zum Tiermann zugleich die dem Vampirmythos eingeschriebene Formel von der todbringenden, dem Tode ähnelnden Sexualität« (Seeßlen). Der Horror manifestiert sich in der Erkenntnis, dass man auf Lust oder Leben verzichten muss, wo der Vampir als Verkörperung uneingestandener Begierden umgeht.

Minas Opfer steht in der Tradition des »Anti-Vampirs Christus« (Seeßlen). In seinem Gothic-Western Vampires (John Carpenters Vampire, 1998) erzählt John Carpenter, berüchtigt dafür, seine Gangster- und Horrorfilme wie Western aussehen zu lassen, aber noch nie einen Western gedreht zu haben, den Ex-Priester und Vampir Valek als stark sexuell konnotierte Christusfigur unter umgekehrten Vorzeichen: Begleitet von zwölf Vampir-Aposteln, verspricht diese charismatische Gestalt, der selbst Kardinäle erliegen, ihren Anhängern im Namen des Kreuzes Unsterblichkeit und das Anbrechen eines neuen Reiches. Der Film ist eine Bagatellisierung aller Genres, aber aufschlussreich in seiner antifreudianischen Fremden-, Lust- und Frauenfeindlichkeit und zelebriert im Breitwandformat Jagdszenen aus John-Wayne-Country in einer von Vampiren buchstäblich unterminierten Wüste. Die Vampire ersetzen dabei die Indianer. Carpenters Film ist der peinliche Versuch, einem von europäischen Spitzfindigkeiten ausgelaugten Kino den Mann als Helden zurückzugeben. Unter der homophoben Kraftmeierei des obersten Vampirjägers Crow kommt jedoch die Angst vor der tabuisierten Sexualität ans Licht: Vampires krankt an der unfreiwilligen Komik eines unterdrückten Coming-out.

Im Horrorgenre ist der Vampir der mit Abstand am stärksten sexuell konnotierte Protagonist, wie es ja auch bei Carpenter der Fall ist. Seine Angriffe sind ins Negative, ins Zerstörerische gewendete Zärtlichkeiten – Bisse wie Küsse. Sein Image als gefürchteter Liebhaber wurde den Zeiten und Gesellschaften angepasst, in denen es wiederbelebt wurde. Unter der Herrschaft viktorianischer Prüderie hatte der Blutsauger aus Leidenschaft beispielsweise den Ruf eines verbrecherischen Don Juans, ebenso elegant wie stilbildend verkörpert von Bela Lugosi in Dracula. Ein Unhold, ein Europäer eben. Aber auch ein Gentleman. Bei aller Lust und Gier verschmäht der Vampir die Geschlechtsteile der Frau – von denen die Sexualwissenschaftlerin Marielouise Janssen-Jureit in ihrem Buch Sexismus notiert, sie seien in der Menschheitsgeschichte so gefährlich besetzt wie ein offenes Grab – und schafft sich am Hals den Durchbruch zu verbotenen Gefühlen. Das weibliche Geschlecht, das Männerphantasien zur Wunde verunglimpft haben, ist selbst dem Vampir unheimlich. Im Vampirismus ist nicht das Geschlecht die Wunde, sondern die Wunde das Geschlecht. Um ein Publikum zu erreichen, das mit viktorianischen Tabuisierungen nichts zu tun haben wollte, entstaubte die englische Hammer Production, die sich seit Ende der fünfziger Jahre um die Verjüngung des Vampirfilms bemühte, den Nimbus des Gentleman-Monsters und präsentierte mit Christopher Lee eine deutlich stärker triebgeleitete Variante des tödlichen Liebhabers. Nach Terence Fishers Dracula (1958), der für sich genommen nichts Besonderes darstellte, aber als Auftakt der Hammer-Serie berühmt wurde, arbeitete sich Hammer Production bis in die siebziger Jahre daran ab, den blutsaugenden Grafen jeglicher Subtilität zu entkleiden. Der Mythos tritt in den Hintergrund und wird bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Sex & Crime, Blut und Gewalt füllen die Leinwand mit den Vorboten eines Horrors, der keinen Mut hat, Pornographie zu sein, und es darum bei feuchtfröhlichen Anspielungen der schlichteren Art belässt. Dracula jagt Minimädchen (Dracula A.D., 1972) lautet der deutsche Filmtitel, der diese dröge Mischung aus Verklemmtheit und im Gefolge der ›sexuellen Revolution‹ verordnetem Selbstenthüllungszwang auf den Punkt bringt. Der letzte Film aus der Produktionsreihe Dracula braucht frisches Blut (The Satanic Rites of Dracula, 1973) benannte unfreiwillig das Problem der Serie und verlagerte Draculas persönliche Obsession auf die Ebene der globalen Weltvernichtung. Korrupte Politiker und die Pest, die Dracula verbreitet, drohen der Welt den ultimativen Aderlass zu bereiten. Als Opfer blieb das Vampir-Genre geschändet und geplündert zurück. Wie der Western, der den Italo-Western hervorbrachte, verfiel das Genre in eine Phase der Dekadenz. Die Persiflage hatte es bereits 1967 mit Polanskis unschlagbar komischem Film Dance of the Vampires (Tanz der Vampire) unterwandert. Edouard Molinaris Dracula Père et Fils (Die Herren Dracula, 1976) knüpfte an die Figur des zum lachhaften Stehaufmännchen und Quartalssäufer verkommenen Untoten an. Der Sohn des erneut von Cristopher Lee gespielten Vampirs weigert sich, die Tradition fortzusetzen, arbeitet lieber als Nachtwächter und ernährt sich von Schweineblut. Die Komik des zeitgemäßen Generationskonflikts, hier gedämpft durch eine Liebesgeschichte, die den Sohn des Vampirs in einen Menschen zurückverwandelt, wird in späteren Filmen wie Blade für drastische Kriegsszenen zwischen den Vampiren des Ursprungs und ihren Sonnenbrillen tragenden, mit hohem Lichtschutzfaktor eingecremten Nachkömmlingen sorgen.

Stets ruft die Freigeisterei des Vampirs, die den spirituellen wie den menschlichen Zeugungsakt pervertiert, reaktionäre Kräfte auf den Plan. Das bürgerlich-christliche Imperium schlägt zurück, denn das Uralte – schließlich ist Dracula ein adeliger Ruinenbesitzer – will nicht sterben und bedroht die (erotischen) Besitzverhältnisse der Moderne. Die Waffen der selbsternannten Erlöser sind Phallus-Attribute der zurückschlagenden ›guten‹ Macht, der Macht der Männer über die gebissene Frau. Nicht umsonst müssen Vampire gepfählt werden, und zwar von Männern, die mit dem Vampir den Konkurrenten wie zugleich die homosexuelle Versuchung erschlagen. Der verquälte Sexus sollte vom Kino der Aids-Ära wieder ausgegraben werden. In vielen neueren Vampirfilmen finden sich Anklänge an die Verbreitung von Aids. Coppola lässt in Bram Stoker’s Dracula (1992) während der zersetzenden Liebesräusche des Vampirs mikroskopische Blutblasen aufsteigen, in denen eine höchst ungesunde Zellteilung stattfindet. Den Vampir verklärt er zum unerlöst Liebenden, der nicht das Eine, sondern dem ›Safer Sex‹ gemäß die Eine sucht. Robert Rodriguez und sein Drehbuchautor Quentin Tarantino bestrafen in From Dusk till Dawn (1996) die Geilheit, die Trucker in die Falle des Bums- und Amüsierlokals »Titty Twister« lockt, mit tödlichen Bissen. Blade trieb die Racheorgien des halb menschlichen, halb draculesken Vampirjägers und ›Daywalkers‹ Blade in einer Begegnung mit seiner verstorbenen, aber als Konsumentin fremder Säfte ansehnlich konservierten Mutter auf die Spitze. Der zwittrige Exterminator muss vor dem Sieg über die dunklen Mächte erst einmal seine ödipalen Begierden bekämpfen.

Zu den Grundregeln des Vampirismus gehört eine dem Unbewussten angelastete Übereinkunft zwischen Blutsauger und Opfer. In der Einverleibung durch den Vampir durfte die Dame von Stand gewiss sein, die quälende Unschuld loszuwerden, ohne schuldig gesprochen zu werden. Bei Stoker ist es die wohlhabende Lucy Westenra, Minas wissensdurstige Freundin, an der sich das exemplarisch nachvollziehen lässt. Nicht alle Dracula-Verfilmungen widmen sich ihr. Spielt sie bei Murnau keine Rolle, so ist sie bei Coppola der bloße Körper, an dem sich der Vampir abrackert, um bis zur Vereinigung mit der begehrten Reinkarnation seiner Braut Elisabeth in Form zu bleiben. Tod Browning hat der psychohygienischen Bedeutung dieser Lucy nachgespürt, die als laszives Alter Ego der asexuellen Mina die heimliche Hauptrolle spielt. Der allseits umschwärmten höheren Tochter gesteht er angesichts der Qual der Wahl eine geradezu komische Verzweiflung zu. Wen soll sie nehmen? Den Arzt, den Banker, den amerikanischen Selfmademan, den Dichterling? Alle, ist die Antwort in Lucys blitzenden Augen, und diese Unbescheidenheit macht sie reif für den Vampir. Der Casanova-Vampir, als der Bela Lugosi aus heutiger Sicht wenig gruselig im Frack daherkommt, hat von allen Männern etwas. Die abgewiesenen Verehrer werden sich für das Ius primae noctis rächen, das der Graf als adeliger Schmarotzer wahrgenommen hat. Aus der schmollenden Schnute der untoten Lucy rinnt Blut. Es erinnert ihren Verlobten an die Defloration, die nach der von dem todbringenden Rivalen verpatzten Hochzeitsnacht nachgeholt werden muss. Der Pflock, mit dem der enttäuschte Lover Lucys Herz durchbohrt, sitzt nur aus Anstandsgründen nicht tiefer. Die Strafe folgt der Lust, das ist gewiss. Der Horror versteht sich als Lustangst, als Phantasie der eigenen Enthemmung.

Die sexuelle Erweckung durch den Vampir ist aber nicht als Freiheit zu verstehen. Die Frau, die auf das Versprechen hereinfällt, die dunklen Seiten ihrer Sexualität austoben zu können, ist letztlich eher mehr Zwängen ausgesetzt: Der unstillbare Hunger, der den Vampir zum Blut-Junkie macht, der seine Sucht Nacht für Nacht stillen muss, zwingt Dracula und seine Bräute in einen pubertären Teufelskreislauf, der Reifeprozesse und Ruhephasen nicht zulässt. Die Vampiria ist eine Gefangene, die für ihren alterslos verführerischen Körper den höchsten Preis bezahlt: Es gibt keine Weiterentwicklung, nur den Überdruss der Begierde. Die Freisetzung vom Gebärenmüssen ist an den Verlust gebunden, Leben schenken zu können. Die Vampirin ist nicht länger Frau. Ihre Geschlechtsorgane sind fortan phallischer Natur. So paradox das klingen mag: Der weibliche Vampir ist ein Mann, der sich im Gewand verwesender Brüste anderen Männern nähert. Selbst die lesbischen Vampirinnen kommen, so sie von Regisseuren in Szene gesetzt sind, als Männerphantasien nicht besser weg. Und auch Sheridan Le Fanus lesbischer Vampir Carmilla wird eher vom Hass auf das eigene Geschlecht angetrieben als von eingestandener homosexueller Sehnsucht.

Der Hybris des Vampirs, der sich gottgleich wähnt, weil er den Tod bringt und aufhebt, ist die Verdammnis zu ewiger Wiederholung entgegengesetzt. Besonders deutlich wird der Fluch der Stagnation bei der altägyptischen Vampirin Miriam aus The Hunger (Begierde, 1983; Tony Scott) oder wenn sich Kinder, vor allem kleine Mädchen, in Vampire verwandeln. In Interview with the Vampire (Interview mit einem Vampir, 1994; Neil Jordan) wird die fünfjährige Claudia während einer Pestepidemie von dem Gutvampir Louis gefunden. Louis ist kein typischer Beißgenosse, er gehört zu der seltenen Blutgruppe der melancholischen und skrupulösen Vampire. Er erwägt, die kleine Vollwaise vor dem sicheren Tod zu retten, indem er sie zum Vampir macht, lässt aber dann davon ab: Den traurigsten aller Vampire hält eine menschliche Moral in Schach, die seinen Schöpfer und Gefährten Lestat zur Verzweiflung bringt. Also ist es Lestat, der Claudia ihr Menschsein nimmt und sie Louis als ewiges Ersatztöchterchen verehrt, das aber den Erfahrungen seines Scheinlebens nicht Rechnung tragen kann. Auf ewig gefangen im Kinderkörper, wird Claudia zur tolldreisten Mörderin, die es besonders auf junge Frauen abgesehen hat. Das Mädchen, das nicht Frau werden kann und sich an Frauen rächt, gehört zu den schrecklichsten und zugleich psychoanalytisch ergiebigsten Erfindungen der Vampir-Autorin Anne Rice. Denn obschon das vampiristische Kind niemals zur sexuellen Reife gelangt, ist es andererseits das sexualisierte Kind schlechthin: eine Ikone pädophiler Verführung, in Claudias Fall eine durch Blutschande erzeugte Vater-Tochter, die aus dem Kindchen-Schema nicht ausbrechen kann.

Mit dem philosophischsten und filmsprachlich innovativsten Vampir-Melo seit Nosferatu überraschte Po-Chih Leong, Mitbegründer des Neuen Hongkong-Kinos, Ende der neunziger Jahre: The Wisdom of Crocodiles (Die Weisheit der Krokodile, 1998). Der junge Arzt Steven Grlscz ist ein moderner, weder vor Kreuzen noch vor den Gesetzmäßigkeiten des Genres zurückscheuender Vampir. Anne ist die Frau, die sein Parasitentum in Frage stellt. Sie verkörpert für den Gefühlshungrigen die reine Liebe. Soll er diese einmal im Leben erleiden – und daran sterben, dass er die Geliebte schont? »It is the wisdom of crocodiles that shed tears when they would devour«, lautet der Aphorismus des Philosophen Francis Bacon, dem der Filmtitel entlehnt ist: ein Hinweis darauf, dass auch der melancholischste Gefühlstote am Ende seiner und damit der vampiristischen Natur jeder Liebe nachgibt. Der Film knüpft an den Mythos an, allerdings nur, um die Distanz zwischen Ur-Ur-Ur-Großvater Dracula und seinem Nachkommen als einen Weg zu skizzieren, der von der Verfeinerung der blutschänderischen Motive zum Verfall vampiristischer Gewissheiten führt. Mit dem charismatischen Steven hat Po-Chih Leong einen Großstadtvampir geschaffen, der nur noch um Metaphern- und Fangzahnlänge von der existenziellen Krise seiner Opfer entfernt ist. Steven braucht nicht nur das Blut der einsamen und lebensmüden Frauen, sondern vor allem die Essenz ihrer Emotionen. Wenn der dekadente Held einer therapiebedürftigen Endzeit seine naturgemäß häufig wechselnden Freundinnen im Liebesakt ausbluten lässt, wird er von Krämpfen geschüttelt. Aus seinem seelenlosen Inneren würgt er gläserne Nadeln hervor: jeder Kristall die Manifestation der Gefühle, die sein Opfer beherrschten und ohne die er nicht leben kann.

Heike Kühn

Literatur: Rudolf Kurtz: Expressionismus und Film. Berlin 1926. – Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Frankfurt a. M. 1984. (Engl. Orig.-Ausg. Princeton, N. J. 1947). – Lotte H. Eisner: Die dämonische Leinwand. Frankfurt a.M. 1980.

Filmgenres: Horrorfilm

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